[E-rundbrief] Info 2167 - Scheidler: Aufrüstung und Klimaschutz

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
Fr Mär 18 18:41:05 CET 2022


E-Rundbrief Info 2167 - Fabian Scheidler: Aufrüstung und Klimaschutz: 
Die Welt am Kipppunkt.

Bad Ischl, 17.3.2022

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

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Fabian Scheidler

Aufrüstung und Klimaschutz: Die Welt am Kipppunkt

Fabians Blog / Von fsch

9.3.2022

Wenige Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine erschien ein 
neuer Bericht des UN-Klimarats IPCC, der unmissverständlich klar macht: 
Die Erde steht kurz davor, in ein unkontrollierbares Klimachaos zu 
kippen, wenn nicht sehr schnell gegengesteuert wird. Die Hälfte der 
Weltbevölkerung, so der Bericht, ist schon jetzt durch die Auswirkungen 
des Klimawandels gefährdet. UN-Generalsekretär Guterres wählte deutliche 
Worte: „Der Bericht spricht ein verdammendes Urteil über das Versagen 
der Klimapolitik. Die Weigerung zu entschlossenem Handeln ist kriminell. 
Die größten Emittenten der Erde machen sich der Brandstiftung an unserem 
einzigen Zuhause schuldig.“ Das Zeitfenster, in dem wir noch die 
schlimmsten Folgen verhindern können, schließt sich schnell. Doch diese 
Botschaft droht im Lärm des Krieges weitgehend ungehört zu verhallen. 
Dabei hat sie weitreichende Konsequenzen – auch für die Frage, wie 
unsere Regierungen auf die Ukrainekrise reagieren sollten.

Die doppelte Gefahr von Klimakollaps und Atomkrieg spiegelt sich in der 
sogenannten Doomsday Clock („Weltuntergangsuhr“), die von der 
Zeitschrift der US-amerikanischen Atomwissenschaftler veröffentlicht 
wird. Die Zeiger standen bereits vor dem russischen Überfall auf 100 
Sekunden vor Mitternacht. Eine rationale Weltinnenpolitik muss daher 
alles tun, um die Zeiger Stück für Stück zurückzudrehen und uns aus der 
Gefahrenzone herauszumanövrieren. Und das bedeutet: die Gefahr eines 
sich ausweitenden Krieges, gar eines nuklearen Weltkrieges reduzieren 
und zugleich Klimawandel und ökologische Verwüstung rasch bremsen. Die 
Antworten auf die Ukrainekrise müssen daher auf diesen doppelten Prüfstand.

Bundeskanzler Scholz hat nun 100 Milliarden Euro zusätzlich für die 
Bundeswehr angekündigt sowie eine Erhöhung der jährlichen 
Militärausgaben auf zwei Prozent des BIP – das wäre der größte 
Militarisierungsschub in der Geschichte der Bundesrepublik. Das scheint 
zwar angesichts der schockierenden russischen Aggression auf den ersten 
Blick verständlich, doch drängen sich beim zweiten Hinsehen einige 
gravierende Fragen auf. Zunächst einmal die naheliegendste: Hilft dieses 
Geld für die Rüstung den Menschen in der Ukraine? Wird es den Krieg 
verkürzen? Die Antwort lautet: höchstwahrscheinlich nicht, denn ein 
rasches Ende der Kämpfe kann nur durch Verhandlungen erreicht werden. 
Macht es mittel- und langfristig Europa und die Welt sicherer? Das ist 
zumindest sehr fragwürdig. Die Geschichte lehrt, dass Rüstungsspiralen 
die Wahrscheinlichkeit von großen Kriegen eher erhöhen. Beispiel erster 
Weltkrieg: Großbritannien, Deutschland und Frankreich lieferten sich vor 
1914 einen beispiellosen Überbietungswettbewerb militärischer 
Vernichtungskraft. Am Ende genügte die regionale Krise um Serbien, um 
Europas „Schlafwandler“ in die bis dahin größte Katastrophe seiner 
Geschichte zu stürzen. Die Bündniskonstellationen rissen eine Nation 
nach der anderen mit in den Abgrund. All die Waffen hatten Europa nicht 
sicherer gemacht.

Die Präsenz von Atomwaffen fügt dem noch eine ganz andere Dimension 
hinzu. Ein nuklearer Schlagabtausch würde nicht nur die von den Bomben 
getroffenen Regionen der Nordhalbkugel unbewohnbar machen, sondern durch 
den folgenden nuklearen Winter auch die Landwirtschaft global zerstören 
und die Menschheit dadurch so gut wie ausrotten.

Man muss heute auch die Frage anfügen, warum denn ein NATO-Militärbudget 
von derzeit sage und schreibe 1,2 Billionen Dollar pro Jahr – das sind 
60 Prozent der weltweiten Militärausgaben – nicht genügen soll, um 
Russland, das seinerseits lediglich über ein Budget von 62 Milliarden 
Dollar verfügt, davor abzuschrecken, NATO-Mitglieder anzugreifen. Machen 
uns 1,5 Billionen Dollar wirklich sicherer? Hat der Ausgabenzuwachs in 
der NATO um 25 Prozent von 2014 bis 2021 und in der Bundesrepublik um 
gar 40 Prozent mehr Sicherheit gebracht und den Krieg in der Ukraine 
verhindert?[1] Und wozu sind all die Atomwaffen gut, wenn selbst ihre 
Befürworter gar nicht daran glauben, dass die Abschreckung wirklich 
funktioniert?

Die dritte prinzipielle Frage ist, welchen Effekt die zusätzlichen 
dreistelligen Milliardenbeträge für das Militär auf die Bewältigung der 
zweiten großen Bedrohung für unser Überleben, nämlich der 
Klimakatastrophe haben werden. Wo wird dieses Geld herkommen und wem 
wird es am Ende fehlen? Der US-Ökonom Robert Pollin hat den bisher 
umfassendsten Vorschlag für einen Green New Deal vorgelegt, mit dem das 
nahende Klimachaos noch abgewendet werden könnte. Es beinhaltet 
Investitionen in den ökologischen Umbau in Höhe von 4,5 Billionen Dollar 
pro Jahr, die von den Hauptverursachern der Klimakrise aufgebracht 
werden müssen.[2] Das entspricht etwa 2,5 Prozent der weltweiten 
Wirtschaftsleistung. Andere Berechnungen, etwa von Jeffrey Sachs, kommen 
auf ähnliche Größenordnungen. Der aktuelle Militarisierungsschub 
beeinträchtigt die Möglichkeit dieser Investitionen erheblich und rückt 
uns daher weiter an die Mitternacht heran. Statt in den ökologischen 
Generalumbau, für den wir nur noch ein Jahrzehnt Zeit haben, wird das 
Geld in den klimaschädlichsten aller Wirtschaftssektoren gesteckt. Das 
US-Militär ist bereits heute der größte Emittent von Treibhausgasen 
weltweit.

Wir können es uns schlichtweg nicht leisten, für einen mehr als 
fragwürdigen Gewinn an Sicherheit unsere Ressourcen in eine weitere 
Militarisierung zu kanalisieren. Anstelle von blinder Aufrüstung müssen 
als Antwort auf die existentielle Doppelkrise andere, intelligentere 
Wege beschritten werden. Wie Bill McKibben, der Gründer der 
Klimabewegung 350.org, treffend bemerkte, brauchen wir als Reaktion auf 
Putins Krieg eine Großoffensive der erneuerbaren Energien und des 
ökologischen Umbaus, um von genau jenem Erdöl und Erdgas wegzukommen, 
dass autoritäre Regierungen rund um den Erdball alimentiert und Kriege 
anheizt. Dezentrale erneuerbare Energien machen auch ökonomisch weit 
weniger verwundbar als die derzeitige Abhängigkeit von Gas und Öl.

Was die Lage in der Ukraine betrifft, so geht es in der kurzen Frist 
darum, dass EU und Bundesregierung Bemühungen für die Vermittlung eines 
Waffenstillstandes aufnehmen, denn das ist das Einzige, was der 
ukrainischen Bevölkerung helfen kann. Dies aber kann nur gelingen, wenn 
die westlichen Staaten sich nicht durch fortgesetzte Waffenlieferungen 
in das Kriegsgebiet selbst zur Konfliktpartei machen. Mittel- und 
langfristig führt kein Weg daran vorbei, eine grundlegend neue 
Sicherheitsarchitektur für Europa zu entwickeln, und zwar mit allen 
Beteiligten, so schwer das seit dem russischen Angriffskrieg auch 
geworden ist. Das außenpolitische Vermächtnis von Willy Brandt und sogar 
von Helmut Kohl („Frieden schaffen mit immer weniger Waffen“) kann 
selbst in finsteren Zeiten wie den heutigen noch als Richtschnur dienen. 
Brandts Überlegung war damals einfach: Die Frage ist nicht, was wir von 
der Regierung im Kreml halten, ob wir ihre Handlungen gutheißen oder 
verurteilen. Selbst wenn wir meinen, dass dort die Inkarnation des Bösen 
sitzt, geht es noch immer darum, angesichts der Gefahr eines Atomkrieges 
unser Überleben zu sichern und zugleich konkrete Erleichterungen für die 
Menschen zu erreichen. Es geht um mehr als nur um Rechthaben. Es geht um 
einen Realismus des Überlebens.

Der Artikel erschien am 9. März 2022 in der Berliner Zeitung als 
Creative Commons.

[1] Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI): Yearbook 
2021, Oxford 2021. https://sipri.org/yearbook/2021

[2] Noam Chomsky, Robert Pollin: The Climate Crisis and the Global Green 
New Deal: The Political Economy of Saving the Planet, London/New York 2020

Fabian Scheidler ist Historiker und Philosoph, zuletzt erschien sein
Buch „Der Stoff, aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft
neu denken müssen“ (Piper 2021).


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     Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
     Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
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