[E-rundbrief] Info 2212 - Doomsday? Atomkriegsgefahr? 2023?!
Matthias Reichl
info at begegnungszentrum.at
So Feb 5 19:05:01 CET 2023
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*Doomsday? Atomkriegsgefahr? - Wie langweilig! Warum die
Weltuntergangsuhr (fast) keinen interessiert.*
*Von Leo Ensel*
*Am 24. Januar (2023) wurde die bekannte "Weltuntergangsuhr" um 10
Sekunden nach vorne gerückt. Demnach sind es nun 90 Sekunden, also genau
anderthalb Minuten vor zwölf! Für mindestens 99 Prozent der Zeitgenossen
kein Grund zur Beunruhigung.*
Das amerikanische Wissenschaftsmagazin "Bulletin of the Atomic
Scientists" hat am 24. Januar (2023) - wie es der Zufall wollte, genau
elf Monate seit Beginn der russischen "Spezialoperation" gegen die
Ukraine und am selben Tag, an dem abends die Zustimmung des deutschen
Kanzlers zur Lieferung von "Leopard 2"-Kampfpanzern an die Ukraine
duchsickerte - die Zeiger der symbolischen ‚Weltuntergangsuhr’, die die
Gefährdung der Menschheit, ja: des Planeten signalisiert, von 100
Sekunden auf 90 Sekunden vor Mitternacht vorgerückt
<https://thebulletin.org/doomsday-clock/> . Dies ist der dramatischste
Wert seit Einführung der sogenannten ‚Doomsday Clock’ im Jahre 1947
überhaupt. Zur Erinnerung: Selbst im Jahr der Kubakrise, 1962, lag der
Wert bei ‚nur’ sieben Minuten vor zwölf und sogar Mitte der Achtziger
Jahre, als Europa sich bei kürzesten Vorwarnzeiten vollgestopft mit
atomaren Mittel- und Kurzstreckenraketen sah, war die Frist mit drei
Minuten noch doppelt so lang wie jetzt!
Glückliche Zeiten, als es, wie im Jahre 2012, ‚nur’ fünf vor zwölf war!
Idyllische Zeiten, als 1991 nach dem - vor allem der Politik der
damaligen Sowjetadministration um Michail Gorbatschow zu verdankenden -
Ende des ersten Kalten Krieges die Uhr auf ganze siebzehn Minuten vor
zwölf zurückgestellt werden konnte! Der ‚entspannteste’ Wert seit
Einführung der Doomsday Clock überhaupt.
"Die Menschheit lebt in einer noch nie dagewesenen Gefahr!"
Nach Rachel Bronson, Geschäftsführerin des "Bulletin of the Atomic
Scientists", seien die Experten der festen Überzeugung, dass die
Menschheit derzeit in einer "noch nie dagewesenen Gefahr" lebe.
"Russlands kaum verhüllte Drohungen, Atomwaffen einzusetzen, erinnern
die Welt daran, dass eine Eskalation des Konflikts - durch einen Unfall,
durch Absicht oder Fehlkalkulation - ein fürchterliches Risiko
darstellt." Es gebe ein hohes Risiko, dass der Konflikt außer Kontrolle
gerate und es sei nicht auszuschließen, dass Präsident Putin im Falle
einer sich abzeichnenden Niederlage in der Ukraine als "verzweifelten
letzten Versuch" Atomwaffen einsetze, auch wenn diese keinen
militärischen Zweck mehr erfüllen würden. Bei den Kämpfen um die
Atomanlagen von Tschernobyl und Saporischschja werde zudem die
Freisetzung von radioaktivem Material riskiert. Infolge einer
"frenetischen Suche" nach neuen Erdgasquellen seien auch die
Treibhausgas-Emissionen aus der Verbrennung fossiler Rohstoffe im
vergangenen Jahr auf einen neuen Rekordwert geklettert, was die
CO2-Konzentration in der Atmosphäre weiter steigen lasse. - Soweit die
Kernargumentation des Wissenschafts- und Sicherheitsgremiums, die sich -
zumindest, was die Schuldzuweisung für den Ukrainekrieg angeht -
zufälligerweise zu hundert Prozent mit der Position von USA und NATO
deckt. (Nein, nicht zufälligerweise, sondern aufgrund des offiziellen
Anspruchs der USA, das Recht zu haben, die ganze Welt zu beherrschen.
/Red. Globalbridge/)
Die dramatische Einschätzung der Lage hielt zudem mehrere
Kommissionsmitglieder nicht von atemberaubenden Harakiri-Konsequenzen
ab: Gerade bezogen auf die langfristigen Risiken eines Atomkrieges und
nuklearer Proliferation, so Professor Steve Fetter von der University of
Maryland, seien US-Waffenlieferungen an die Ukraine essenziell, damit
diese einer russischen Invasion widerstehen und die Streitkräfte
zurückdrängen könne. "Daher sollten wir alles, was in unseren
Möglichkeiten steht, tun, um die Ukraine darin zu unterstützen!" Und der
ehemalige Präsident und Premierminister der Mongolei, Elbegdorj Tsakhia,
legte noch einen drauf: Da die Ukraine nichts weniger als das "globale
Streben nach Freiheit" verteidige, müsse der Westen - der Zeitpunkt war
gut gewählt - der Ukraine auch mehr Panzer zur Verfügung stellen.
"Nur Mut"
Man muss die bemerkenswert einseitige Schuldzuweisung der
Wissenschaftler und ihre zum Teil hasardeurmäßigen Empfehlungen, noch
mehr Benzin ins Feuer zu schütten, allerdings nicht teilen, um zu
konstatieren, dass mit dem Ukrainekrieg, von dem gegenwärtig weder ein
Ende noch die höchste Eskalationsstufe abzusehen ist, im Kontext anderer
Krisen ein neues Niveau der Bedrohung für den gesamten Planeten erreicht
ist. Immerhin hat, das spricht sich langsam herum, dieser militärische
Konflikt im Zentrum Europas das Potenzial zu einem Dritten Weltkrieg!
Waren vor drei Jahren, als die Zeiger von zwei Minuten auf 100 Sekunden
vor Mitternacht vorgerückt wurden, die Abwiegler in den Leitmedien noch
Legion - multiple Wahnvorstellungen wurden bemüht, den Autoren die
wissenschaftliche Qualifikation abgesprochen -, so blieb dieses Mal die
Reaktion merkwürdig verhalten. Die meisten Medien berichteten kurz über
das ‚Event’ - das heißt, sie übernahmen den betreffenden Bericht der
Nachrichtenagenturen - und verzichteten auf einen eigenen Kommentar.
(Eine bemerkenswerte Ausnahme bildete die /Süddeutsche Zeitung/, die
unter der trotzigen Überschrift "Nur Mut"
<https://www.sueddeutsche.de/meinung/doomsday-clock-atombombe-ukraine-russland-resilienz-1.5739043?reduced=true>
mehr ‚Resilienz’ einforderte - ganz so, als handele es sich hier um die
neueste Mutation eines Grippevirus.)
Wie aber sieht die Reaktion von uns Bürgern, den prospektiven Opfern
dieser rasanten Fahrt in den Abgrund aus?
Halten wir es uns nochmal illusionslos vor Augen: Nach Einschätzung des
"Bulletin of the Atomic Scientists" ist es nicht etwa fünf vor zwölf -
/ganze anderthalb Minuten trennen uns noch von der Totalkatastrophe!/
So lesen wir es in den Zeitungen, so hören wir es im Radio, so lesen wir
es im Internet.
Und wie reagieren wir darauf?
Wie wir eben auf Zeitungsmeldungen reagieren: Gar nicht.
Die dramatische Situation löst nicht nur keine Angst, keinen Schrecken -
sie löst nur noch gähnende Langeweile aus!
Gefahren, die man nicht hört und sieht, die überdies seit Jahrzehnten
anhalten und scheinbar immer noch nicht eingetreten sind, existieren
eben - für die Psyche - de facto nicht.
Die ‚Wurschtigkeit’
Der unvergessene 1986 verstorbene Wiener Kabarettist, Helmut Qualtinger
hat diese Haltung der ‚Wurschtigkeit’ bereits vor Jahrzehnten auf
klassische Formulierungen gebracht, indem er seinen Herrn Karl in
reinstem ‚Weanerisch’ folgendes sagen ließ:
"… man interessiert si’ nimmer so … Es lasst halt alles nach … zum
Beispiel das Atomzeitalter … hab kan Kontakt mit der Atombomben. Es ist
außerhalb meines Interessengebietes … Ich überlass des anderen Menschen
… mi fragt ja niemand … bitte sollen sich die andern den Kopf
zerbrechen. Wenn i mi zerstreuen will, brauch i ka Wasserstoffbomben … i
geh spazieren in Überschwemmungsgebiet …"
In diesem genialen Text hat Qualtinger den Nagel auf den Kopf der
Schwachköpfigen getroffen: Die Atomkriegsgefahr ist dadurch entschärft,
nein: = Null, dass Herr Karl sich bescheidenerweise für sie "nicht
interessiert". Dadurch dass er außerdem über andere Mittel verfügt, um
sich zu "zerstreuen": "Wasserstoffbomben" zu diesem Zweck also nicht
"braucht". Da er sich für sie nicht interessiert, kann er wohl von ihnen
erwarten, dass sie sich fairerweise auch nicht für ihn interessieren
werden. Durch diese magische Verwandlung der Wasserstoffbomben zu
Mitbürgerinnen, mit denen er in keinerlei Beziehung steht, entschärft er
sie ein für alle Male.
Herrn Karls - aber nicht etwa nur dessen - Prinzip lautet:
/"Für wen ich mich nicht interessiere, der wird sich/ - soviel
gegenseitige Rücksicht darf man von der Welt wohl noch erwarten - /auch
für mich nicht interessieren!"/
Und da dies ja seit Jahrzehnten immer gut gegangen ist, haben wir auch
weiterhin allen Grund, uns beruhigt zurückzulehnen.
*Siehe auch:* "Es ist 90 Sekunden vor Mitternacht - wer noch bei
Verstand ist, sollte jetzt aufwachen" ( von Jens Berger auf den
"NachDenkSeiten" <https://www.nachdenkseiten.de/?p=93039> )
Quelle: Globalbridge <https://globalbridge.ch/> vom 28.01.2023.
Veröffentlicht am
29. Januar 2023
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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
Center for Encounter and active Non-Violence
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