[E-rundbrief] Info 112 - RB Nr. 113 - EU-Wahl und -Erweiterung, Kandidat EU-Parlamentswahl

Matthias Reichl mareichl at ping.at
Di Jun 1 20:34:13 CEST 2004


E-Rundbrief - Info 112 - RB Nr.113 - Matthias Reichl: EU-Wahl und 
-Erweiterung, Kandidat EU-Parlamentswahl

Bad Ischl, 1.6.2004

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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EU-Wahl und -Erweiterung

Außer Spesen nichts gewesen?

Leopold Kohrs Kommentar zum EU-Beitritt Österreichs (Anfang der 90er Jahre):

Ich wurde von britischen Studenten gefragt, ob ich gegen oder für den 
EU-Beitritt Großbritanniens sei. Überrascht reagierten sie auf mein "Ja" 
zum Beitritt. Meine Begründung dafür: "Die EU ist wie ein schwankendes 
Boot. Tritt euer Land mit all seinen Problemen bei, könnte es das Boot zum 
Kippen bringen. Nur deshalb bin ich dafür!" Das EU-Boot ist zwar nicht 
gekippt, doch es kam in noch größere Turbulenzen. Österreich mit seinen 
Problemen hätte daher die  Chance ...

Leopold Kohr starb am 26.2.1994. Was würde er als Warner vor dem 
Überschreiten der "kritischen Größe" zur heutigen EU sagen? In seinen 
Büchern hatte er überzeugend die chaotischen Mechanismen überentwickelter 
Strukturen geschildert. Sein Motto war (frei nach Shakespeare): "Klein sein 
oder nicht sein, das ist die Frage!" Damals meinte er zu mir: "Ich bin 
froh, dass ich diese absehbare Katastrophe nicht mehr erleben muss."

EU in schlechter Verfassung

Eine niedrige Wahlbeteiligung - Prognosen zwischen 30 und 40 % - könnte die 
bisher größte EU-Parlamentswahl (mit etwa 400 Millionen Wahlberechtigten) 
in ein demokratiepolitisches Desaster führen. Die stark zunehmende Kritik 
bzw. Ablehnung gegenüber den politischen Entscheidungsgremien der 
Europäischen Union und ihrer Repräsentanten (besonders auch in Österreich) 
ist nur einer der Gründe.

Übrigens täuschen die Begriffe "Europäisches Parlament", seine "europäische 
Politik" usw. etwas vor, das (noch) nicht existiert - die Mitgliedschaft 
aller Länder Europas (vom Atlantik bis zum Ural)! Darin zeigt sich eine 
kolonialistische Rhetorik ähnlich jener der USA, die ganz Amerika 
vereinnahmen - möchte.

Trotz mancher Kritik im Detail stehen die einflußreichen Fraktionen 
(Konservative, Sozialdemokraten, Liberale und Grüne) hinter dem 
Verfassungsentwurf der EU. Dabei wird verdrängt, dass später zu 
nachträglichen Änderungen alle Mitgliedsregierungen zustimmen müssen - was 
unwahrscheinlich ist. Mit welcher naiven EUphorie diese Debatte abläuft, 
erlebte ich letzten November bei einer Tagung der Europäischen Grünen in 
Paris, als deren Fraktionsobmann Daniel Cohn-Bendit für einen Beschluß ohne 
irgendwelche Änderungen plädierte. Entsprechend absurd sind sein 
Wahlkampfstil als "Robin Hood" wie auch die österreichischen Plakate mit 
den karikierten Köpfen von Schüssel, Haider und Grasser. Die 
europapolitischen Inhalte, um die es uns allen geht, kommen dabei zu kurz.

Wen unter den Entscheidungsträgern kümmert es, dass der EU-Vertrag die 
neoliberale Ideologie über die sozialen Anliegen dominiert? Dass die 
Sicherheits- und Verteidigungsdoktrin unter dem Kommando von Militärs und 
zivilen Sicherheitstechnokraten steht (siehe Seite 14). Dass die Atomlobby 
nach wie vor den angeschlossenen EURATOM-Vertrag für ihre Expansion nützen 
kann (siehe folgende Seiten). Dass transnationale Konzerne ihre 
umweltgefährdenden Produkte - trotz EU-Parlaments-"Nein" - produzieren und 
auf den Markt bringen können (siehe Seite 15). Selbst wenn alle unsere 
Forderungen im Vertrag festgeschrieben würden, bliebe immer noch die 
Realität, dass in der schlechten Verfassung, in der sich die EU befindet, 
gut gemeinte Formulierungen meist nur leere Phrasen bleiben.

Wolfgang Ullmann, der ehemalige EU-Abgeordnete der GRÜNEN in Berlin, ein 
überzeugter EU-Politiker, mußte der Analyse unserer Wiener EU-Expertin 
Recht geben: der Ost-West-Konflikt um Finanzen wird andere Politikbereiche 
verdrängen. Die fehlenden oder verkürzten Diskussionen und Entscheidungen 
werden dann von den Lobbyisten und ihren EU-Partnern dominiert.

Umso wichtiger ist es, dass kritische Abgeordnete - und v.a. deren 
Mitarbeiter - rechtzeitig die außerparlamentarischen Aktivisten und deren 
Bewegungen informieren und von innen her deren gewaltfreien Widerstand 
unterstützen.

Werden sie im neuen EU-Parlament (mit 725 Abgeordneten), in dem neoliberal 
und nationalistisch orientierte Regierungsvertreter aus den neuen Ländern 
die Mehrheit der Konservativen verstärken, noch mehr in die Minderheit 
geraten. Wir mussten nach 1989 mit Entsetzen beobachten, wie in das 
politische Vakuum der ehemals kommunistisch regierten Länder, neoliberale 
und auch extrem rechte "Missionare" geschickt ihre Propaganda verbreiteten 
und Stützpunkte aufbauten. Andreas Mölzer, einer ihrer Chefideologen und 
Organisator der "Europäischen Rechten", hat auf der FPÖ-Liste einen 
vorderen Platz. Naivität, mangelnde Organisation und zu knappe Ressourcen 
hinderten grüne und linksorientierte Initiativen, jahrelang die 
Bürgerbewegungen des "Ostens" effizient zu unterstützen.

Opposition für ein solidarisches Europa

Vor einem Monat hatte mich Leo Gabriel, unser alter Freund und 
Unterstützer, um eine Solidaritätskandidatur gebeten. Die neu gegründete 
"Linke - Opposition für ein solidarisches Europa" will Parteiunabhängige 
und undogmatische Linke (auch Kommunisten) zu einer Plattform versammeln, 
die weit über die EU-Wahl hinausreichen soll. Mein Platz 9 bewahrt mich vor 
der Pflicht im scheußlichen Glaskäfig des Brüssler EU-Parlamentes zu 
funktionieren. Dem Leo Gabriel auf Platz 1 könnte dieses Schicksal ereilen. 
Trotz dieser grundsätzlichen Kritik hoffen wir auf möglichst viele 
(Protest-)Stimmen - und auch auf die Zusammenarbeit mit kritischen Leuten 
aus anderen Ländern. Mehr darüber findet ihr auf der homepage: http://linke.cc

Mein "Motivationstext":

Matthias Reichl

Friedensarbeiter (im Unruhestand)

Bad Ischl

Einer meiner Arbeitsschwerpunkte - als unabhängiger Basisaktivist und 
Kandidat der "LINKE Opposition für ein solidarisches Europa" - ist die 
Verteidigung unserer Lebensgrundlagen. Sie richtet sich gegen ihre 
globalisierte, irreversible Zerstörung durch - zivile und militärische - 
Atomtechnologien, Gentechnik, Ressourcen-Ausbeutung... Für die 
Ernährungssicherung und -souveränität (gegen Patente und Monopole auf 
Organismen...) und für eine vielfältige, gewaltfreie Lebenskultur.

Weitere Informationen über mein ehrenamtliches Engagement im 
"Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit" in Bad Ischl findet ihr auf 
der homepage "www.begegnungszentrum.at". Informationen zur Globalisierung, 
WTO u. ähnl. versende ich per e-mail-Verteiler.

Unabhängig von einem Mandat im EU-Parlament geht es uns politisch aktiven 
Parteiunabhängigen auf der Plattform vorrangig darum, dass Informationen 
über bedenkliche und gefährliche Entwicklungen in der EU rechtzeitig 
bekannt werden. Damit können die vielen Basisbewegungen und -initiativen 
auch mit außerparlamentarischen Mitteln (Protestaktionen, Druck auf 
EU-ParlamentarierInnen und andere PolitikerInnen usw.) Einfluß auf die 
EU-Politik nehmen. Dass sich diese Politik bei Atomkraftwerken, Gentechnik, 
Transit, der Aufrüstung einer EU-Armee und in weiteren Bereichen für ganz 
Europa bedrohlich entwickelt, ist allgemein bekannt. Umso notwendiger sind 
konstruktiver, gewaltfreier Widerstand und praktizierte Alternativen.

Aus mehr als 35 Jahren Erfahrung mit entwicklungspolitischen, Friedens-, 
Sozial-, Umwelt-, Bildungs- und ähnlichen Initiativen und Bewegungen halte 
ich offene, dezentrale und auch weltweite Netzwerke der Solidarität und 
Zusammenarbeit für zukunftsweisend. Die Sozialforen sind ein gutes Beispiel 
dafür. Dabei müssen wir v.a. aus den Erfahrungen von Befreiungsbewegungen 
des "Südens" und ihrer PartnerInnen im "Norden" lernen, um unser Überleben 
zu organisieren. Die sich abzeichnenden Konflikte und Zerfallprozesse 
(nicht nur) in der EU sind deutliche Warnsignale, dass uns nicht mehr viel 
Zeit dazu bleibt.

Parteien und andere Institutionen müssen wir hinterfragen, ob sie für ihre 
engagierten MitgliederInnen die nötige organisatorische Unterstützung geben 
oder sie im Gegenteil durch (ideologische und persönliche) Machtkämpfe, 
Anpassungsdruck, Ausgrenzung u. ähnl. behindern und vertreiben. Meine 
Erfahrungen damit bestärken mich in meinem Engagement in offenen 
Basisbewegungen (obwohl auch sich auch in diesen versteckt oder offen 
ähnliche Prozesse einschleichen).

Umso wichtiger ist es daher, dass wir uns nicht in Kämpfen verbeissen 
sondern im Engagement eine vielfältige politische Kultur entwickeln und 
praktizieren.

Matthias Reichl

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Matthias Reichl
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
Wolfgangerstr.26
A-4820 Bad Ischl
Tel. +43-6132-24590
e-mail: mareichl at ping.at
http://www.begegnungszentrum.at







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