[E-rundbrief] Info 1401 - Papst Franziskus zum Treffen der Volksbewegungen

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
Di Jan 27 21:52:36 CET 2015


E-Rundbrief - Info 1401 - Ansprache von Papst Franziskus an die 
Teilnehmer des Internationalen Treffens der Volksbewegungen im 
Vatikan, 28.10.2014.

Bad Ischl, 27.1.2015

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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ANSPRACHE VON PAPST FRANZISKUS
AN DIE TEILNEHMER DES INTERNATIONALEN
TREFFENS DER VOLKSBEWEGUNGEN

Vatikan, Alte Synodenhalle

Dienstag, 28. Oktober 2014

http://w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2014/october/documents/papa-francesco_20141028_incontro-mondiale-movimenti-popolari.html

Nochmals guten Tag,

es freut mich, hier bei euch zu sein, und ich möchte euch etwas 
gestehen: Ich bin noch nie hierher gekommen, bin heute zum ersten Mal 
hier. Wie schon gesagt: Es ist mir eine große Freude, und ich heiße 
euch herzlich willkommen. Danke, dass ihr dieser Einladung, die 
schwerwiegenden sozialen Probleme zu debattieren, mit denen die Welt 
von heute zu kämpfen hat, gefolgt seid – ihr, die ihr am eigenen Leib 
erfahrt, was es heißt, Opfer von Ungleichheit und Ausgrenzung zu sein. 
Ich danke Kardinal Turkson für seine Gastfreundschaft: vielen Dank, 
Eminenz, für Ihre Arbeit und für Ihre Worte.

Diese Begegnung der Volksbewegungen ist ein Zeichen, ein wichtiges 
Zeichen: Ihr seid gekommen, um vor Gott, vor der Kirche, vor den 
Völkern, Zeugnis abzulegen für eine Realität, die man oft mit dem 
Mantel des Schweigens bedeckt. Die Armen erfahren die Ungerechtigkeit 
nicht nur am eigenen Leib, sie bekämpfen sie auch! Sie geben sich 
nicht mit illusorischen Versprechungen, Ausreden oder Alibis 
zufrieden. Sie verlassen sich nicht auf die Hilfe der NGOs, auf 
Hilfspläne oder Lösungen, die nie kommen oder die – sollten sie doch 
kommen – letztendlich nur in eine Richtung gehen: zu betäuben oder zu 
kontrollieren. Das ist ziemlich gefährlich. Ihr hört, dass die Armen 
nicht mehr warten, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen 
wollen; sie organisieren sich, sie lernen, arbeiten, sie fordern – ja 
praktizieren – jene so besondere Solidarität, die leidende Menschen 
zusammenschweißt – arme Menschen –, und die unsere Zivilisation zu 
vergessen haben scheint, bzw. nur allzu gern vergessen möchte.

Solidarität ist ein Wort, das nicht immer gefällt; ja, ich würde 
sagen, wir haben es manchmal sogar zu einer Art Schimpfwort gemacht, 
das man besser nicht in den Mund nimmt. Aber es ist ein Wort, das sehr 
viel mehr bedeutet als einige sporadische Gesten der Großzügigkeit. Es 
bedeutet, dass man im Sinne der Gemeinschaft denkt und handelt, dass 
man dem Leben aller Vorrang einräumt – und nicht der Aneignung der 
Güter durch einige wenige. Es bedeutet auch, dass man gegen die 
strukturellen Ursachen der Armut kämpft: Ungleichheit, das Fehlen von 
Arbeit, Boden und Wohnung, die Verweigerung der sozialen Rechte und 
der Arbeitsrechte. Es bedeutet, dass man gegen die zerstörerischen 
Auswirkungen der Herrschaft des Geldes kämpft: die Zwangsumsiedlungen, 
die schmerzlichen Emigrationen, den Menschenhandel, Drogen, Krieg, 
Gewalt und all jene Realitäten, unter denen viele von euch zu leiden 
haben und die wir alle zu ändern gerufen sind. Die Solidarität, 
verstanden in ihrem tiefsten Sinne, ist eine Art und Weise, Geschichte 
zu machen, und genau das ist es, was die Volksbewegungen tun.

Unsere heutige Begegnung hat nichts mit einer Ideologie zu tun. Ihr 
arbeitet nicht mit Ideen, ihr arbeitet mit Realitäten wie jenen, die 
ich erwähnt habe, und vielen anderen, von denen ihr mir erzählt habt. 
Ihr steckt mit den Füßen im Schlamm und habt die Hände im Fleisch. Ihr 
riecht nach Viertel, nach Volk, nach Kampf! Normalerweise schenkt man 
eurer Stimme wenig Gehör – vielleicht, weil sie stört, vielleicht weil 
euer Aufschrei lästig ist oder die von euch geforderte Veränderung 
Angst macht. Doch ohne eure Präsenz, ohne wirklich in die Peripherien 
zu gehen, bleiben alle guten Vorschläge, alle Pläne, von denen wir bei 
internationalen Tagungen so oft hören, nur leere Worte. Wir wollen, 
dass man eure Stimme hört. Das ist mein Plan.

Der Skandal der Armut lässt sich nicht vermeiden, indem man 
Verharmlosungsstrategien betreibt, die letztendlich nur dazu gut sind, 
die Gemüter zu beruhigen und die Armen zu gut kontrollierten, 
harmlosen Wesen zu machen. Wie traurig ist es doch, zuzusehen, wie 
andere unter dem Schutzmantel vermeintlich altruistischer Werke zur 
Passivität verurteilt, ja verleugnet werden, oder dass sich – und das 
ist noch schlimmer – dahinter in Wahrheit persönliche Interessen und 
Ambitionen verbergen: Jesus würde sie als heuchlerisch bezeichnen. Und 
wie schön ist es dagegen doch, zu sehen, wie Völker, und vor allem 
ihre ärmsten Mitglieder und die jungen Menschen, in Bewegung sind. 
Dann ja, dann spürt man ihn tatsächlich, den belebenden Windhauch, der 
die Hoffnung auf eine bessere Welt verheißt. Möge dieser Windhauch zu 
einem Hurrikan der Hoffnung werden! Das ist mein Wunsch.

Unserer heutigen Begegnung liegt eine sehr konkrete Sehnsucht 
zugrunde, etwas, das jeder Vater, jede Mutter für die eigenen Kinder 
will; etwas, das eigentlich allen zugänglich sein müsste, aber – wie 
wir heute traurigerweise sehen – für viele Menschen in weite Ferne 
gerückt ist: Boden, Wohnung und Arbeit. Es ist schon merkwürdig, aber 
wenn ich davon rede, halten manche den Papst für einen Kommunisten. 
Man versteht nicht, dass die Liebe zu den Armen im Zentrum des 
Evangeliums steht. Boden, Wohnung und Arbeit – das, wofür ihr kämpft, 
sind sakrosankte Rechte. Das zu fordern, ist keineswegs merkwürdig: es 
entspricht der Soziallehre der Kirche. Ich möchte nun auf jedes dieser 
Rechte kurz eingehen, weil ihr sie als Motto für diese Begegnung 
gewählt habt.

Boden. Am Anfang der Schöpfung hat Gott den Menschen zum Hüter seines 
Werkes gemacht und ihm die Aufgabe anvertraut, es zu bearbeiten und zu 
bewahren. Ich sehe hier Dutzende von Bauern und Bäuerinnen, und ich 
danke ihnen und freue mich, dass sie den Boden bewahren, dass sie ihn 
bebauen und dass sie das in Gemeinschaft tun. Die Entwurzelung vieler 
unserer Brüder und Schwestern, die Bauern sind, und die gerade 
deswegen leiden, und nicht wegen der Kriege oder Naturkatastrophen, 
macht mir Sorgen. Der Aufkauf von Boden, das Abholzen der Wälder, die 
Aneignung des Wassers, die unangemessenen Pestizide sind einige der 
Übel, die den Menschen von seinem Heimatboden vertreiben. Diese 
schmerzliche Trennung ist nicht nur physischer, sondern auch 
existenzieller und spiritueller Art, weil es eine Beziehung zum Boden 
gibt, die die Bauern und ihren besonderen Lebensstil immer mehr der 
Dekadenz preisgibt, ja sie vielleicht sogar zum Aussterben verurteilt.
Die andere Seite dieses Prozesses, der bereits globale Ausmaße 
angenommen hat, ist der Hunger. Wenn die Finanzspekulation den Preis 
für Lebensmittel bestimmt und diese als x-beliebige Ware betrachtet, 
dann müssen Millionen von Menschen darunter leiden und verhungern. Auf 
der anderen Seite werden Tonnen von Lebensmitteln weggeworfen. Das ist 
ein Skandal! Andere hungern zu lassen, ist ein Verbrechen; Ernährung 
ein unveräußerliches Recht! Ich weiß, dass manche von euch eine 
Agrarreform fordern, um einige dieser Probleme zu lösen, und lasst 
mich sagen, dass die Agrarreform in einigen Ländern – und hier zitiere 
ich das Kompendium der kirchlichen Soziallehre –»somit nicht nur zu 
einer politischen Notwendigkeit, sondern zu einer moralischen 
Verpflichtung wird« (KSLK 300). Das sage nicht nur ich – es steht im 
Kompendium der Soziallehre der Kirche! Ich bitte euch also: Kämpft 
weiter für die Würde der Bauernfamilien, für das Recht auf Wasser, auf 
Leben – und dafür, dass alle in den Genuss der Früchte der Erde kommen 
können!

Zweitens, Wohnung. Ich habe es bereits gesagt, und ich wiederhole es: 
Jede Familie braucht eine Wohnung. Wir dürfen nicht vergessen, dass 
Jesus in einem Stall geboren wurde, weil in den Herbergen kein Platz 
war; dass seine Familie ihr Heim verlassen und, von Herodes verfolgt, 
nach Ägypten fliehen musste. Es gibt heute viele Familien, die keine 
Wohnung haben – weil sie sie nie hatten oder sie vielleicht aus dem 
ein oder anderen Grund verloren haben. Wohnung und Familie gehören 
zusammen! Aber ein Dach über dem Kopf reicht nicht. Damit daraus ein 
wirkliches Heim wird, muss es auch eine Gemeinschaftsdimension haben: 
das Viertel. Und gerade hier, im Viertel, wird mit dem Bau dieser 
großen Menschheitsfamilie begonnen, ausgehend von dem, was das 
Naheliegendste ist: das Zusammenleben mit der Nachbarschaft. Heute 
leben wir in großen Städten, die sich modern, stolz, ja sogar 
hochmütig zeigen. Städten, die einer glücklichen Minderheit zahllose 
Vergnügungen und Wohlstand bieten, aber Tausenden unserer Nachbarn, 
Brüdern und Schwestern, ja auch Kindern, eine Wohnung verwehren – 
Menschen, die –wie man so schön sagt – »ohne festen Wohnsitz sind«. Es 
ist schon seltsam, wie sehr die Euphemismen in einer Welt voller 
Ungerechtigkeit überhand nehmen! Man nennt die Dinge nicht beim Namen, 
sondern sucht die Realität im Euphemismus. Ein Mensch, der ausgegrenzt 
ist, beiseite geschoben; ein Mensch, der Not und Hunger leidet, ist 
ein Mensch ohne festen Wohnsitz – eine elegante Umschreibung, oder? 
Doch seid auf der Hut: Ich mag mich ja in dem ein oder anderen Fall 
auch irren, doch normalerweise steckt hinter einem Euphemismus immer 
ein Verbrechen!

Wir leben in Städten, die Türme und Einkaufszentren bauen, in denen 
Immobiliengeschäfte gemacht werden, während ein Teil von ihnen am 
Rand, in der Peripherie, im Stich gelassen wird. Wie weh tut es doch 
zu hören, dass Armenviertel ausgegrenzt sind oder – schlimmer noch – 
dass man sie auslöschen will! Wie grausam sind doch die Bilder der 
Zwangsräumungen, der Kräne, die die Baracken abreißen – Bilder, die so 
sehr an die Bilder des Krieges erinnern! Und genau das erleben wir 
heute. Dabei müsst ihr wissen, dass es in den Arbeitervierteln, in 
denen viele von euch leben, noch Werte gibt, die man in den Siedlungen 
der Reichen längst vergessen hat. Diese einfachen Viertel sind mit 
einer reichen Volkskultur gesegnet. In ihnen ist der öffentliche Raum 
nicht nur ein Durchgangsweg, sondern eine Erweiterung des eigenen 
Heims, ein Ort, an dem man Beziehungen zur Nachbarschaft anknüpfen 
kann. Wie schön sind doch Städte, die das ungesunde Misstrauen 
überwinden und die Menschen, die anders sind, integrieren. Städte, die 
diese Integration zu einem neuen Entwicklungsfaktor machen! Wie schön 
sind doch Städte, die auch in ihrer architektonischen Struktur voller 
Räume sind, die vereinen, Verbindungen schaffen und die Anerkennung 
des anderen begünstigen! Und daher gilt: keine Entwurzelung und keine 
Ausgrenzung! Wir müssen der Linie der städtischen Integration folgen! 
Dieses Wort muss das Wort Entwurzelung ersetzen, und zwar auch in 
jenen Projekten, die den Armenvierteln einen neuen Anstrich geben, die 
Peripherie verschönern, die sozialen Wunden »wegschminken« wollen, 
anstatt sie zu heilen, indem man eine wahre und respektvolle 
Integration vorantreibt. Oder ist diese Art von Architektur etwa nicht 
nur Fassade? In diese Richtung geht es jedenfalls. Arbeiten wir also 
weiter daran, allen Familien eine Wohnung, und allen Vierteln eine 
angemessene Infrastruktur zu geben (Kanalisierung, Licht, Gas, 
Asphalt), und – ich kann es nicht oft genug sagen –: Schulen, 
Krankenhäuser, Notaufnahmen, Sportzentren, und alles, was Bindungen 
schafft und vereint, Zugang zu ärztlicher Betreuung – das habe ich 
bereits gesagt – wie auch zu Bildung und Sicherheit des Eigentums.

Drittens, Arbeit. Es gibt keine schlimmere materielle Armut – das 
möchte ich hier noch einmal ganz deutlich betonen – als jene, die es 
dem Menschen verwehrt, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen und 
ihn der Würde der Arbeit beraubt. Die Jugendarbeitslosigkeit, die 
Informalität und das Fehlen von Arbeitsrechten sind nicht 
unvermeidlich – sie sind das Ergebnis einer vorherigen sozialen 
Entscheidung, eines Wirtschaftssystems, das den Nutzen über den 
Menschen stellt, wenn der Nutzen wirtschaftlicher Art ist, über die 
Menschlichkeit oder über den Menschen. Sie sind das Ergebnis einer 
Wegwerfkultur, die den Menschen als solchen als Konsumgut betrachtet, 
das man benutzen und dann wegwerfen kann. Zum Phänomen der Ausbeutung 
und der Unterdrückung kommt heute noch eine neue Dimension hinzu, eine 
harte und graphische Nuance der sozialen Ungerechtigkeit. Wer sich 
nicht integrieren kann, die Ausgeschlossenen, ist Ausschussware, 
»Überschuss«. Das ist die Wegwerfkultur, und zu diesem Punkt möchte 
ich noch etwas anfügen, das hier nicht geschrieben steht, mir aber 
gerade in den Sinn kommt: das passiert, wenn im Zentrum eines 
Wirtschaftssystems der Götze Geld steht und nicht der Mensch, die 
menschliche Person, Ebenbild Gottes, geschaffen, um Herr des 
Universums zu sein. Wenn die Person beiseite geschoben wird und der 
Götze Geld ins Spiel kommt, dann werden die Werte über den Haufen 
geworfen.

Lasst mich das anhand einer Lehre aus dem Jahr 1200 veranschaulichen. 
Ein jüdischer Rabbiner erklärte seinen Gläubigen die Geschichte des 
Turmbaus zu Babel und erzählte ihnen, dass es, um den Turm zu bauen, 
großer Anstrengungen bedurfte, dass man für die Ziegel zunächst einmal 
Schlamm und Stroh brauchte; dass man den Schlamm mit dem Stroh 
vermischen, die Masse in Quader schneiden; diese dann trocknen und 
brennen musste, und dass man die Ziegel, nachdem man sie gebrannt und 
abgekühlt hatte, zu der Baustelle bringen musste, an der der Turm 
entstehen sollte. Wenn ein Ziegel herunterfiel, dann war das – in 
Anbetracht dessen, wie viel er dank dieser vielen Arbeit gekostet 
hatte – fast schon eine Tragödie von nationalem Ausmaß. Derjenige, der 
ihn hatte fallen lassen, wurde bestraft, fortgejagt, oder man machte 
sonst etwas mit ihm. Wenn aber ein Arbeiter herunterfiel, dann 
passierte gar nichts. Genau das geschieht, wenn ein Mensch im Dienst 
des Götzen Geld steht! Und diese Geschichte hat ein jüdischer Rabbiner 
im Jahr 1200 anhand all dieser schrecklichen Dinge erzählt.

Was das Wegwerfen angeht, müssen wir ein bisschen mehr darauf achten, 
was in unserer Gesellschaft vor sich geht. Ich wiederhole hier Dinge, 
die ich schon gesagt habe und die auch in Evangelii gaudium stehen. 
Heute »sondert« man die Kinder »aus«, weil die Geburtenrate in vielen 
Ländern der Welt zurückgegangen ist; man »sondert sie aus« aus Mangel 
an Essen oder weil man sie umbringt noch bevor sie geboren wurden; 
ausgesonderte Kinder. Man »sondert« die alten Menschen »aus«, weil sie 
keinen Nutzen haben, nichts produzieren. Kinder und alte Menschen 
produzieren nichts, und deshalb schiebt man sie mit mehr oder weniger 
raffinierten Systemen langsam immer mehr beiseite. Und weil es in 
dieser Krise eines gewissen Gleichgewichts bedarf, erleben wir nun 
auch noch eine dritte schmerzliche »Aussonderung «: die der jungen 
Menschen. Millionen junger Menschen – ich kenne die genaue Zahl nicht 
und die, die ich gelesen habe, kommt mir etwas übertrieben vor – 
Millionen von jungen Menschen sind aus der Welt der Arbeit 
ausgeschlossen, arbeitslos.

In den europäischen Ländern, und das sind sehr klare Statistiken – 
hier in Italien –, beträgt die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen ein 
bisschen mehr als 40 Prozent. Wisst ihr, was das bedeutet? 40 Prozent 
der Jugendlichen, eine ganze Generation, eine ganze Generation zu 
zerstören, um das Gleichgewicht aufrecht zu erhalten! In einem anderen 
europäischen Land sind es schon mehr als 50 Prozent, und im Süden 
dieses Landes sogar 60 Prozent. Das sind klare Zahlen, »Zahlen der 
Ausgrenzung«. Ausgegrenzte Kinder, ausgesonderte alte Menschen, die 
nichts produzieren, und wir müssen eine Generation junger Menschen 
opfern – ausgegrenzte junge Menschen –, um ein System zu erhalten und 
auszugleichen, das sich um den Götzen Geld dreht und nicht um die 
menschliche Person.

Trotz dieser Wegwerfkultur, dieser Kultur des Überschusses, haben sich 
viele von euch – ausgeschlossene Arbeiter –, die für dieses System 
»Ausschussware« sind, Arbeit geschaffen, indem sie auf alles 
zurückgegriffen haben, was man scheinbar nicht mehr benützen kann – 
und das ist euch geglückt, dank eures handwerklichen Geschicks, das 
euch Gott gegeben hat, dank eures Einfallsreichtums, eurer 
Solidarität, eurer gemeinschaftlichen Arbeit, eurer volksnahen 
Wirtschaft. Es ist euch geglückt und es glückt euch weiter… Und lasst 
euch gesagt sein: Das ist für mich nicht nur Arbeit, es ist Poesie! 
Danke. Schon heute hat jeder Arbeiter, ganz gleich, ob er Teil des 
formalen Systems der Gehaltsempfänger ist oder nicht, ein Recht auf 
eine würdige Entlohnung, soziale Sicherheit und eine Rente.

Hier sind die cartoneros, Recycler, Straßenverkäufer, Schneider, 
Handwerker, Fischer, Bauern, Maurer, Bergarbeiter, Arbeiter der 
»empresas recuperadas « [vor dem Bankrott stehende Unternehmen, deren 
Leitung die Arbeiter selbst übernommen haben, um die Schließung 
abzuwenden], Mitglieder von Genossenschaften jeder Art und Personen, 
die die gewöhnlichsten Arbeiten verrichten, die ausgeschlossen sind 
von den Arbeitsrechten, denen die Möglichkeit verwehrt wird, eine 
Gewerkschaft zu haben, die kein angemessenes festes Einkommen haben. 
Heute will ich meine Stimme mit der ihren vereinen und sie in ihrem 
Kampf begleiten.

Bei unserer heutigen Begegnung habt ihr auch von Frieden und Ökologie 
gesprochen. Das ist logisch: Es kann keinen Boden, keine Wohnung 
geben, es kann keine Arbeit geben, wenn wir keinen Frieden haben und 
unseren Planeten zerstören. Diese Themen sind so wichtig, dass sich 
ihnen die Völker und ihre Grundorganisationen nicht entziehen können. 
Sie können nicht den Politikern allein überlassen bleiben. Alle Völker 
der Erde, alle Männer und Frauen guten Willens, wir alle, müssen 
unsere Stimme erheben zur Verteidigung dieser zwei wertvollen Gaben: 
Frieden und Natur. Schwester Erde, wie sie Franz von Assisi nannte.

Vor kurzem habe ich gesagt, und ich wiederhole es, dass wir den 
Dritten Weltkrieg erleben, aber stückchenweise. Es gibt 
Wirtschaftssysteme, die nur dann überleben können, wenn Krieg geführt 
wird. So stellt man Waffen her und verkauft sie, und so können die 
Bilanzen der Wirtschaftssysteme, die den Menschen dem Götzen Geld 
opfern, natürlich saniert werden. Aber dabei denkt man nicht an die 
hungrigen Kinder in den Flüchtlingslagern, man denkt nicht an die 
Zwangsumsiedlungen, man denkt nicht an die zerstörten Häuser, ja, man 
denkt auch nicht an die vielen Leben, die zerbrochen sind. Wie viel 
Leid, wie viel Zerstörung, wie viel Schmerz! Heute, liebe Brüder und 
Schwestern, erhebt sich in allen Teilen der Welt, in jedem Volk, aus 
jedem Herzen und in den Volksbewegungen der Friedensruf: Nie wieder Krieg!

Ein Wirtschaftssystem, in dem sich alles um den Götzen Geld dreht, 
muss auch die Natur ausbeuten; es muss die Natur ausbeuten, um den 
frenetischen Rhythmus des Konsums, der ihm eigen ist, aufrechterhalten 
zu können. Der Klimawandel, der Verlust der biologischen Vielfalt, die 
Abholzung der Wälder haben in den großen Katastrophen, deren Zeugen 
wir sind, bereits ihre Auswirkungen gezeigt. Und die, die am meisten 
darunter leiden, seid ihr, die einfachen Menschen, die in prekären 
Behausungen an den Küsten leben oder wirtschaftlich so wenig 
abgesichert sind, dass sie bei einer Naturkatastrophe alles verlieren. 
Brüder und Schwestern: Die Schöpfung ist kein Besitz, über den wir 
nach freiem Gutdünken verfügen können; und ebenso wenig ist sie das 
Eigentum einiger weniger. Die Schöpfung ist ein Geschenk, ein 
wunderbares Geschenk, das Gott unserer Sorge anvertraut hat, damit wir 
es zum Wohl aller nutzen, stets mit Respekt und Dankbarkeit. 
Vielleicht wisst ihr, dass ich an einer Enzyklika über Ökologie 
arbeite: Seid versichert, dass eure Sorgen darin Niederschlag finden 
werden. Bei dieser Gelegenheit bedanke ich mich auch für den Brief, 
den mir die Mitglieder der Vía Campesina, die Föderation der 
Cartoneros und viele andere Brüder und Schwestern zu diesem Thema 
zukommen ließen.

Wir sprechen von Boden, Arbeit, Wohnung. Wir sprechen davon, für den 
Frieden zu arbeiten und uns der Natur anzunehmen. Warum gewöhnen wir 
uns dann aber daran zuzusehen, wie die würdevolle Arbeit zerstört 
wird, wie viele Familien aus ihren Häusern geworfen, Bauern 
vertrieben, Krieg geführt und die Natur ausgebeutet wird? Warum ist 
der Mensch, die menschliche Person, aus dem Zentrum gerückt und von 
einer anderen Sache ersetzt worden? Weil man mit dem Geld Götzenkult 
betreibt! Weil man die Gleichgültigkeit globalisiert hat! Ja, man hat 
die Gleichgültigkeit globalisiert: Was kümmert’s mich, was mit den 
anderen geschieht, solange ich nur das verteidige, was mir gehört! 
Weil die Welt Gott vergessen hat, der Vater ist; sie ist Waise 
geworden, weil sie Gott beiseite geschoben hat.

Einige von euch haben gesagt: dieses System ist nicht mehr zu 
ertragen. Wir müssen es ändern, wir müssen die Menschenwürde wieder in 
den Mittelpunkt stellen. Auf diesem Grundpfeiler müssen die sozialen 
Alternativen erbaut sein, die wir brauchen. Das muss mit Mut 
geschehen, aber auch mit Intelligenz. Mit Beharrlichkeit, aber ohne 
Fanatismus. Mit Leidenschaft, aber ohne Gewalt. Und mit allen 
zusammen, indem wir uns den Konflikten stellen, ohne uns in sie 
hineinziehen zu lassen, und stets versuchen, Spannungen beizulegen, um 
ein größeres Maß an Einheit, Frieden und Gerechtigkeit zu erreichen. 
Wir Christen haben etwas sehr Schönes, eine Handlungsstrategie, ein 
Programm, das – wie wir sagen könnten – revolutionär ist. Ich empfehle 
euch dringend, es zu lesen, die Seligpreisungen zu lesen, die ihr in 
Kapitel 5 bei Matthäus und Kapitel 6 bei Lukas finden könnt (vgl. Mt 
5, 3 und Lk 6, 20), sowie das 25. Kapitel im Matthäusevangelium. Wie 
ich den Jugendlichen in Rio de Janeiro gesagt habe, findet sich in 
diesen beiden Stellen ein Programm für das Handeln.

Ich weiß, dass unter euch Menschen verschiedener Religionen, Berufe, 
Weltanschauungen, Kulturen, Länder und Kontinente sind. Ihr 
praktiziert heute hier die Kultur der Begegnung, die ganz anders ist 
als Fremdenhass, Diskriminierung und Intoleranz, die wir so oft 
erleben. Unter den Ausgeschlossenen kommt es zu dieser Begegnung der 
Kulturen, wo das Zusammensein die Besonderheit nicht aufhebt; ja, das 
Zusammensein hebt die Besonderheit nicht auf. Deswegen gefällt mir 
auch das Bild des Polyeders so gut, eine geometrische Figur mit vielen 
Facetten. Das Polyeder spiegelt den Zusammenfluss von allen 
Besonderheiten wider, die in ihm ihre Originalität bewahren. Nichts 
wird aufgelöst, nichts zerstört, nichts wird beherrscht, alles wird 
integriert; ja, alles wird integriert. Ihr sucht heute auch die 
Synthese zwischen dem Lokalen und dem Globalen. Ich weiß, dass ihr 
jeden Tag an naheliegenden, konkreten Dingen arbeitet, auf eurem 
Territorium, in eurem Viertel, an eurem Arbeitsplatz. Ich lade euch 
ein, auch nach einer weiteren Perspektive zu suchen. Lasst euren 
Träumen freien Lauf, lasst sie das Ganze umfassen!

Daher erscheint mir der Vorschlag wichtig, von dem mir einige von euch 
erzählt haben: dass diese Bewegungen, diese Erfahrungen der 
Solidarität, die von der Basis – sozusagen vom »Untergeschoss « des 
Planeten Erde – ausgehen, zusammenfließen, koordinierter sein und sich 
austauschen sollten, wie ihr es in diesen Tagen getan habt. Aber 
aufgepasst: Es ist niemals gut, die Bewegung in steife Strukturen 
einzuschließen, daher habe ich gesagt: sich austauschen und einander 
begegnen. Und noch weniger gut ist es, die Bewegung absorbieren, 
leiten oder gar beherrschen zu wollen. Freie Bewegungen haben eine 
eigene Dynamik, ja, wir müssen versuchen, einen gemeinsamen Weg zu 
gehen. Wir sind hier in diesem Saal, der alten Synodenaula – es gibt 
ja inzwischen eine neue – und Synode heißt genau das: »gemeinsam 
gehen«. Möge das ein Sinnbild des Prozesses sein, den ihr begonnen 
habt und den ihr auch weiter vorantreibt!
Die Volksbewegungen bringen die dringende Notwendigkeit zum Ausdruck, 
unseren durch viele Faktoren so oft vom Kurs abgebrachten Demokratien 
neues Leben einzuhauchen. Es ist unmöglich, sich eine Zukunft für die 
Gesellschaft vorzustellen, in der die großen Mehrheiten keine 
Protagonisten-Rolle haben, und dieser Protagonismus geht über die 
Verfahrensweisen der formalen Demokratie hinaus. Die Perspektive einer 
Welt des dauerhaften Friedens und der beharrlichen Gerechtigkeit 
verlangt von uns, dass wir die paternalistische Wohlfahrtspolitik 
überwinden; dass wir neue Formen der Teilnahme schaffen, die die 
Volksbewegungen mit einschließen und die lokalen, nationalen und 
internationalen Regierungsstrukturen mit jenem Strom moralischer 
Energie beleben, der der Miteinbeziehung der Ausgeschlossenen in den 
Aufbau unseres gemeinsamen Schicksals entspringt. Und das in einem 
konstruktiven Geist, ohne Groll, aber mit Liebe.

Auf diesem Weg begleite ich euch von ganzem Herzen. Sagen wir 
gemeinsam von ganzem Herzen: keine Familie ohne Wohnung, kein Bauer 
ohne Boden, kein Arbeiter ohne Rechte, kein Mensch ohne die Würde, die 
die Arbeit gibt.

Liebe Brüder und Schwestern: Setzt euren Kampf fort, das ist gut für 
uns alle! Das ist wie ein Segen an Menschlichkeit! Als Erinnerung, als 
Geschenk  und mit meinem Segen habe ich ein paar Rosenkränze für euch, 
die von Kunsthandwerkern, cartoneros und Arbeitern der 
lateinamerikanischen »economía popular« [volksnahe Wirtschaft] 
hergestellt wurden. Und indem ich euch begleite, bete ich für euch, 
mit euch, und bitte Gott, unseren Vater, euch zu begleiten und zu 
segnen; euch mit seiner Liebe zu erfüllen und auf eurem Weg zu 
begleiten, indem er euch jene Kraft in Fülle schenkt, die uns auf den 
Beinen hält: und jene Kraft ist die Hoffnung, die Hoffnung, die nicht 
trügt. Danke.

-- 

Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
Center for Encounter and active Non-Violence
Wolfgangerstr. 26, A-4820 Bad Ischl, Austria,
fon: +43 6132 24590, Informationen/ informations,
Impressum in: http://www.begegnungszentrum.at
Spenden-Konto Nr. 0600-970305 (Blz. 20314) Sparkasse Salzkammergut,
Geschäftsstelle Pfandl
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