[E-rundbrief] Info 1996 - Free Gaza – Israelisches Massaker auf Mavi Marmara 2010
Matthias Reichl
info at begegnungszentrum.at
Fr Jun 19 17:38:24 CEST 2020
E-Rundbrief Info 1966 - rr/ Hinter den Schlagzeilen (D): Free Gaza –
eine aktuelle Erinnerung an eine ungelöste Aufgabe. Zehn Jahre nach
dem israelischen Massaker an Menschenrechtsaktivisten auf dem Schiff
Mavi Marmara.
Bad Ischl, 19.6.2020
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
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Free Gaza – eine aktuelle Erinnerung an eine ungelöste Aufgabe. Zehn
Jahre nach dem israelischen Massaker an Menschenrechtsaktivisten auf
dem Schiff
Mavi Marmara.
.
Von rr/ Hinter den Schlagzeilen (D)
am 17. Juni 2020 in FEATURED, Politik (Ausland). Redigiert v. M.R.
https://hinter-den-schlagzeilen.de/free-gaza-eine-aktuelle-erinnerung-an-eine-ungeloeste-aufgabe
Die Mavi Marmara. Quelle: Free Gaza Movement, 2010, Wikipedia.
Zehn Jahre nach dem israelischen Massaker an Menschenrechtsaktivisten.
Vor zehn Jahren gingen israelische Truppen völkerrechtswidrig an Bord
von Schiffen, die humanitäre Hilfsgüter in den belagerten Gazastreifen
bringen wollten. Sie töteten zehn unbewaffnete Passagiere und
verhafteten die anderen. Die Schiffe und die Waren wurden
beschlagnahmt. Bis heute sind die Verantwortlichen für diese
kriminelle Handlung nicht vor Gericht gestellt worden, und einer von
ihnen ist weiterhin Premierminister des Staates Israel. Prof. Dr.
Norman Paech und Annette Groth, Quelle: BIP
Vor genau zehn Jahren überfielen israelische Streitkräfte in
internationalen Gewässern die „Free Gaza“-Flotille. Da der Hergang der
Ereignisse immer wieder unterschiedlich dargestellt und verfälscht
wird, soll er hier zunächst aus der Sicht der an der Flottille
beteiligten Passagiere Annette Groth und Norman Paech geschildert
werden. Außer uns nahmen die Bundestagsabgeordnete Inge Höger, Dr.
Mathias Jochheim von der IPPNW und Nader El Sakka von der
Palästinensischen Gemeinde in Hamburg teil. Lediglich sechs der
ursprünglich acht Schiffe trafen sich am 30. Mai weit südlich der
Insel Zypern und östlich von Israel in internationalen Gewässern. Es
waren die Passagierschiffe MV Mavi Marmara unter der Flagge der
Komoren, die MV Challenger I unter US-amerikanischer Flagge und die MV
Sfendoni unter griechischer Flagge, die Frachter MV Defney unter
türkischer Flagge, die MV Eleftheri Mesogeio (Free Mediterranean)
unter griechischer Flagge und die MV Sofia unter schwedischer Flagge.
Die unter US-amerikanischer Flagge fahrende MV Challenger II musste
kurz nach ihrem Auslaufen aus dem griechischen Hafen Agios Nikolaos
wegen eines Steuerungsschadens, ein offenkundiger Sabotageakt der
israelischen Armee,[1] aufgeben und ihre Passagiere auf die Mavi
Marmara übersetzen. Der von Irland gestartete Frachter Rachel Corrie
konnte den Treffpunkt wegen verschiedener Probleme nicht mehr
rechtzeitig erreichen.
Eine politische humanitäre Mission
Die Flottille war von einer Koalition von sechs Organisationen
zusammengestellt worden: 1. The Free Gaza Movement, 2. IHH
Humanitarian Relief Foundation, 3. The European Campaign to End the
Siege on Gaza (ECESG), 4. The International Committee to End the Siege
on Gaza, 5. The Greek Ship to Gaza Campaign, 6. The Swedish Ship to
Gaza. Alle Passagiere waren vor ihrer Reise auf mögliche Gefahren
aufmerksam gemacht worden und mussten sich auf vollkommene
Gewaltlosigkeit bei einer möglichen Konfrontation mit der israelischen
Armee schriftlich verpflichten. Es war absolut verboten, Waffen oder
Munition mit an Bord zu nehmen, die Verladung der Fracht wurde von den
Hafenbehörden kontrolliert. Wie sich später bei der Untersuchung des
Gepäcks der Passagiere und der Löschung der Fracht durch die Israelis
im Hafen von Ashdod herausstellte, war dieses Verbot ohne Ausnahme
befolgt worden, es wurden keine Waffen gefunden.
Die Schiffe waren von Athen, Istanbul und Agios Nikolaos gestartet. An
Bord waren insgesamt knapp über 700 Passagiere aus 36 Ländern (laut
The Guardian 671 Passagiere, das Innenministerium von Israel sprach am
5. Juni von 702 deportierten Menschen), davon 577 allein auf der Mavi
Marmara. Die Frachter hatten etwa 10.000 t Hilfsgüter an Bord, vor
allem Nahrungsmittel und Textilien, Pharmaka und medizinische
Ausrüstungen, Baumaterialien wie 3500 t Zement, 750 t Stahl, Holz,
Plastikfensterrahmen und Glas, Elektro- und Dieselgeneratoren,
Spielzeug, 20 t Papier etc.[2] Es waren nicht die ersten Schiffe der
Free Gaza-Bewegung, die die Blockade des Gazastreifens von See aus
durchbrechen wollten. Bereits im August 2008 war es zwei Schiffen mit
44 Aktivisten gelungen, Gaza zu erreichen – die ersten internationalen
Schiffe seit 42 Jahren. Insgesamt gab es zwischen 2008 und 2019
achtzehn Flottillen mit über 30 Booten, die fast alle gewaltsam
aufgebracht wurden.
Ein Angriff in internationalen Gewässern
Der erste Kontakt mit israelischen Kriegsschiffen erfolgte am 30. Mai
gegen 22.30 Uhr über Radar und Funkkontakt. Der Kapitän der Mavi
Marmara antwortete auf die Aufforderung, die Fahrt zu stoppen, dass
sich die Flottille in internationalen Gewässern bewege, ca. 70 – 90
Meilen von der Küste entfernt, und ihre Fahrt mit Hilfsgütern nach
Gaza fortsetzen werde. Die Passagiere wurden gegen 23.00 Uhr an Deck
gerufen und aufgefordert, ihre Rettungsjacken anzulegen zur Sicherheit
gegen einen möglichen israelischen Angriff. Nach einer Stunde wurden
die Passagiere in ihre Aufenthaltssäle zur Nachtruhe zurückgeschickt.
Die Kriegsschiffe folgten der Flottille. Die Satellitentelephone und
die Türksat Satellitenfrequenz, die die Mavi Marmara zur Kommunikation
mit den internationalen Medien aber auch unter den Schiffen der
Flottille benutzte, wurden zu diesem Zeitpunkt geblockt.
Am nächsten Morgen, dem 31. Mai gegen 4.20 Uhr, wurde die Mavi Marmara
plötzlich beschossen. Zu diesem Zeitpunkt war die Flottille von vier
Kriegsschiffen und fast 30 Zodiacs (Kampf-Schlauchboote) umgeben, 3
Helikopter erschienen, und auch 2 Unterseebote mit insgesamt an die
1000 Soldaten sollen an dieser „Operation Seebrise“ beteiligt gewesen
sein.[3] Israelische Soldaten hatten versucht, die Mavi Marmara von
den Zodiacs aus zu entern, was misslang. Der Angriff danach erfolgte
mit Tränengas- und Blendgranaten, Farbgeschossen und gummiummantelten
Stahlgeschossen.[4] Unmittelbar danach, gegen 4.30 Uhr, wurde der
Angriff auf die Mavi Marmara von Helikoptern aus geführt, von denen
sich Soldaten auf das Oberdeck abseilten. Nach verschiedenen
glaubhaften Zeugenaussagen wurde das Feuer von den Helikoptern aus
eröffnet noch bevor die Kommandos das Deck erreicht hatten. Dabei
wurden zwei Männer, die sich zur Abwehr auf das Oberdeck begeben
hatten, getötet.[5] In den folgenden Auseinandersetzungen wurden
insgesamt 9 Personen getötet und 54 verwundet, 23 davon schwer.
Später erlag in der Türkei ein weiterer Passagier seinen Verletzungen.
Es gibt keine Zahlen darüber, wie viele Passagiere sich auf dem
Oberdeck den israelischen Soldaten entgegenstellten. Ihnen gelang es
auf jeden Fall, drei Soldaten zu entwaffnen und zur
Erste-Hilfe-Station zu bringen, die im 2. Deck eingerichtet worden
war. Sie waren nur leicht verletzt, wurden versorgt und konnten später
die Station aus eigenen Kräften verlassen. Die Passagiere benutzten
bei ihren Kämpfen mit den Soldaten Stöcke, Eisenstangen, die sie mit
Eisensägen aus der Reling herausgesägt haben sollen,
Feuerwehrschläuche, Stühle, Wasserflaschen und andere Gegenstände, die
sie an Deck finden konnten. Die erbeuteten Waffen wurden von ihnen
nicht benutzt, sie wurden z. T. über Bord geworfen. Die Tatsache, dass
die israelische Armee keine Details über die Verwundungen der Soldaten
veröffentlicht hat, unterstreicht den Befund, dass die Passagiere die
erbeuteten Schusswaffen nicht benutzt haben.
Nach ca. einer halben Stunde, gegen 5.10 Uhr, wurden die Passagiere
über Lautsprecher auf Englisch und Arabisch aufgefordert, sich in ihre
Aufenthaltssäle zu begeben, sich ruhig zu verhalten und jeden
Widerstand zu unterlassen. Die Israelis hätten das Kommando über das
Schiff übernommen. Das geschah. Auch die auf dem untersten Deck bis
dahin aus Sicherheitsgründen eingeschlossenen Frauen wurden jetzt
heraufgelassen. Die israelischen Soldaten auf den Außendecks, die
aufgefordert wurden, den Gebrauch der Schusswaffen einzustellen,
kümmerten sich zunächst nicht darum. Sie richteten immer wieder ihre
Waffen von außen auf die Fenster, sobald sich in den Sälen ein
Passagier erhob. Nach einiger Zeit gelang es der Knesseth-Abgeordneten
Haneen Zoabi, die sich an Bord der Mavi Marmara befand, Kontakt zu den
Soldaten aufzunehmen. Alle Passagiere wurden schließlich einzeln aus
den Sälen beordert, untersucht und mit Kabelbindern um die Handgelenke
gefesselt. Sie mussten auf den Außengängen in Reih und Glied knien,
Frauen und die wenigen Europäer durften sich auf die Bänke setzen.
Währenddessen nahm die Flottille Kurs auf Ashdod. Helikopter brachten
weitere Verstärkung heran, u.a. auch Hunde.
Die Kaperung der anderen Schiffe zur gleichen Zeit verlief ohne Tote
und ohne größere Verletzungen, doch nicht ohne Gewalt und aggressive
Beleidigungen. Die israelischen Soldaten benutzten Taser
(Elektroschockwaffen) und Gummigeschosse, schlugen etliche Passagiere
mit den Kolben ihrer Waffen, sodass sie bluteten, fesselten sie mit
Kabelbindern, stülpten ihnen Kapuzen über und verklebten ihnen die
Augen – das alles, obwohl es keinen gewaltsamen Widerstand gab. Die
Mannschaften wurden mit Waffen zur Kursänderung gezwungen.
Die Fahrt nach Ashdod dauerte mehr als 10 Stunden, während dessen die
Passagiere nur mangelhaft mit Wasser und Nahrung versorgt wurden.
Vielen wurde der Gang zur Toilette verwehrt etc. Im Hafen von Ashdod –
gegen 19.00 Uhr – wurden alle einzeln von den Schiffen geführt,
verhört, einer kurzen gesundheitlichen Untersuchung unterzogen und
entweder zum Flughafen Ben Gurion gefahren, um ausgeflogen zu werden
(so die deutschen Gefangenen), oder mit Bussen in das Gefängnis in
Be‘er Sheba gebracht (so die ganz überwiegende Anzahl der Gefangenen).
Niemand konnte sein Gepäck mitnehmen, welches in verwüstetem Zustand
an Bord der Schiffe verblieb. Nur sehr wenigen gelang es, einzelne
Memorycards aus ihren Kameras zu retten. Sämtliches elektronisches
Gerät der Passagiere und Journalisten wurde einbehalten. Die immer
wieder gegebenen Versicherungen, dass den Passagieren ihr Gepäck
ausgehändigt werde, haben Einzelstücke von zumeist sich bis auf
geringem Wert, die nach Istanbul gesandt wurden, als falsch erwiesen.
Im September 2016 zahlte die israelische Regierung den Familien der
zehn getöteten Türken 18 Mio. Euro Entschädigung. Sie versuchte, die
Katastrophe auf der Mavi Marmara mit einigen Unzulänglichkeiten und
Fehlern der Planung und Durchführung zu erklären. Alles spricht jedoch
dafür, dass es sich hier um eine wohlkalkulierte Operation nach dem
Muster »shock and awe« gehandelt hat, die ein demonstratives Zeichen
setzen sollte: Niemand kommt ohne die Zustimmung der israelischen
Regierung nach Gaza, gleichgültig, welche Opfer das erfordert. Wie
schon bei den Überfällen auf den Gazastreifen im Winter 2008/2009 und
2014 und den gezielten Tötungen 2019/2020 an der Gaza-Grenze, so hatte
die israelische Regierung offensichtlich auch hier keine Probleme
damit, ihre militärischen Operationen außerhalb und gegen das
Völkerrecht durchzuführen. Ihre halbherzige Rechtfertigung mit dem
Recht auf Selbstverteidigung hat der damalige Verteidigungsminister
Ehud Barak selbst als falsch entlarvt, als er später einräumte, den
Überfall lange vorher geplant zu haben.
Der UNO-Menschenrechtsausschuss: Blockade und Angriff sind
völkerrechtswidrig
Schon am 2. Juni 2010, zwei Tage nach dem israelischen Überfall auf
die Free-Gaza-Flottille, wurde eine Untersuchungskommission des
UNO-Menschenrechtsausschusses eingerichtet. Sie arbeitete schnell und
gab am 22. September ihren Bericht ab, nachdem sie 112 Zeugen in Genf,
London, Istanbul und Amman vernommen und alle zugänglichen
Beweisstücke gesichtet hatte. Am 27. September diskutierte der
UNO-Menschenrechtsrat den Bericht und akzeptierte ihn mit großer
Mehrheit bei Stimmenthaltung der europäischen Staaten.[6] Dieser
Bericht nimmt eindeutig Stellung gegen die israelische Regierung und
ihre Armee: Die Blockade des Gazastreifens, die mit der kollektiven
Bestrafung der Bevölkerung eine humanitäre Krise hervorgerufen hat,
sei rechtswidrig. Ebenso sei die Blockade der Free-Gaza-Flottille in
internationalen Gewässern und ihre Entführung nach Israel rechtswidrig
gewesen. Schließlich sei der militärische Überfall auf die Flottille
und die Erstürmung der Mavi Marmara nicht etwa durch das Recht auf
Selbstverteidigung gerechtfertigt, wie es die israelische Regierung
immer noch behauptet, sondern ein Akt der Aggression, gegen den die
Passagiere berechtigt waren, sich zu wehren.
Zusammenfassend verurteilte die Kommission mit eindeutigen Worten die
Aggressivität und Unverhältnismäßigkeit des israelischen Überfalls und
bestätigte, dass es sich bei der Free-Gaza-Flottille um eine
friedliche humanitäre Mission gehandelt hatte. Wir, die wir an Bord
der Schiffe waren, wurden immer wieder gefragt, ob wir den Ablauf der
Militäroperation nicht hätten vorhersehen können, die Israelis hätten
doch unmissverständlich die Mission als Provokation verurteilt und die
Sperrung des Weges nach Gaza erklärt. Natürlich sollte die Flottille
nicht nur dringend benötigte Güter nach Gaza bringen, sondern zugleich
Israel, die USA und die europäischen Staaten provozieren, endlich die
unmenschliche Blockade aufzuheben. Eine solche Provokation war und ist
immer noch legitim und legal, da das internationale Recht eine solche
Blockade verbietet. Aber an einen solchen »Auftritt« der israelischen
Armee hatte niemand gedacht.
Die Tücken der nationalen und internationalen Strafgerichtsbarkeit
Im Juni 2010 erstatteten die fünf Mitglieder der deutschen Delegation
Strafanzeige beim Generalbundesanwalt „gegen unbekannte
Verantwortliche der israelischen Streitkräfte wegen sämtlicher in
Frage kommenden Straftatbestände, insbesondere wegen Kriegsverbrechen
und Freiheitsberaubung“. Nach gut vier Jahren, Ende September 2014,
erhielten wir die Nachricht, dass „keine zureichenden Anhaltspunkte
für die Begehung verfolgbarer Straftaten zum Nachteil deutscher
Staatsangehöriger“ vorhanden seien, „das Vorgehen der israelischen
Streitkräfte erweist sich (…) nach dem Völkerstrafgesetzbuch (VStGB)
als straflos“.
In der Begründung heißt es, dass „Passagiere und Besatzung dem ersten
israelischen Kommando, das mittels eines Schnellbootes an Bord
gelangen wollte, Widerstand entgegenbrachten, der im weiteren Verlauf
seitens der Gruppe der Passagiere auf dem Oberdeck in erheblicher,
organisierter und gewaltsamer Weise fortgesetzt wurde“; außerdem
stellten die Schiffe der Flottille „unter den gegebenen Umständen
militärische Ziele dar, die nach den Regeln des humanitären
Völkerrechts angegriffen werden durften“.[7]Das heißt, die zivilen
Schiffe der Flottille wurden nicht als schutzwürdig „unter dem
Blickwinkel des humanitären Völkerrechts“ betrachtet, sondern als
„zulässige militärische Ziele“, sodass auch eine Gefangennahme erlaubt
war.
Im Gegensatz zu dem UN-Menschenrechtsbericht konnte die
Generalbundesanwaltschaft auch keine der von der Kommission
festgestellten Kriegsverbrechen erkennen, also „gezielte Tötung,
Folter und unmenschliche Behandlung, gezielte Zufügung großer Leiden
oder ernstliche Verletzung von Körper und Gesundheit“, alles Verstöße
gegen Artikel 147 Vierte Genfer Konvention. Die Bundesanwaltschaft,
obwohl Teil der Justiz, ist nicht unabhängig, sie unterliegt den
Weisungen des Bundesjustizministeriums. Ein ihr übersandtes weiteres
juristisches Gutachten übersah sie großzügig und forderte von keinem
der Geschädigten weitere Informationen zu dem Überfall. Sie musste
offenbar vier Jahre auf die Begründung für ihren Bescheid aus dem
Justizministerium warten, die ihr auch die israelische Botschaft hätte
liefern können.
Inzwischen hatte eine internationale Kanzlei im Auftrag der Regierung
der Komoren — die Mavi Marmara war auf den Komoren registriert — die
Verbrechen gegen die Flottille vor den Internationalen
Strafgerichtshof (IStGH) gebracht. Die Chefanklägerin Fatou Bensouda
lehnte jedoch im November 2014 eine Klageerhebung ab. Drei Jahre
später forderte eine aus drei Richtern bestehende Kammer des IStGH
ihre Chefanklägerin auf, eine Untersuchung einzuleiten, die sie
verweigerte. Im September 2019 wiesen die Richter sie nochmals an, den
Überfall zu untersuchen und gegebenenfalls Anklage zu erheben. Auch
diese Anweisung wies Fatou Bensouda am 2. Dezember 2019 zurück,
woraufhin die Regierung der Komoren in Berufung ging und die
IStGH-Richter einen höchst ungewöhnlichen Schritt einschlugen: Sie
schickten den „Free Gaza“-Passagieren einen kurzen Fragenkatalog zu,
unter anderem mit der Frage, ob man eine Strafermittlung durch den
IStGH für notwendig halte.
Einige Richter scheinen von der Strafbarkeit des israelischen Angriffs
überzeugt zu sein und wollen eine strafrechtliche Untersuchung. Sie
versprechen sich offensichtlich, mit den Antworten der „Free
Gaza“-AktivistInnen mehr Druck auf die Chefanklägerin entfalten zu
können. Ähnliche Auseinandersetzungen mit ihren Richterkollegen hatten
dazu geführt, dass Fatou Bensouda erst im Dezember 2019 nach
fünfjähriger (!) Bedenkzeit die Entscheidung traf, Ermittlungen wegen
möglicher israelischer Kriegsverbrechen während des Gazakriegs 2014
einzuleiten. Der Angriff auf die „Free-Gaza“-Flotille ist darin nicht
enthalten. Allerdings hat sie nun am 30. April in einem umfangreichen
Gutachten die Rechtsprechungskompetenz des IStGH über Palästina, das
die Westbank, Ost-Jerusalem und Gaza umfasst, begründet. Sie wird von
Israel und etlichen westlichen Staaten, unter ihnen die
Bundesrepublik, bestritten, da Palästina kein Staat sei. Akzeptiert
die Kammer das Gutachten der Chefanklägerin, wovon auszugehen ist,
können auf jeden Fall die Vorermittlungen weitergeführt werden und zu
einer Anklage führen.
Wie immer der Gerichtshof entscheiden wird, Regierung und Armee
Israels haben ihre Politik nicht etwa gemäßigt, sondern radikalisiert.
Ihnen ist das nur möglich, weil sie weiterhin von den Staaten
unterstützt werden, die allein in der Lage wären, Israel zur Umkehr zu
bewegen. Die Kluft zwischen Recht und Moral auf der einen und Gewalt
und Rechtsverachtung auf der anderen Seite wächst in Dimensionen, die
die Verfassungen dieser Staaten selbst niemals zulassen würden – bei
Gefahr eines Bürgerkriegs. An dieser Kluft wird auch ein Gerichtshof
der Vereinten Nationen scheitern, wenn es ihm nicht gelingt, sich von
dem Druck und Einfluss der Staaten zu befreien, die seine
Unabhängigkeit immer wieder in Frage stellen.
„Grenzenlose Schande“
Es gibt seit langem Kritik auch in Israel an der Brutalität des
Besatzungsregimes, wie sie sich im Angriff auf die Mavi Marmara
gezeigt hat. Eine der berührendsten Kritiken kam 2010 von Dov
Yirmiya[8] (1914-2016) aus der Friedensbewegung Gush Shalom, einem der
letzten Veteranen der paramilitärischen jüdischen Haganah:
„Ich bin einer von den noch übrigen Haganah-Veteranen, die in der
britischen Armee gedient haben und danach zu den Initiatoren der
illegalen Einwanderung für die Holocaustüberlebenden gehörten. Wir
kämpften gegen die Mächte des siegreichen Großbritannien für das
Recht, an den Küsten dieses Landes anzukommen. Ihre Kriegsschiffe und
Soldaten, die gerade gegen den schlimmsten aller Feinde gekämpft und
ihn besiegt hatten, gingen nun dazu über, unsere Boote mit Wut und
Hass zu bekämpfen, unsere Boote, die von den Küsten Italiens voll
Überlebender aus der Nazihölle in dieses Land abfuhren. Die
Kriegsschiffe jagten hinter ihnen her, schlossen sie ein, manchmal
zerdrückten sie sie, schossen auf sie, töteten und verletzten viele
ihrer Passagiere.
Und jetzt habe ich mit Schrecken und gebrochenem Herzen eine
Wiederholung derselben Szenen beobachtet — doch mit umgekehrten
Rollen. Es sind die Soldaten und Matrosen der Militärkräfte, die sich
rühmen, die ‚israelischen Verteidigungskräfte’ zu sein. Sie sind nun
die Verfolger und Mörder. Es gibt keine Grenze für die Schande, die
Grausamkeit und die Heuchelei, die unsere kriminellen Akte mit Lügen
und Bösartigkeit einhüllen. Ich bin bis in die Tiefen meines Herzens
betroffen — wie konnten wir nur so tief fallen? Wie sind wir zu einem
ungerechten und grausamen Volk geworden, aus einem Volk von Verfolgten
zu einem, das verfolgt? (…) Schon in voraussehbarer Zukunft ist Israel
dabei, seine Überlebenschancen zu zerstören. Das Menetekel der
Zerstörung steht schon mit Blut an der Wand. Wehe unseren Kindern,
unseren Enkeln und Urenkeln, denen wir solch eine Erbschaft
hinterlassen“.[9] [1] Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 2. Juni 2010.
[2] Detaillierte Auflistung bei IHH, Flotilla Campaign Summary Report
Palestine our Route Humanitarian Aid our Load, June 2010, S. 12.
[3] So IHH, Summary Report, S. 19, 21.
[4] Vgl. Richard Lightbown, The Israeli raid of the Freedom Flotilla
31 May 2010, A review of media resources, 28. Juni 2010, S. 10.
[5] Vgl. Richard Lightbown, op. Cit. S. 11, 12.
[6] Vgl. „Über den israelischen Angriff auf die Gaza-Hilfsflottille –
Bericht der Untersuchungskommission der Vereinten Nationen“,
Melzer-Verlag, Frankfurt am Main 2010, 112 Seiten, 9,99 Euro. Mit
Vorworten von Henning Mankell, Norman Paech, Annette Groth und Inge
Höger und einem Völkerrechtsgutachten von Norman Paech.
[7] Generalbundesanwalt, 30. September 2014.
[8] https://en.wikipedia.org/wiki/Dov_Yermiya
[9] https://www.jungewelt.de/artikel/146664.grenzenlose-schande.html,
vom 29. Juni 2010.
--
Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
Center for Encounter and active Non-Violence
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