[E-rundbrief] Info 2211 - Jedlicka: Kriege und Kindererziehung
Matthias Reichl
info at begegnungszentrum.at
Do Feb 2 12:07:18 CET 2023
E-Rundbrief Info 2211 - Franz Jedlicka: Kriege und Kindererziehung
Bad Ischl, 2.2.2023
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
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Kriege und Kindererziehung
Von Franz Jedlicka
Als Soziologe und Friedensforscher befasse ich mich mit den
Zusammenhängen zwischen Kindererziehungsstilen in den Ländern der Welt
und ihrer Friedlichkeit. Ich stelle die einfache Frage „Kann ein Land
nachhaltig friedlich werden, wenn bereits ein Großteil der Kinder Gewalt
in der Familie erfährt?“ Fast alles, was ich bisher dazu recherchiert
habe, deutet auf ein eindeutiges „nein“ hin (die wichtigsten Quellen und
Statistiken dazu habe ich in meinem Ebook „Die vergessene
Friedensformel“ veröffentlicht). Übrigens ist bei den „Sustainable
Development Goals (SDGs) der Kinderschutz – vielleicht ganz bewusst –
als Unterpunkt des Friedens SDGs 16 genannt, nämlich als Punkt 16.2.
Meine Forschung ist interdisziplinär angelegt: Zunächst geht es um
internationale Daten zur Gewalt gegen Kinder. Hier gibt es einerseits
Statistiken der UNICEF, z.B. die Reports „Hidden in plain sight“ und „A
familiar Face“, andererseits gibt es detaillierte Listen über den
gesetzlichen Kinderschutz vor der Prügelstrafe in den Ländern der Welt:
auf http://endcorporalpunishment.org (Corporal punishment ist der
englische Begriff für die Körperstrafe). In diesen Listen ist auch zu
sehen, ob in einem Land die Prügelstrafe nicht nur in den Familien,
sondern auch in Schulen, Kindergärten oder sogar Gefängnissen (!)
erlaubt ist.
Diese Daten kann man mit dem Global Peace Index vergleichen, der
jedes Jahr vom Institute for Economics and Peace (IEP) veröffentlicht
wird und eine Rangreihung der Nationen in Bezug auf ihre Friedlichkeit
darstellt. Bereits hier wird deutlich, dass in den friedlichsten Ländern
der Welt – Österreich findet sich fast immer unter den Top 5 (in
Österreich wurde die Körperstrafe im Jahr 1989 verboten – es war das
dritte Land weltweit) – Kinder nicht mehr geschlagen werden dürfen. Aber
es gibt natürlich auch andere Faktoren, wie etwa Demokratie, Wohlstand,
eine geringe soziale Ungleichheit.
Die nächste wissenschaftliche Disziplin ist natürlich die
Psychologie: mit dem Fokus auf die frühkindliche Entwicklung ist
mittlerweile klar, dass frühkindliche Traumata – denn Schläge sind genau
das – lange negativ nachwirken, im schlimmsten Fall die Empathiezentren
im Gehirn beschädigen oder blockieren. Natürlich wird nicht jedes früher
geschlagene Kind als Erwachsene:r gewalttätig, jedoch trifft im
Umkehrschluss zu – und hier kommt die Kriminalpsychologie ins Spiel –
dass so gut wie jeder Gewalttäter (ja, es sind meistens Männer ..)
bereits als Kind Gewalt erlebt hat. In Ländern ohne Verbot der
Prügelstrafe gibt es also eine höhere Anzahl an gewaltbereiten Personen,
weil ihr Empathieempfinden bereits in frühester Kindheit gestört wurde.
Die Neuropsychologie hat wiederum festgestellt, dass es keinen
„Aggressionstrieb“ gibt, sondern dass Aggressivität immer eine Reaktion
auf selbst erlebte Gewalt, Beleidung, Vernachlässigung oder Ausgrenzung
ist. Vor allem Joachim Bauer erklärt das detailgenau in seinen Büchern
„Das kooperative Gen“ und „Schmerzgrenze“. Sozialhistorisch beschreibt
es Rutger Bregman in seinem Buch „Im Grunde gut“.
Gewalttäter „im großen Stil“, also Kriegstreiber, Diktatoren und
Despoten, haben ebenso fast immer Gewalt als Kind erlebt. Hier kommt die
Geschichtswissenschaft ins Spiel, im Besonderen die „Psychohistorie“
(auch politische Psychologie genannt): Historiker:innen haben begonnen,
die Kindheit von politischen Personen zu untersuchen. Ein frühes
wichtiges Buch dazu war „Am Anfang war Erziehung“ von Alice Miller, in
dem sie die Kindheit von Adolf Hitler untersuchte: er hat teilweise
extreme Erniedrigung in seiner Herkunftsfamilie erlebt. Das beste
aktuelle Buch zu dem Thema ist meiner Ansicht nach „Die Kindheit ist
politisch“ von Sven Fuchs, in dem etwa die Kindheit von Stalin,
Mussolini, Saddam Hussein und vielen mehr unter die Lupe genommen wird –
und auch: gerade jetzt brisant – die Kindheit von Wladimir Putin (auch
er hat Gewalt und Vernachlässigung erlebt – und auch in Russland ist die
Prügelstrafe noch nicht verboten).
Auch in der Kultur- und Sozialanthropologie wurde auf eine gewisse
Art schon Friedensforschung betrieben, indem indigene Völker auf
unterschiedlichen Kontinenten im Hinblick auf ihr friedliches – oder
kriegerisches – Verhalten untersucht wurden. Hier tauchen ab und zu
Aussagen zu einer gewaltfreien Kindererziehung auf, aber man muss diese
Untersuchungen ehrlicherweise als nicht statistisch signifikant
bezeichnen – weil eben keine Statistiken, sondern nur Beschreibungen
erstellt wurden.
So verdichtet sich also ein Gesamtbild, aus dem deutlich wird, dass
eine gewaltfreie Kindererziehung ein wichtiger Friedensfaktor ist. Wenn
man dann noch einen pädagogischen Blickwinkel einnimmt – im Hinblick
also auf eine Friedenspädagogik - stellt sich natürlich die Frage: Ist
es nicht eine widersprüchliche Erziehung, wenn Erwachsene ihren Kindern
vermitteln wollen, wie wichtig Gewaltlosigkeit ist, sie jedoch bei der
Kindererziehung selbst Gewalt anwenden? Das ist ironischerweise sogar in
religiösen Kulturen sehr oft der Fall: Denn es gibt etwa das Bibelzitat
„Wer mit der Rute spart, verdirbt das Kind“ – und in einigen religiösen
Gruppierungen (z.B. bei den Evangelikalen in den USA) wird es mit
Vehemenz vertreten – und sie bekämpfen sogar oft Versuche,
Kinderschutzgesetze einzuführen. Die USA ist übrigens das einzige UN
Mitgliedsland, das die UN Kinderrechtskonvention nicht ratifizieren
will: dort dürfen auch in einigen Schulen Kinder noch durch Schläge mit
einem Holzbrett – dem Paddle – bestraft werden – ein in Europa viel zu
unbekannter Skandal.
Insgesamt geht es bei meinen Forschungen also um eine „Kultur des
Friedens“, eine konsequente Kultur der Gewaltlosigkeit in allen
gesellschaftlichen Bereichen: einfach, weil es nicht glaubhaft ist, vom
Wunsch nach Friedlichkeit zu sprechen, aber Gewalt in der
Kindererziehung zu erlauben. Daher möchte ich für einen solchen Ansatz
des „Peacebuilding“ (der Friedensförderung) den Begriff „Peace
Mainstreaming“ anregen: Er besagt, dass Gewalt (und Unterdrückung) in
allen gesellschaftlichen Bereichen reduziert und beseitigt werden muss,
wenn ein Land nachhaltig friedlich werden soll.
Dass es dabei auch um die Gleichberechtigung und Sicherheit von
Frauen geht, ist ebenfalls klar bewiesen (siehe dazu die Bücher von
Valerie Hudson et.al. und die UNSC Resolution 1325 zur Wichtigkeit der
Teilhabe von Frauen in Peacebuilding-Prozessen).
Natürlich ist ein legaler Kinderschutz vor Gewalt eine
Friedensstrategie, die erst mit der Zeit wirken wird: Es ist ein erstes
Signal zur Wichtigkeit der Thematik, das jedoch im betreffenden Land
Diskussionen auslösen wird – und erst einen allmählichen Wandel der
Kindererziehungspraktiken. Und dann dauert es wohl eine Generation, bis
die gewaltfrei aufgewachsenen Kinder in das Alter kommen, in dem sie ein
Land mitgestalten können. Daher müssen politische Akteur:innen, denen
die Friedlichkeit und Stabilität ihres Landes ein dringendes Anliegen
ist, sofort auch auf dieser Ebene handeln. Denn schon Mahatma Gandhi
sagte: „Wenn wir wirklich Frieden wollen, müssen wir mit den Kindern
beginnen.“ Aus meiner Sicht ist dieses Zitat auch wissenschaftlich bewiesen.
Webseiten von Franz Jedlicka: www.friedensforschung.com , www.whitehand.org
--
Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
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