[E-rundbrief] Info 1505 - L. Boff: Gesellschaft der Müdigkeit
Matthias Reichl
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Di Feb 23 11:12:27 CET 2016
E-Rundbrief - Info 1505 - Leonardo Boff (BR): Die Gesellschaft der
Müdigkeit und der sozialen Verdrossenheit - Beispiele Brasilien u.a.
Bad Ischl, 23.2.2016
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
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Die Gesellschaft der Müdigkeit und der sozialen Verdrossenheit
Von Leonardo Boff (Brasilien)
27.01.2016
Über die Müdigkeitsgesellschaft wird in aller Welt gesprochen. Zuerst
sprach der Koreaner Byung-Chul Han darüber, der in Berlin Philosophie
lehrt. Sein Buch, das denselben Titel trägt, wurde 2015 im
Vozes-Verlag in Brasilien veröffentlicht. Seine Analyse ist nicht
immer einleuchtend und auch diskutabel, wenn er z. B. behauptet, dass
"fundamentale Müdigkeit mit einer gewissen Fähigkeit einhergeht "zu
inspirieren und den Geist aufwallen zu lassen" (s. S. 73). Abgesehen
von den Theorien leben wir in der Tat in einer Gesellschaft der
Müdigkeit. In Brasilien leiden wir neben Müdigkeit auch unter einer
schrecklichen Niedergeschlagenheit und Verdrossenheit. Lasst uns
zuerst über die Gesellschaft der Müdigkeit nachdenken. Gewiss bewirken
in uns, wie die Autoren sagen, vor allem die Beschleunigung des
historischen Prozesses der Stimuli und Kommunikationsmodi,
insbesondere durch kommerzielles Marketing, Mobiltelefonen mit all
ihren Apps, die pausenlose Informationsflut, die wir durch die
sozialen Medien empfangen, neuronale Krankheiten: Depressionen,
Konzentrationsprobleme und das Syndrom der Hyperaktivität. In der Tat
sind wir abends gestresst und antriebslos. Wir schlafen nicht gut,
sind erschöpft.
Dazu gesellt sich der neoliberale Produktionsrhythmus, der den
Arbeitern weltweit auferlegt wird. Insbesondere der nordamerikanische
Stil verlangt von jedem die größtmögliche Produktivität. Dies ist auch
die allgemeine Regel unter uns. Solche Erwartungen bringen Menschen
aus dem emotionalen Gleichgewicht, verursachen Irritationen und
permanente Angstzustände. Die Anzahl der Selbstmorde ist erschreckend.
Wie ich bereits zuvor erwähnte, hat sich die 1968er
Revolutionsbewegung radikalisiert und wiederbelebt. Damals hieß es
"Bus, Arbeit, Bett". Nun sagt man "Bus, Arbeit Grab". Das heißt:
fatale Krankheiten, Verlust des Lebenssinns und wahre psychische
Störungen.
Lasst uns beim Beispiel Brasilien bleiben. Eine allgemeine Entmutigung
hat sich in den letzten Monaten unter uns ausgebreitet. Die
Wahlkampagne, die mit großer verbaler Virulenz, Beschuldigungen und
Vorspiegelungen falscher Tatsachen ausgetragen wurde, und die
Tatsache, dass der Sieg der Arbeiterpartei (PT) nicht akzeptiert
wurde, löste in der Opposition das Verlangen nach Rache aus.
Geheiligte Prinzipien der PT wurden durch Korruption in höchstem Grade
verraten, was zu einer tiefen Desillusion führte. Dies steht im
Widerspruch zu unseren guten Gewohnheiten. Die Sprache kannibalisierte
sich. Vorurteile gegenüber den Mitbürgern aus den nördlichen
Landesteilen und das Herabwürdigen der schwarzen Bevölkerung traten
zutage. Wir können, wie Sergio Buarque de Holanda sagt, auch im
negativen Sinne herzlich sein: wir können agieren aus einem mit Wut
erfüllten Herzen, mit Hass und voller Vorurteile. Die Situation
verschlimmerte sich immer mehr bis hin zur Drohung eines
Amtsenthebungsverfahrens gegen Präsidentin Dilma Roussef aus unklaren
und fragwürdigen Gründen.
Nicht in der Theorie, sondern in der Praxis haben wir erlebt, dass
unter uns ein wahrer Klassenkampf besteht. Die Interessen der
privilegierten Klassen stehen im Widerspruch zu den verarmten Klassen.
Die reichen, traditionell hegemonischen, Klassen fürchten die
Inklusion der Armen und den Aufstieg anderer Teile der Gesellschaft,
welche inzwischen begannen, Plätze für sich zu beanspruchen, die
bisher nur den Reichen vorbehalten waren. Wir müssen erkennen, dass
weltweit gesehen Brasilien eines der Länder mit der größten
Ungleichheit ist. In Brasilien gibt es mehr soziale Ungerechtigkeit,
Gewalt breitet sich aus, und die Anzahl der Morde entspricht der der
Toten im Irakkrieg. Und zahlreiche Arbeiter leben unter Bedingungen,
die der Sklaverei gleichkommen.
Ein Großteil dieser Kriminellen gibt vor, Christen zu sein: Christen,
die andere Christen quälen, die aus dem Christentum statt eines
Glaubens eine kulturelle Einstellung machen, etwas Lächerliches und
wahrhaft Gotteslästerliches.
Wie können wir dieser menschlichen Hölle entrinnen? Unsere Demokratie
beruht nur auf Wahlen. Sie repräsentiert nicht das Volk, sondern die
Interessen derer, die die politischen Kampagnen finanzieren. Daher ist
unsere Demokratie bloße Fassade oder bestenfalls eine Demokratie auf
sehr niedrigem Niveau. Von den Spitzengremien haben wir nichts zu
erhoffen, denn unter uns hat sich ein weltumspannender wilder
Kapitalismus ausgebreitet, der jegliche Kräftebündelung unter den
Klassen zerstört.
Ich sehe einen möglichen Ausweg, der von einem anderen sozialen Ort
kommt, und zwar von denen, die von unten kommen, von der organisierten
Gesellschaft und den sozialen Bewegungen, die einen anderen Ethos
besitzen und einen Traum für Brasilien und die Welt haben. Doch die
Menschen müssen sich bilden und sich organisieren. Sie müssen Druck
auf die beherrschenden Klassen und auf den patriarchalen Staat
ausüben, und sie müssen darauf vorbereitet sein, ein alternatives
Gesellschaftsmodell zu unterbreiten, das noch nicht ausprobiert wurde,
doch dessen Wurzeln sich in der Vergangenheit befinden, als sie für
ein anderes Brasilien kämpften, das seinen eigenen Weg geht. Von da
aus müssen wir einen neuen Sozialpakt formulieren, durch eine
ökologisch-soziale Konstitution, die das Ergebnis einer inklusiven
konstitutionellen Versammlung ist, eine radikale politische Reform,
eine konsistente agrarische und urbane Reform sowie die Schaffung
eines neuen Bildungsmodells und eines sozialen Gesundheitsservice. Ein
ungebildetes und krankes Volk wird niemals in der Lage sein, eine neue
und lebbare Bio-Zivilisation in den Tropen zu gründen.
Dieser Traum kann uns herausreißen aus der sozialen Müdigkeit und
Verdrossenheit und uns die nötige Energie zurückgeben, um den
Verbänden der Konservativen entgegenzutreten und die gut begründete
Hoffnung hervorzulocken, dass nicht alles völlig verloren ist, dass
wir eine historische Aufgabe für uns selbst zu erfüllen haben, für
unsere Nachkommen und für die ganze Menschheit. Ist dies eine Utopie?
Ja, wie Oscar Wilde zu sagen pflegte: "Wenn Utopia nicht auf unserer
Landkarte verzeichnet ist, sucht es nicht, denn es verbirgt vor uns,
was am Wichtigsten ist." Aus dem gegenwärtigen Chaos muss etwas Gutes
und Hoffnungsvolles entstehen, denn dies ist die Lektion, die der
kosmische Prozess uns in der Vergangenheit erteilte und uns noch heute
erteilt. Anstatt sozialer Verdrossenheit und Müdigkeit werden wir eine
Kultur der Hoffnung und der Freude haben.
Leonardo Boff ist Theologe und Philosoph; Mitglied der Erd-Charta
Kommission
Quelle: Traductina , 27.01.2016, https://traductina.wordpress.com/
http://www.lebenshaus-alb.de/magazin/009627.html
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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
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