[E-rundbrief] Info 1532 - Israelische Kriegsdienstverweigerin im Gefängnis

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
Fr Jul 1 17:17:10 CEST 2016


E-Rundbrief - Info 1532 - Sima Kadmon (Israel): Unser Mädchen  - Tair 
Kaminer, israelische Kriegsdienstverweigerin zum 6. Mal vor Gericht 
und im Militärgefängnis.

Bad Ischl, 1.7.2016

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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Unser Mädchen

von Sima Kadmon, Yedioth Ahronot vom 24. Juni 2016 (Israelische Zeitung)

Am vergangenen Freitag stand Tair Kaminer, 19, vor dem Kommandanten 
der Einberufungsstelle Oberst Aran Shani und wurde zum sechsten Mal 
wegen Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen verurteilt. Das 
Urteil lautete: Weitere 45 Tage Gefängnis. Damit haben sich ihre 
Hafttage auf insgesamt 170 addiert.

Oberst Shani sagte zu Kaminer, sie sei in der Tat tapfer und 
intelligent, sie stünde jedoch wegen der Verweigerung ihrer 
Einberufung vor Gericht, nicht etwa wegen ihrer Ansichten, und das 
würde sie teuer zu stehen kommen. Er betonte auch, falls es ihr nicht 
klar sei, dass das Militär stärker sei als sie.

An dieser Stelle sei betont, dass die Israelische Armee (IDF) mehr als 
der Hälfte der jährlichen Einberufenen die Möglichkeit gibt, die 
Einberufung zu umgehen oder vorzeitig entlassen zu werden. Dafür gibt 
es mannigfache Gründe: Gesundheitsprobleme, Heirat oder 
Schwangerschaft, wirtschaftliche Engpässe daheim, psychologischer 
Stress. Ein weiterer Grund ist der Ausschluss aus religiösen oder 
Gewissensgründen.

Zweifellos weiß der Kommandant der Einberufungsstelle, Oberst Aran 
Shani, was Religion ist; ob er auch weiß, was Gewissen bedeutet, ist 
fraglich.

Diese Zeilen schrieb Tair Kaminer an das 'Gewissens-Komitee', das Ende 
des Monats tagt, um ihren Fall zu besprechen:

"Ich wurde in Israel geboren und bin hier aufgewachsen, ich habe eine 
höhere Schulbildung auf dem Kunstgymnasium genossen, ich war zunächst 
Mitglied und dann Gruppenführerin der Jugendbewegung der Pfadfinder in 
Tel Aviv und vor zehn Monaten beendete ich mein Freiwilliges Soziales 
Jahr  bei den Pfadfindern von Sderot. Seit dem 10. Januar 2016 wurde 
ich wegen meiner Verweigerung, beim Militär zu dienen, wiederholt zu 
Haftstrafen in Militärgefängnissen verurteilt – trotz meines 
Ersuchens, alternativ einen Zivildienst zu leisten.

Seit meiner Kindheit höre ich von vielen Ereignissen, die mit der 
Armee zu tun haben; von ihrer Herrschaft über die palästinensische 
Bevölkerung, ihrer Rolle bei der Verteidigung der Siedlungen und 
darüber, dass vielen Bewohnern in der Region ihre Rechte verweigert 
werden. Zuhause wurde ich zu kritischem Denken erzogen und dazu, Dinge 
nicht einfach zu akzeptieren, ohne nachzufragen. Aber ich wurde nie in 
eine Richtung gedrängt bezüglich einer Entscheidung, den Militärdienst 
zu verweigern oder nicht."

Kaminer beschreibt frühere eindrückliche Erlebnisse wie etwa eine 
Demonstration für Freiheit und Gleichheit in einem palästinensischen 
Dorf, der sie als 9-Jährige beiwohnte. Die Demonstration wurde von der 
IDF mit Rauchgranaten aufgelöst. Oder den Wandel, den sie erfuhr, 
nachdem sie nach einem Jahr freiwilliger Arbeit in Sderot beschloss, 
nicht beim Militär zu dienen. "Die Kids, mit denen ich gearbeitet 
habe" schreibt Kaminer, "wachsen im Herzen des Konfliktes auf und 
leiden von klein auf unter Traumata. Sie sind prägend und erzeugen 
Hass (verständlicherweise); es sind die selben Erfahrungen, die die 
Kinder in Gaza oder den besetzten Gebieten machen. Ich bin nicht in 
der Lage, aktiv am Erhalt dieses Status Quo mitzuwirken. Das würde 
bedeuten, gegen mein Gewissen zu handeln. ... Mir wurde klar, dass ich 
nicht fähig wäre, mit mir selbst zu leben, wenn ich wüsste, dass ich 
geschwiegen hätte angesichts all der Dinge, die sich in meinem Land 
abspielen. Leider bedeutet Sicherheit bei uns nur Sicherheit für 
Juden. Zudem führt die Atmosphäre heutzutage in Israel zum 
Blutvergießen von all jenen, die Nicht-Juden sind ... So lange die 
israelische Regierung mit Hilfe des Militärs weiterhin das 
palästinensische Volk besetzt und unterdrückt und weiterhin das 
Grundrecht dieses Volkes auf Freiheit und Selbstbestimmung verweigert, 
bin ich nicht fähig, in solch einer Armee zu dienen, die in krassem 
Gegensatz zu meinen Überzeugungen steht."

Nachdem der Todesschütze von Hebron, Eluor Azria, von so Vielen 
unterstützt und als "unser Junge" bezeichnet wurde, erlaube ich mir 
jetzt, Tair Kaminer "unser Mädchen" zu nennen.

Ein Mädchen, das sich der Besatzung widersetzt, das die Anerkennung 
ihres Dienstes beim Militär aus Gewissensgründen fordert, anstatt zu 
behaupten, sie sei orthodox, anstatt eine Scheinehe einzugehen oder 
sich dem Militärpsychologen vorzustellen und psychische Belastungen 
vorzutäuschen; anstatt zu versuchen, einen ruhigen Job zu bekommen im 
IDF Warenager, beim IDF Radiosender, im IDF Pressebüro oder beim 
militärischen Rabbinat.

Sie verweigert es, im Rampenlicht zu stehen wie eine außergewöhnliche 
Athletin oder so manche Knesset-Abgeordnete – so wie Säulen der 
Gesellschaft oder Minister oder Parteiführer es bereits taten. 
Hartnäckig besteht sie darauf, aus Gewissensgründen befreit zu werden 
vom Dienst bei einer Armee, die längst vergessen zu haben scheint, was 
Gewissen bedeutet.

Der schießende Soldat aus Hebron hat keinen einzigen Tag im Gefängnis 
verbracht, und es ist zweifelhaft, ob er das je tun wird. Der 
Bataillonsführer, der einen fliehenden Jungen, der zuvor Steine 
geworfen hatte, in den Rücken schoss, wurde niemals angeklagt. Eine 
Verwaltungsprüfung – keine juristische – befreite ihn vor einer 
Bestrafung. Ultraorthodoxe Männer erscheinen nicht einmal vor dem 
Einberufungszentrum, um sich ihre Entlassung abzuholen; sie bevölkern 
die Straßen. Aber Kaminer, unser Mädchen, sitzt im Gefängnis.

Sybil Goldfeiner, Tairs Mutter, erzählte mir diese Woche, dass ihre 
Tochter sich nicht als Pazifistin bezeichne, denn sie sei keine. Die 
meisten Menschen lügen einfach, sagte Goldfeiner, aber Tair wolle 
nicht lügen. "Sie hat ein freiwilliges Jahr absolviert und sie will 
einen nationalen Dienst ableisten. Aber die Armee kämpft gegen meine 
moralische Tochter, die ja einen Beitrag leisten will! Eine wahre 
Feindin Israels."

Kaminer sitzt im Gefängnis Nr. 6 in Haft. Sieben Minuten pro Tag darf 
sie telefonieren. Sie darf eine halbe Stunde Besuch empfangen, einmal 
alle zwei Wochen. Sie schreibt auf Papier ein Gefängnistagebuch und 
gibt es ihrer Mutter. Goldfeiner tippt es ab und postet es als Blog.

Sie könnte so viel tun als Zivildienstleistende, sagt Goldfeiner. Im 
Dizengoff Pfadfinderclub organisierte sie als Jugendleiterin ein 
Sommercamp für 800 Kinder. In Sderot managte sie die gesamte 
Pfadfinder-Jugendgruppe ein ganzes Jahr lang.

Aber das, was ihre Mutter sieht, scheint der IDF zu entgehen. Und der 
Befehlshaber der Einzugsbehörde und seine Offiziere werden so lange 
ihre Macht gegen Kaminer einsetzen, bis sie aufgibt. Allein schon, um 
anderen Verweigerern aus Gewissensgründen klar zu machen, wie der Hase 
läuft. (Omri Barnes, die bereits 37 Tage abgesessen hatte, wurde 
gerade zum dritten Mal verurteilt).

Offensichtlich fürchtet die Armee, dass bei den Vielen, die lügen und 
die Jahr für Jahr entlassen werden, die Zahl der Gewissens-Verweigerer 
sich verdoppeln könnte oder sogar auf sechs steigen könnte – und was 
würde man da tun?! Man ist entschlossen zu beweisen, dass die Armee 
stärker ist als sie – als gäbe es daran irgend einen Zweifel.

Aber es gibt Zweifel. Ganz offensichtlich gibt es da eine junge Frau, 
die stärker ist. Auf jeden Fall klüger.

(ins Deutsche übertragen von Nirit Sommerfeld)


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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
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