[E-rundbrief] Info 2238 - Christine Schweitzer: Wehrhaft ohne Waffen

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
Di Sep 12 19:00:16 CEST 2023


E-Rundbrief Info 2238 -Christine Schweitzer:


    Wehrhaft ohne Waffen – In Deutschland nimmt eine Kampagne zur
    Sozialen Verteidigung Gestalt an

Bad Ischl, 11.9.2023

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

https://www.begegnungszentrum.at/

In unserer Radiosendung Begegnungswege 21. September 2023 bringen wir ein Interview mit Christine Schweitzer über ihre Arbeit.
Sie schickte uns für den Rundbrief noch folgenden Text:

     1.


            Wehrhaft ohne Waffen – In Deutschland nimmt eine Kampagne
            zur Sozialen Verteidigung Gestalt an

Christine Schweitzer



Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine haben die NATO-Staaten 
angekündigt, neue Milliarden in die Rüstung zu stecken; Truppen und 
Waffensysteme werden nach Osteuropa verlegt. Aber was ist, wenn die 
Abschreckung versagt? Ein Krieg in Europa, dann wahrscheinlich auch mit 
Atomwaffen? Und wann hört Verteidigung auf? Denn irgendwann gibt es 
nichts mehr zu verteidigen, sondern es heißt dann nur noch „gemeinsam in 
den Abgrund“, wie der Sozialpsychologe Friedrich Glasl die letzte Stufe 
seiner Konflikteskalationsleiter so treffend genannt hat.

Es waren solche Fragen, die Friedensforscher*innen - und auch einige 
Militäroffiziere wie den Briten Stephen King-Hall - dazu gebracht haben, 
nach dem 2. Weltkrieg über Alternativen zu militärischer Verteidigung 
nachzudenken. Ihre Antwort mag utopisch klingen, basiert aber auf realen 
Erfahrungen in vielen Ländern der Erde: Gewaltfreier Widerstand gegen 
eine Besatzung. Der Fachbegriff: Soziale Verteidigung.

Mit dem Ukraine-Krieg ist zumindest in Deutschland das Interesse an 
diesem Konzept wieder erwacht. Im Sommer 2022 gründete ein Kreis von 
Aktivist*innen rund um den Bund für Soziale Verteidigung die Kampagne 
„Wehrhaft ohne Waffen“. Sie will über Soziale Verteidigung informieren, 
Druck erzeugen und sie in drei sog. „Modellregionen“ konkret 
vorbereitet. Denn eine umfassende und menschliche Verteidigung muss an 
Ort und Stelle vorbereitet und erlebt werden. Sie kann nicht „von oben“ 
angeordnet werden kann.

Das Konzept der Sozialen Verteidigung geht von dem Gedanken aus, dass 
letztlich alle Macht vom Volk ausgeht, d.h. die Ausübung von Macht 
beruht auf der Zustimmung und Kooperation der Regierten. Wenn diese 
Kooperation entzogen wird, dann bricht die Basis der Macht zusammen. 
Versucht der Herrschende, Kooperation durch Gewalt zu erzwingen, so mag 
das zwar kurzfristig gelingen, aber wie der Sturz zahlloser Diktaturen 
in Vergangenheit und Gegenwart zeigt, ist diese Strategie irgendwann zum 
Scheitern verurteilt.

Auf den Fall einer militärischen Besetzung übertragen bedeutet dies, 
dass letztlich die Bevölkerung des angegriffenen Landes darüber 
entscheidet, ob ein (militärischer) Angreifer sein Ziel erreicht oder 
nicht. Es wird nicht das Territorium an den Landesgrenzen verteidigt, 
sondern die Selbstbestimmung einer Gesellschaft durch die Verweigerung 
der Kooperation.//Sie ist damit eine Alternative zu Aufrüstung und 
Abschreckung. Besonders dann, wenn ein Angriff auf die politische 
Beherrschung des okkupierten Landes zielt, dann hängt es an den 
Menschen, ob sie sich der Besatzung unterwerfen oder mit dem Besatzer 
nicht zusammenarbeiten.



*Vorbilder und Erfahrungen*

Das mag utopisch klingen, aber es gibt viele Beispiele, die andeuten, 
wie Soziale Verteidigung funktionieren könnte:

  *

    Der Kapp-Putsch 1920, bei dem Reichswehroffiziere gegen die
    Regierung der jungen Weimarer Republik putschten. Er scheiterte nach
    fünf Tagen, vor allem weil ein Generalstreik das öffentliche Leben
    lahmlegte, dem sich auch der Deutsche Beamtenbund anschloss.

  *

    Der Ruhrkampf 1923 war ein vorrangig mit zivilen Mitteln geführter
    Protest im Ruhrgebiet, als französische und belgische Truppen 1923
    die Region besetzten, um Reparationen in Form von Kohle und Stahl
    einzuziehen. Die Reichsregierung rief die Bevölkerung zu „passivem
    Widerstand“ (Streik) auf. Nach knapp neun Monaten wurde der
    Widerstand abgebrochen; es folgten aber Verhandlungen, die zum
    Rückzug Frankreichs und Belgiens führten.

  *

    Prag 1968: Ein Versuch der vorsichtigen Demokratisierung im
    sogenannten „Prager Frühling“ von 1968 endete am 21. August 1968 mit
    dem Einmarsch von Truppen der anderen Länder des Warschauer Pakts.
    Die Reformregierung und Dubcek verzichteten auf militärischen
    Widerstand; die Bevölkerung der Tschechoslowakei wehrte sich aber
    durch vielfältige Aktionen Zivilen Widerstands gegen die Invasoren.

Es gibt noch zahlreiche weitere Erfahrungen mit gesamtgesellschaftlichem 
zivilem Widerstand. Hierzu gibt es inzwischen viele Studien. Die 
US-amerikanischen Forscherinnen Erica Chenoweth und Maria J. Stephan 
(2011) zählten 107 gewaltfreie Aufstände („civil resistance“, „ziviler 
Widerstand“) im Zeitraum zwischen 1900 und 2006.^1 <#sdfootnote1sym> Sie 
stellten fest, dass die gewaltlosen Aufstände seit 1905 mehr als zweimal 
so erfolgreich waren (53%) als die gewaltsamen. Anders formuliert: Nur 
jede vierte gewaltlose Kampagne versagte total, und etwas mehr als einer 
von vier gewaltsamen Aufständen (26%) war erfolgreich.



Dr. Christine Schweitzer ist Geschäftsführerin beim Bund für Soziale 
Verteidigung (soziale-verteidigungde) und wissenschaftliche 
Mitarbeiterin im Institut für Friedensarbeit und gewaltfreie 
Konfliktaustragung (ifgk.de)

1 <#sdfootnote1anc>Chenoweth, Erica und Stephan, Maria J. (2011): Why 
Civil Resistance Works. The Strategic Logic of Nonviolent Conflict. New 
York: Colombia University Press.

  

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     Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
     Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
     Center for Encounter and active Non-Violence
     Wolfgangerstr. 26, 4820 Bad Ischl, Austria,
     fon: +43 6132 24590, Informationen/ informations,
     Impressum in:http://www.begegnungszentrum.at
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