[E-rundbrief] Info 157 - Clovis Zimmermann: Grundeinkommen in Brasilien
Matthias Reichl
mareichl at ping.at
Fr Nov 5 12:13:13 CET 2004
E-Rundbrief - Info 157 - Clóvis Zimmermann: Grundeinkommen für alle - in
Brasilien
Bad Ischl, 5.11.2004
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
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Grundeinkommen für alle - in Brasilien
Clóvis Zimmermann
Brasilien hat im Januar dieses Jahres als erstes Land der Welt die
Einführung eines Grundeinkommens (Renda Básica de Cidadania) beschlossen.
Mit dem Grundeinkommen soll allen Brasilianern ohne Einkommensunterschiede
und auch Ausländern, die seit mehr als fünf Jahren im Land leben, eine
staatliche finanzielle Leistung zukommen, mit der sie ihre Grundbedürfnisse
wie Lebensmittel, Erziehung und Gesundheit befriedigen können. Dabei
handelt es sich um eine allgemeine finanzielle Unterstützung, die monatlich
bedingungslos und ohne Unterschied an Reiche und Arme, Jung und Alt, Frauen
und Männer gleichermaßen ausbezahlt werden soll.
Das Gesetz für ein Grundeinkommen, das nach und nach eingeführt werden
soll, beginnend mit den Ärmsten der Gesellschaft, ist dem langwierigen
Bemühen des Senators Eduardo Suplicy von der Arbeiterpartei (PT) zu
verdanken. Nach Ansicht von Lena Lavinas, Professorin an der
Bundesuniversität Rio de Janeiro, stehe jedoch der Satz »Beginnend mit den
Ärmsten der Gesellschaft« nicht im Einklang mit dem Konzept des
Grundeinkommens, weil es gleichermaßen für alle eingeführt werden soll und
nicht nach bestimmten Auswahlkriterien.
Nach Ansicht von Philippe van Parijs, dem ehemaligen Sekretär von BIEN
(ehemals Basic Income European Network, mittlerweile Basic Income Earth
Network) und Professor an der Université Catholique de Louvain, könne kein
Land der Welt ein Grundeinkommen auf einmal einführen, vielmehr müsse dies
Schritt für Schritt geschehen.
Der Unterschied zwischen Mindesteinkommen und Grundeinkommen besteht darin,
dass ein Mindesteinkommen mit einer Bedarfsprüfung verknüpft ist.
Staatliche Leistungen werden nach diesem Konzept nur dann ausbezahlt, wenn
die Menschen ihre Bedürftigkeit nachweisen können.
In der Regel besteht dadurch eine Kopplung zwischen Erwerbsarbeit und
Einkommen; soziale Leistungen werden meist erst dann bezahlt, wenn die
Betreffenden keiner Erwerbsarbeit nachgeht. Sobald eine reguläre
Erwerbstätigkeit vorliegt, geht Anspruch auf die staatliche Leistung verloren.
Mit dem Grundeinkommen soll der Lebensunterhalt von der Notwendigkeit der
Erwerbsarbeit abgekoppelt werden. Diese Entkopplung wird von vielen auch
vor dem Hintergrund der strukturellen Massenarbeitslosigkeit als notwendig
erachtet.
Darüber hinaus soll auch eine höhere Effizienz in der Mittelzuweisung
erreicht werden, weil kein Aufwand für die Überprüfung der Bedürftigkeit
betrieben werden muss.
Als übergeordnete Ziele wird zum einen die Respektierung der Menschenrechte
und -würde, zum anderen die Förderung der Autonomie der Staatsbürger
genannt, auch außerhalb der Erwerbsarbeitssphäre menschenwürdig zu leben.
Armutbekämpfung
Während in den meisten europäischen Ländern die Diskussion um die
Einführung eines Grundeinkommens auf eine Ergänzung zum bereits vorhandenen
System sozialer Sicherung und zur Bewältigung von dessen Krisen abzielt,
verspricht man sich in Lateinamerika davon vor allem die Bekämpfung des
Hungers und der Armut.
Die Programme zur Armutsbekämpfung in Brasilien waren bis in die 90er Jahre
vorwiegend auf die Steigerung des Wirtschaftswachstums ausgerichtet,
indirekt sollte damit auch die Armut bekämpft werden. Brasilien ist diesem
Ziel aber nie nahegekommen.
In den 90er Jahren intensivierten sich die Debatten und Kampagnen um die
Armut. Zuerst wurden globale Programme zur Armutsbekämpfung auf kommunaler
Ebene eingeführt sie knüpften an einen Gesetzesentwurf für ein
Mindesteinkommen an, den Senator Eduardo Suplicy 1991 vorschlug.
Das Gesetz hat intensive Debatten in den Medien, vor allem in angesehenen
Zeitungen und Zeitschriften, ausgelöst. Die Folge war, dass auf lokaler
Ebene neue Wege bei der Armutsbekämpfung gegangen wurden.
Von 1995 an haben zahlreiche Kommunen, zunächst Campinas, Ribeirão Preto
und der Bundesdistrikt Brasília, Mindesteinkommensprogramme zur
Armutsbekämpfung eingeführt. Sie formulierten eine Reihe von Bedingungen
für die Aufnahme der Leistungsempfänger in das Programm.
Die erste Bedingung war die Verpflichtung der Eltern, ihre Kinder zur
Schule zu schicken. Kommunen, die diese Bedingung stellten, argumentierten,
Armut in den Familien habe großen Einfluss auf die frühzeitige
Erwerbstätigkeit der Kinder, weil die Kosten für den Schulbesuch sehr hoch
seien und die Familien die Kinderarbeit benötigten, um ihr prekäres
Einkommen zu steigern.
Daneben verlangten die meisten Programme eine Mindestwohndauer in der Stadt
im allgemeinen zwei bis fünf Jahre. Dadurch sollte verhindert werden,
dass Menschen aus anderen Städten zu ziehen, um in den Genuss des Programms
zu gelangen. Außerdem legten die meisten Programme eine
Einkommensobergrenze fest in der Regel belief sie sich auf ein
Pro-Kopf-Einkommen von weniger als einem halben Mindestlohn im Monat.
Obwohl diese Programme sehr restriktiv gehandhabt wurden, verzeichneten sie
positive Resultate, sodass sie ab dem Jahr 2000 während der
Regierungsperiode des Fernando Henrique Cardoso auch auf Bundesebene
eingeführt wurden.
Auf diese Weise entstand die Schulbeihilfe für arme Familien, die ihre
Kinder in die Schule schicken, die Ernährungsbeihilfe (Programm zur
Ernährung der Mütter) und die Gasbeihilfe eine kleine, zweimonatlich
ausbezahlte Summe, um Gas für die Küche zu kaufen. Schätzungsweise lag in
dieser Zeit die durchschnittliche Unterstützung bei 25 Real pro Familie.
Fome Zero
Mit der Wahl von Präsident Lula im Oktober 2002 wurde das Programm Fome
Zero (Null Hunger) ins Leben gerufen. Dieses Programm sieht vor allem die
Einführung einer Lebensmittelkarte vor, mit der 44 Millionen als arm
eingestufte Brasilianer (etwa 11,2 Millionen Familien) bis Ende des Jahres
2006 sich angemessen ernähren sollen.
Ende Oktober 2003 hat die Regierung die unterschiedlichen Formen der
Unterstützung in einer Familienunterstützungskarte* zusammengeführt. Die
Familienunterstützungskarte gewährt eine Unterstützung von 5095 Real (etwa
20 Euro; der Mindestlohn liegt bei 260 Real).
Die Familien, die in den Genuss des Programms kommen, bekommen zunächst
eine Bankkarte der staatlichen Sparkasse zugesandt, die Unterstützung wird
ihnen dann monatlich auf das Konto überwiesen.
Diese Unterstützungen, die bis zur Einführung des Grundeinkommens
beibehalten werden sollen, sind nicht nur an den Nachweis der Armut
gebunden, sie verlangen auch »Gegenleistungen« so z.B. den Nachweis, dass
die Kinder regelmäßig zur Schule geschickt werden und an Impfungen
teilnehmen, und dass die Erwachsenen an Alphabetisierungskursen und
Informationsveranstaltungen über Ernährung oder Berufsausbildung teilnehmen.
Die Kosten für die Überprüfung dieser Gegenleistungen des betragen jährlich
nach Schätzungen von Lena Lavinas 25 Milliarden Real, während das Programm
selbst im Jahr nur 5 Milliarden Real kostet. Bis jetzt haben mehr als 5
Millionen arme Familien in ganz Brasilien diese
»Familienunterstützungskarte« erhalten.
Die Familienunterstützungskarte hat einige positive Auswirkungen gehabt,
vor allem die Verbesserung der Ernährung. Schwierigkeiten gibt es jedoch
bei der Auswahl der Leistungsbeziehenden und ihrer Zahl in den Städten. Da
in Brasilien über die Hälfte der Erwerbstätigen im informellen
Wirtschaftssektor beschäftigt ist, sind eine Überprüfung des Einkommens und
eine allgemeine Bedürftigkeitsprüfung nur sehr schwer durchführbar.
Bedarf an finanzieller Unterstützung haben weit mehr Familien als die im
Programm »Fome Zero« vorgesehenen, sodass die Auswahl nie ganz korrekt
durchgeführt werden kann. Deshalb kritisieren Menschenrechtsorganisationen
wie bspw. FIAN (FoodFirst Information and Action Network), dieses Programm
erfülle nicht die Kriterien internationaler Vereinbarungen wie das
Menschenrecht auf Nahrung.
FIAN empfiehlt für die künftige Gestaltung des Programms den schnellen
Übergang von der Familienunterstützungskarte zum Grundeinkommen, weil
dadurch das Risiko drastisch gemindert werde, dass bedürfige Menschen von
ihm ausgeschlossen würden. Zudem knne nur auf diese Weise das Recht auf
Nahrung tatsächlich eingeklagt werden, weil sich die Bedüftigen einfacher
gegen Rechtsverletzungen zur Wehr setzen könnten.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das aktuelle Gesetz über das
Grundeinkommen eine Erweiterung der bereits eingeführten
Mindesteinkommensprogramme darstellt.
Grundeinkommen
Das Grundeinkommensgesetz, das am 8.Januar 2004 von Präsident Lula
unterzeichnet wurde, soll ab 2005 schrittweise eingeführt werden
beginnend bei den besonders Betroffenen. Ein Kritikpunkt ist die Bindung
des Gesetzes an die Haushaltsmöglichkeiten des Staates. Wird die
Haushaltslage schwierig, kann eine Regierung das Programm verschieben oder
verzögern. Außerdem kann ein zu niedrig angesetzter Betrag für das
Grundeinkommen die Wirkung des Gesetzes einschränken.
Nach Auffassung von Senator Suplicy könnte das Grundeinkommen schrittweise
bis 2010 eingeführt werden. In seiner Konzeption stellt das bisherige
Familienunterstützungsprogramm den ersten Schritt für ein Grundeinkommen
dar, obwohl er den individuellen Anspruch und nicht den der Familie in den
Vordergrund stellt und die Auszahlung der Leistungen an keinerlei
Bedingungen mehr knüpft.
Als Eingangsbetrag schlägt er eine Summe von monatlich 40 Real pro Person
vor. Dieser Betrag mag auf dem ersten Blick gering erscheinen, aber in
einer Familie mit vier Kindern würde das Einkommen damit auf 240 Real
steigen. Wenn eine Person dann noch einen Mindestlohn dazu verdienen würde,
käme die Familie auf 500 Real. Je geringer also das Einkommen einer Person
ist, desto höher ist die Bedeutung dieses Grundeinkommens.
Lena Lavinas schlägt monatlich 80 Real für alle Kinder bis zum Alter von 16
Jahren vor, denn diese seien am häufigsten von der Armut betroffen.
Insgesamt würden das ungefähr 56,7 Millionen Kinder betreffen, die
jährlichen Kosten beliefen sich auf 54,6 Milliarden Real. Nach ihrer
Ansicht würde es zur Finanzierung dieser Ausgabe genügen, wenn die
Regierung die Zinsrate von 16% auf 12% senkt dadurch würden sich der
Schuldendienst des Bundes nach innen und außen erheblich reduzieren.
Ein Grundeinkommen würde in Brasilien, wie Erich Fromm in den 60er Jahren
feststellte, zum ersten Mal Menschen von der Drohung des Hungertods
befreien und sie auf diese Weise wirtschaftlich wahrhaft frei und
unabhängig machen. Niemand müsste sich mehr nur deshalb auf bestimmte
Arbeitsbedingungen einlassen (im Extremfall die Sklavenarbeit, die es in
Brasilien immer noch gibt), weil er sonst befürchten müsste zu verhungern.
Begabte oder ehrgeizige Frauen und Männer, so Erich Fromm, könnten ihre
Ausbildung wechseln, um sich auf einen anderen Beruf vorzubereiten; eine
Frau könnte ihren Ehemann verlassen. Die Menschen hätten keine Angst mehr,
wenn sie den Hunger nicht mehr zu fürchten brauchten.
*Auf Portugiesisch »Bolsa Família«. Jede Familie bekommt monatlich einen
Betrag von 5095 Real, je nach Anzahl der Kinder. Der Grundbetrag liegt bei
50 Real, pro Kind werden 15 Real hinzu bezahlt. Allerdings werden nur
maximal drei Kinder berücksichtigt. Der Durchschnittswert der
Familienunterstützungskarte liegt monatlich bei 73 Real.
SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2004, Seite 16
http://members.aol.com/soz9/041116.htm
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Als Ergänzung zum E-Rundbrief - Info 150 - RB Nr. 114 - Frei Betto: Zero
Hunger Social Mobilization in Brasilien. Sozialpolitik des brasilianischen
Präsidenten Lula.
M.R.
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