[E-rundbrief] Info 989 - Gazas Kinder Opfer von Israels Gewalt

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
Di Feb 15 13:05:47 CET 2011


E-Rundbrief - Info 989 - Vera Macht (Gaza/ Palästina): Ich habe nur
euch. Gaza's vergessene Kinder. (Opfer israelischer Militäraktionen
und Blockaden.)

Bad Ischl, 15.2.2011

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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ICH HABE NUR NOCH EUCH

von VERA MACHT

„Ich habe nur noch euch, an die ich mich wenden kann. Von jetzt an
hängen meine Kinder von euch ab“, ist die verzweifelte Forderung eines
Mannes, der keinen Ausweg mehr sieht für sich und seine Kinder, und
die wir ISM-Mitglieder (International Solidarity Movement M.R.),
die nach seinem Anruf gekommen sind, hilflos schweigend
entgegennehmen. Es ist nicht das erste Mal, dass wir diese Familie
besuchen, und jedes Mal fahren wir bestürzter nach Hause.

Es war am 14. Juli 2010, als wir das letzte Mal da waren, am Tag
nachdem seine Frau starb. Ermordet wurde, anders kann man es nicht
nennen. Nasser Jabr Abu Said lebt in Johr al-Dik, 350 Meter entfernt
von der Grenze zu Israel. Am Abend des 13. Juli war Nassers Ehefrau
mit zwei weiteren Frauen aus der Familie und den Kindern im Garten,
als die Familie von einem nahen Panzer mit Artilleriegranaten
beschossen wurde. Mit Flachettebomben, die in der Luft explodieren,
sodass 5 bis 8000 Nägel aus ihnen herausschießen, die in einem Radius
von 300 mal 100 Metern alles durchspießen. Eine illegale Waffe.

Nassers Ehefrau blieb unverletzt, doch die Schulter der Schwester
Nassers wurde durchbohrt, sowie das Bein der dritten Frau, Sanaa Ahmed
Abu Said, 26. Die Familie suchte Schutz im Haus, der heran gerufene
Krankenwagen wurde von Maschinengewehrschüssen der nahen israelischen
Soldaten vertrieben. Zu diesem Zeitpunkt wurde der 33jährigen Ehefrau
Nassers, Nema Abu Said bewusst, dass das jüngste ihrer Kinder, Nader,
noch im Garten schlief. Als Nema nach draußen lief, um diesen in
Sicherheit zu bringen, wurden sie und ihr Schwager von den Nägeln
einer weiteren Flachettebombe durchbohrt. Es dauerte vier endlos lange
Stunden bis der Krankenwagen die Erlaubnis erhielt der Familie zu
helfen, bis dahin war Nema gestorben.

Als wir damals die Familie besuchten, hatte es noch niemand übers Herz
gebracht, Nader zu erklären, dass seine Mutter gestorben war. Er
fragte ständig nach ihr, während wir dort waren. Doch wie erklärt man
so etwas einem dreijährigen Kind?

Doch als wir jetzt kamen, da wussten alle Kinder nur zu gut, was
passiert war. Nasser erklärte uns, dass er nicht länger in dem Haus
wohnen konnte, weil die fast täglichen Panzereinbrüche, Bomben und
Schüsse die angegriffene Psyche der Kinder so belastet hatten, dass
sie jede Nacht schreiend aus Alpträumen aufwachten, das Bett genässt.
UNRWA mietete ihnen eine winzige Wohnung – direkt neben dem Friedhof
auf dem die Mutter begraben liegt. „Meine Kinder waren nicht mehr vom
Grab ihrer Mutter weg zu bekommen. Als es immer häufiger passierte,
das ich auf einmal nachts bemerkte, wie eins der Kinder weg war, und
ich es dann weinend auf dem Friedhof fand, wusste ich, dass ich dort
nicht länger bleiben konnte“, erzählt uns Nasser.

Seine Alternative ist bestürzend. Er hat ein Zelt aufgeschlagen, vom
Roten Kreuz finanziert, wenige hundert Meter von seinem alten Haus
entfernt. Sie brachten ihm auch drei Decken, auf weitere Nachfrage
bekam Nasser die Antwort, sie hätten doch jetzt schon geholfen. UNRWA
gab die Auskunft, dass sie ihm kein neues Haus finanzieren könnten.
Sie würden zwar anerkennen, dass die Gefahr zu groß sei, um im alten
Haus zu bleiben, aber dieses müsste erst zerstört worden sein. Vorher
handeln sie nicht.

In diesem Zelt, inmitten der Regenschauer des Winters, schläft Nasser
nun mit seinen vier Söhnen und seiner Tochter, 3, 5, 8, 9 und 10 Jahre
alt. Auf zwei Matratzen, alle paar Wochen müsste er die alten
Matratzen verbrennen, jede Nacht nässen die Kinder sie ein. Doch für
ausreichend neue fehlt das Geld, genauso wie für ausreichend Decken,
Kleidung und Schuluniformen für die Kinder, und das Geld für ihren
Transport zur Schule. Er traut sich auch nicht, diese zur Schule zu
schicken bevor es hell ist, was bedeutet, dass sie jeden Tag zwei
Schulstunden verpassen. „Sie brauchen dringend psychologische
Betreuung“, sagt Nasser leise, er weiß gar nicht wo er anfangen soll,
als wir ihn fragen, was er am dringendsten bräuchte. Sie hatten
psychologische Betreuung, eine kurze Weile, der Psychologe
diagnostizierte, das sie geistig auf dem Stand geblieben sind, auf dem
sie waren, als ihre Mutter starb.

Als vor ein paar Tagen die Bomben fielen, eine davon in Nähe des
Hauses, weckten die Kinder den Vater schreiend.

Sie brauchen die ununterbrochene Betreuung ihres Vaters, doch das ist
nicht das einzige, was diesen darin hindert, Geld verdienen zu können.
Nasser kann sein Land nicht mehr bewirtschaften, es wurde zu oft platt
gewalzt, es liegt größtenteils in der unerreichbaren Pufferzone, und
ihm fehlen die Mittel, um auf dem Restland überhaupt mit
Landwirtschaft beginnen zu können. Er hat das Geld nicht für Samen, um
etwas an zu pflanzen. „Ich würde gerne wieder Auberginen, Kohl und
Wassermelonen anbauen. Auch Schafe wären eine große Hilfe. Aber mein
Wassersystem ist durch die Bomben komplett zerstört, mir fehlt das
Geld, es wieder aufzubauen.“

„Ich bin ein alter Mann“, sagt Nasser Abu Said, 37 Jahre alt, „auf
mich kommt es nicht mehr an. Aber was ist mit meinen Kindern? Haben
die kein Recht auf Leben, kein Recht darauf in Sicherheit und etwas
Freude aufzuwachsen?“

„Von jetzt an hängen meine Kinder von euch ab“, dieser Satz geht einem
nicht so schnell wieder aus dem Kopf. Und so tue ich das, was in
meiner Macht steht. Ich schreibe darüber. Denn das Unglück Nassers,
das geht uns alle an. Das war kein Schicksal, das war keine
Naturkatastrophe. Vor ein paar Jahren waren Nema und Nasser Abu Said
eine glückliche und zufriedene Familie.

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GAZA´S VERGESSENE KINDER

von VERA MACHT

An einem sonnigen Tag im März 2009 tat Wafaa Jehad Elnagar, jetzt 17
Jahre alt, etwas was Millionen von Kindern an diesem Tag taten, und an
jedem Tag tun: sie ging von der Schule nach Hause. Aber anders als für
andere Kinder auf dieser Welt, die das jeden Tag in Sicherheit tun,
ist für Wafaa der Heimweg eine ernste Gefahr. An diesem Tag, als sie
auf ihrem üblichen Weg nach Hause war, auf einer Straße in Sichtweite
von israelischen Wachtürmen, zielte ein israelischer Scharfschütze auf
ihr Knie und zertrümmerte es für immer.

Wafaa ist eins der 89000 Kinder, die in der Pufferzone leben, und
deren Eltern nie ganz genau wissen, ob und wie sie ihre Kinder
wiedersehen, wenn sie sie morgens zur Schule schicken. Ihr Bruder
wurde während dem Krieg auf dem Weg nach Hause von einem Soldaten
erschossen.

Auf den Zetteln, die von israelischen Militärflugzeugen über den
Häusern in Grenznähe abgeworfen wurden stand, dass unter
Todesandrohung niemand der Grenze näher als 300 Meter kommen dürfe.
Aber da Kugeln normalerweise kein gutes Gefühl für Entfernungen haben,
wird das Gefahrengebiet von der UN auf 500 Meter geschätzt, in der
Realität werden Kinder in weit größerer Entfernung von Kugeln
getroffen. Und wie soll man ein Gebiet meiden, in dem die Schule liegt?

Es gibt 13 Schulen in der Pufferzone, davon eine UNRWA Schule. Diese
sind in sieben Schulgebäuden verteilt. Platz ist rar für Schüler in
Gaza, wo nicht einmal die UN die Einfuhr von ausreichend Baumaterial
gestattet bekommt, um dringend benötigte Schulen zu bauen.

Fast täglich bricht die israelische Armee ins Land des Gazastreifens
ein, um platt zu walzen, was nicht mehr platt zu walzen ist, immer
gefolgt von willkürlichem Schießen in die Umgebung. Die Shuhada Schule
in Khuza’a, im Süden des Gazastreifens, ist das letzte Gebäude vor der
Grenze. Danach folgen wenige hundert Meter karges, plattes Land. „Die
Soldaten in den Panzern haben klare Sicht auf die Schule, es ist
eindeutig, dass das ein Schulgebäude ist. Es ist sogar eine UN-Flagge
auf dem Dach”, sagt die Direktorin der Schule, Myasser Mahmoud
Elsalhy. “Wenn sie hier zu schießen anfangen, dann muss die Schule das
Ziel sein.“ Wir lassen die Kinder dann nicht mehr auf den Pausenhof,
und auch nicht mehr in die oberen Stockwerke der Schule. Oder der
Unterricht fällt ganz aus. Wir können unseren Schülern auch keine
Aktivitäten außerhalb des Stundenplans anbieten, keinen Sport draußen,
keine Feiern. Das wäre alles zu gefährlich.“ Doch die Schule macht das
Beste daraus. So hat sie kürzlich eine Ausstellung abgehalten – mit
all den Kugeln und Bombenteilen die sie allein im letzten Jahr auf dem
Schulgelände gefunden haben.

Fragt man die Schüler, wie es denn so ist, eine Schule zu besuchen,
die täglich unter Beschuss ist, so trifft man erst auf ängstliches
Schweigen, aber fangen die Mädchen einmal an zu sprechen, dann dauert
es nicht lange, bis das erste von ihnen weint. „Wir haben
ununterbrochen Angst“, sagt Heba, ihre noch unverschleierten schwarzen
Haare mit einer blauen Schleife zusammen gebunden, passend zur Farbe
ihrer Schuluniform. „Jedes Mal wenn wir Bomben oder
Artilleriegeschosse hören, verstecken wir uns an einem Platz, wo wir
nichts hören und nichts sehen, und fragen uns, ob der Krieg wieder
angefangen hat. Eines Nachts haben Soldaten unsere Tür eingebrochen,
sind hinein gestürzt, und haben meinen Vater für eine Weile
mitgenommen, wir wissen bis heute nicht warum.“ Und die Lehrerin
erzählt, wie sie eines Tages in eine andere Klasse ging, und die
Schüler auf dem Boden liegend vorfand, die Lehrerin schützend auf
ihnen liegend.

Und sie erzählt, wie eines Morgens im Jahre 2009 die Schüler einer
Klasse nicht schnell genug waren, und ein Junge von dem Splitter einer
Artilleriegranate getroffen wurde, während er an seinem Tisch saß und
schrieb. Der Splitter ging durch seine Nase, ein paar Zentimeter
weiter rechts und er wäre tot gewesen. Der Rettungswagen vom roten
Kreuz kommt nicht bis zur Schule – zu gefährlich für die
Rettungssanitäter, lautet die Anweisung des UNDP Sicherheitsplanes.

Zu gefährlich ist das Gebiet für Rettungswagen, und für Mitarbeiter
internationaler Organisationen, die sich der Grenze laut dem UNDP Plan
nicht mehr als 1000 m nähern dürfen, nicht einmal in gepanzerten
Fahrzeugen. Für Schulkinder scheint die Gegend jedoch nicht zu
gefährlich zu sein. Auf der letzten Bildungskonferenz internationaler
NGOs, die in Gaza stattfand, wurden Schulen in der Pufferzone als
„nicht von Priorität“ bezeichnet, erzählt ein Mitarbeiter von Safe the
Children International. Das ist allerdings das einzige, was er zur
Pufferzone sagen darf. „Ich bedauere es selber sehr, aber zum Thema
Schulen und Kinder in der Pufferzone darf ich mich nicht äußern“,
meint er. „Wir dürfen die Pufferzone nicht betreten, und arbeiten
deshalb auch nicht dort. Mir sind die Hände gebunden.“ Nicht alle
Kinder scheinen einen Anspruch auf Rettung zu haben. Auf Anfrage bei
der UN, die immerhin auch eine Schule dort unterhält, kommt die
gleiche Antwort. Es wird lediglich auf den letzten UN-Bericht zum
Thema verwiesen, bei dem die Probleme von Kindern, die unter diesen
Lebensumständen aufwachsen, allerdings mit keinem Wort erwähnt werden.

Die Direktorin einer anderen Grenzgebietschule in Bait Hanoun, im
Norden Gazas, erzählt wie Organisationen Termine mit ihr ausmachen, um
die Schule zu besuchen, nur um dann im letzten Moment abzusagen. Wegen
einem erneuten Panzereinbruch, wegen fehlgeschlagener Koordination mit
der israelischen Seite, vielleicht wollte sich aber auch einfach
keiner der Mitarbeiter in Gefahr begeben. „Auch UNICEF hat sich
angekündigt, aber noch keiner ist gekommen“, sagt die ältere Frau,
Direktorin einer Schule deren Wände von Kugeln und
Artilleriegeschossen durchsiebt sind. „Wir wollen nur, dass jemand mit
dem israelischen Militär vereinbart, dass während der Schulzeiten um
das Schulgebäude herum nicht geschossen wird, aber niemand tut etwas.“
Sie klingt resigniert.

Und so steht Sabah Aburjela und ihre kleine lokale NGO „Zukunftshaus“
mit ihrer Arbeit als Psychologin für die Kinder von Kuza’as Pufferzone
sehr alleine da. „Die ständige Angst um ihr Leben und ihre Gesundheit,
in der die Kinder in der Pufferzone leben, führt zu schwerwiegenden
psychologischen Problemen“, erklärt sie. „Wenn man dort aufwächst hat
mein keine Kindheit. Man hat keine Normalität, keine Ruhe, und nicht
das elementare Gefühl von Sicherheit, das Kinder unbedingt brauchen.
Kinder dort haben keine Rechte, kein Recht auf freie Bildung, kein
Recht zum Spielen, nicht einmal das Recht auf Leben. Sie können ihr
Haus nicht verlassen, ohne sich in Lebensgefahr zu begeben.“ Sie
beschreibt Fälle, in denen Kinder beim Spielen in der Nähe ihres
Hauses auf vom israelischen Militär zurückgelassene Artilleriegranaten
stießen. „Sie heben sie auf, ohne zu wissen was es ist, und von der
Explosion werden ihnen die Hände abgerissen, oder es endet sogar
tödlich“, sagt Sabah. „Und nachts hören die Kinder den Lärm der
Kugeln. Die Folge dieser Lebensumstände sind Schlafprobleme,
Depressionen oder Bettnässen, um nur ein paar psychische Erkrankungen
zu nennen. Sie neigen selber zu aggressivem Verhalten untereinander
oder wollen ihr Haus überhaupt nicht mehr verlassen.“

„Wir Kinder hier in der Pufferzone“, sagt Heba, das schwarzhaarige
Mädchen mit der blauen Schleife, „wir tragen unsere Seele ungeschützt
auf unserer Hand“.

Vera Macht lebt und arbeitet seit April 2010 in Gaza. Sie ist
Friedensaktivistin und berichtet über den täglichen Überlebenskampf
der Menschen im Gazastreifen (Vera.Macht [at] uni-jena.de)

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Die untenstehende Bankverbindung ist aus Kostengründen (um Gebühren
für Auslandsüberweisungen zu sparen) das Konto von Vera Macht in
Deutschland. Sie kann von Gaza aus das Geld kostenfrei abheben und an
ISM Gaza weiter leiten. Bitte helfen Sie und unterstützen Sie dadurch
die unglaublich wichtige Arbeit von Vera und ihren Freunden.

Für Ihre Hilfe möchte ich mich, auch im Namen von Vera und ISM Gaza,
schon jetzt ganz herzlich bedanken.

Gabi Weber
aus Freiburg

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Kontodaten
Empfängerin: Vera Macht,
Kontonummer: 2007474881
BLZ: 20130600
Kreditinstitut: Barclays Bank PLC
Verwendungszweck: 4906386296166705 , Spende ISM Gaza
BIC: BARCDEH1
IBAN-Nr.: DE02201306002007474881


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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
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