[E-rundbrief] Info 988 - Aegyptens Revolution und Gazas Isolation

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
Di Feb 15 13:03:06 CET 2011


E-Rundbrief - Info 988 - Vera Macht (Gaza/ Palästina): Der Westen und 
die Revolution. Gaza's ägyptische Hoffnung.

Bad Ischl, 15.2.2011

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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DER WESTEN UND DIE REVOLUTION

von VERA MACHT

(8.2.2011?)

Wir im Westen, wir haben gerne das Gefühl, dass wir die arabische Welt
unter Kontrolle haben. Die Länder dort sind strategisch wichtig,
ölreich, und die Menschen fremdartig, auf eine uns beunruhigende Art
und Weise. Aber sie sind eben hoffentlich weitestgehend unter
Kontrolle, durch diktatorische Regime und politische oder auch mal
militärische Intervention des Westens. Der westliche Diskurs dreht
sich um die Frage, ob der Islam mit Demokratie überhaupt kompatibel
ist, und ob somit auch muslimische Einwanderer in die Gesellschaften
Europas integrierbar sind.

Doch nun ist genau diese auf Unterdrückung stützende Stabilität der
arabischen Welt ins Wanken gekommen. In Tunesien ist der Diktator
bereits gefallen, in Ägypten wackelt der 30 jährige Stuhl Mubaraks
bedrohlich, und auch anderen Diktatoren im arabischen Raum wird mulmig
zumute. Es ist jedoch nicht der heils- und demokratiebringende Westen,
der diese Entwicklung ins Rollen gebracht hat, nein, dieser hat sie
noch nicht einmal vorhersehen können, weshalb auch erstmal kein
westlicher Politiker wusste, wie er reagieren soll.

Es waren die Menschen dieser Länder selber, die genug hatten, von
Unterdrückung, Armut und Diktaturen. Die Millionen von Menschen, die
dort auf die Straßen strömten, sind genau die, deren Religion und
Mentalität Menschen- und Bürgerrechten in einem freien politischen
System gegenüber zu stehen schienen. Millionen von Ägyptern harren nun
seit zwei Wochen auf dem Platz der Befreiung aus, vereint im Kampf für
Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit in ihrem Land. Die nur
vielleicht demokratie-kompatiblen arabischen Muslime riskieren ihr
Leben für ein neues demokratisches System, hunderte von Todesopfern
hat die Revolution bis jetzt gefordert. Muslime bilden Menschenketten
um als menschliche Schutzschilde betende Christen vor Belästigungen zu
bewahren.

Dies alles widerspricht so sehr unserem Bild von der islamischen Welt,
dass es fast etwas beruhigend ist, wenn man den Erfolg der Revolution
auf Medien wie Facebook oder Twitter zurückführen kann, westliche
Medien, die immerhin wir dorthin exportiert haben und jetzt im besten
Sinne der Demokratie genutzt werden. Und wenn man sich fragt, während
man zu Hause auf dem Sofa sitzt, was man als sehr
Demokratie-kompatibler christlicher Bürger denn als letztes
politisches getan hat, im Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit im
eigenen Land, dann fühlt man sich um einiges besser, wenn man bei
Facebook den “teilnehmen” Knopf für den “virtual march of solidarity
with Egypt” gedrückt hat. Schließlich ist das ja schon die halbe
Miete, glaubt man den überschwänglichen Hochrufen auf die
“Facebook-Revolution” und vergisst, dass die auch ohne jeglichen
Internetzugang sehr gut vernetzt weiter gegangen ist.

Denn für eine Revolution braucht es mehr, als einen “gefällt mir”
Knopf auf Facebook zu drücken. Man braucht das nötige Ausmaß an
Verzweiflung über die politische und soziale Lage, vor allem jedoch
Kraft, Mut, und den Glauben an eine bessere Zukunft. Das Internet
spiegelt nur die Realität wieder, es erschafft keine neue. Wo keine
revolutionäre Stimmung ist, schafft auch Facebook keine, selbst wenn
das populäre soziale Netzwerk sehr wohl zur Mobilisierung der Jugend
beigetragen haben mag. Doch um an den Erfolg eines Aufstands gegen ein
mit unglaublicher Brutalität und Skrupellosigkeit vorgehendes
Polizeiheer zu glauben, benötigt es eine soziale Vernetzung, die über
online Beziehungen hinausgeht. Auf die Gefahr hin, am Ende alleine
dazustehen, riskiert man nicht sein Leben. Nein, in Tunesien und
Ägypten ist über Jahre hinweg eine kollektive Wut über die Situation
gewachsen, die mit einem gemeinsamen Akt des Mutes und der kollektiven
Stärke ausgebrochen ist.

In einem Land wie Ägypten, in dem über 40 Prozent der Bevölkerung von
zwei Dollar am Tag leben, in dem 28 Prozent Analphabeten sind, war es
wohl eher lediglich die westlich orientierte Elite des Landes, die
sich auf Facebook organisiert hat.

Blickt man somit auf den Platz der Befreiung zu Gebetszeiten, wenn
Abertausende an Menschen sich in Eintracht zum “Gott ist groß”-Ruf des
Muezzin beugen, so sollte man vielleicht eher seine eigene
Weltkonzeption hinterfragen, als den Milliarden schweren westlichen
Mediengiganten Facebook zu feiern. Denn wollen wir im Westen am
liebsten jeden einzelnen Moslem auf Demokratie-Fähigkeit überprüfen
bevor er sich bei uns niederlassen darf, sehen wir jetzt im Fernseher
tausende von Muslimen vereint im Gebet und im Kampf für Demokratie.

Vielleicht ist es genau diese Religion, die uns so Angst macht, die
den Menschen jetzt die Stärke zum weitermachen gibt, vielleicht sind
es eher Netzwerke religiöser Gemeinschaft, die die Menschen fern der
spärlichen Elite so organisiert und vereint auf die Straßen strömen
ließen. Vielleicht ist es genau dieses unbewusste Wissen, das uns auch
leicht besorgt nach Ägypten blicken lässt, aus gewohnter Angst vor dem
in den Köpfen allzeit präsenten islamistischen Terror.

Vielleicht sollten wir alle einfach mal die Klappe halten, und von den
Ägyptern lernen, was Mut und Einsatz für Gerechtigkeit, Reform und den
Kampf für ein besseres Morgen bedeutet. Denn dass wir selbst zu Hause
auf dem Sofa sitzend im Geschehen live dabei sind, über Facebook und
Twitter fast direkten Kontakt zu den Demonstranten haben, das ist auf
jeden Fall ein großer Verdienst dieser Medien, der gewürdigt werden
muss. Und genutzt werden sollte. Denn wenn revolutionäre Ägypter nur
einen Mausklick entfernt sind, dann kann man sich wieder darauf
besinnen, dass Demokratie vor allem auch bedeutet, Menschen nicht in
“wir” und “sie” aufzuteilen. Dass man keine Feindbilder aufgrund von
Fremdartigkeit aufbaut, sondern wieder daran denkt, dass wir alle, ob
in Europa und Ägypten, die gleichen Ziele und Vorstellungen für unser
Leben und unsere Gesellschaft haben.

Und dann ist es vielleicht an der Zeit, einfach mal den Laptop zu zu
klappen, unsere Facebook Seite nicht zum hundertsten Male am Tag auf
virtuelle Neuigkeiten im Freundeskreis zu überprüfen, sondern hinaus
in die reale Welt zu treten. Denn auch unsere Gesellschaft braucht den
ägyptischen Funken im Kampf für ein besseres Morgen.

Vera Macht lebt und arbeitet seit April 2010 in Gaza. Sie ist
Friedensaktivistin und berichtet über den täglichen Überlebenskampf
der Menschen im Gazastreifen (Vera.Macht at uni-jena.de)

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GAZA´S ÄGYPTISCHE HOFFNUNG

von VERA MACHT

(12.2.2011?)

Als die Nachricht vom Sturz Mubaraks kommt, strömen die Menschen Gazas
ausgelassen auf die Straßen. Sie feiern den Sieg, sie feiern die
ägyptische Revolution, die zum Symbol ihrer eigenen Ambitionen
geworden ist. Ein Volk vereint im Kampf gegen den verhassten Diktator,
die Stärke einer Gemeinschaft, die schließlich zum Erfolg geführt hat.
Wer hätte das geglaubt, vor ein paar Wochen. Und das ist es, was den
Menschen Gazas neue Hoffnung gegeben hat, an einem Fleckchen Erde, wo
Hoffnung schwer zu finden ist.

Dabei hätte man meinen können, die Revolution würde das Gegenteil
auslösen, hier in Gaza. Als die Unruhen begannen, wurde der
Grenzübergang von Ägypten zu Gaza augenblicklich geschlossen. Niemand
weiß bis jetzt, wann oder ob er wieder öffnen wird, die große Angst
ist, dass er wieder unter israelische Kontrolle fällt. Zahlreiche
Palästinenser sitzen auf ägyptischer Seite fest, für Dutzende in Gaza
ist die erwartete Ausreise in weite Ferne geglitten. Menschen die
dringend für medizinische Versorgung, die hier nicht möglich ist, ins
Ausland müssen, Studenten mit Visa für die lang ersehnte Freiheit.

Und das Leben in Gaza ist härter geworden. Mit dem Grenzübergang
schlossen auch alle Tunnel. Israel hatte nach der Attacke auf die Mavi
Marvera zwar medienwirksam angekündigt, die Blockade gelockert zu
haben, in der Realität hieß das allerdings, dass zwar die Bandbreite
der Produkte stieg, dafür aber die Quantität fiel. Das hatte zur
Folge, dass es nun auch israelische Chips in den Supermärkten gibt,
Weizenmehl jedoch oft bedrohlich knapp wird. Doch der Mensch von heute
braucht mehr als Brot, um am Leben zu bleiben, und vor allem mehr um
menschenwürdig am Leben zu bleiben. Dies scheint der fast zynische
Diskurs darüber, ob die Menschen Gazas verhungern würden, vollkommen
außer Acht zu lassen. Und so bedeutet das Schließen der Tunnel zum
Beispiel, dass seit dem kein neues Benzin nach Gaza hinein gekommen
ist. Die Schlangen vor den Tankstellen sind endlos, und die die
erfolglos nach Hause gehen, halten ihr Auto mit Küchenöl am Laufen.
Jeden Tag, wenn der Strom ausfällt, der normalerweise durch dutzende
von qualmenden und lauten Generatoren ersetzt wird, bleibt es nun
still. Gaza sitzt im Dunkeln.

Doch da auch das Licht des Medieninteresses von Gaza nach Ägypten
gewandert ist, scheint Israel die Chance für Angriffe zu sehen, die
das Palästinensische Zentrum für Menschenrechte als „rücksichtslose
Angriffe auf ziviles und humanitäres Eigentum“ bezeichnet hat, denen
mit einer „verschwörerischen Stille der Weltöffentlichkeit“ begegnet
wird. In der Nacht vom 8. zum 9. Februar flog das israelische Militär
Luftangriffe auf Gaza, bei denen zehn Menschen verletzt wurden,
darunter zwei Frauen und ein Kind. Eine der Bomben schlug östlich von
Gaza-Stadt in eine Holzfabrik, das Feuer zerstörte etliche
Klassenräume der angrenzenden Nour Al-Maaref Schule, sowie einige
Geschäfte und Familienhäuser. Doch am härtesten traf die Menschen
Gazas, dass auch ein Medikamentenlager des Gesundheitsministeriums
durch den Angriff in Flammen aufging. Medizin, die von internationalen
Delegationen gespendet wurde wurde zerstört, was den derzeit
bedrohlichen Medikamentenmangel noch weiter verschlimmert hat.

Doch wenn man glaubt, dass all das die Menschen Gazas davon abhalten
würde zu hoffen, dann hat man sich getäuscht. Selten war die Stimmung
auf Gazas Straßen so euphorisch. Und es ist nicht nur die Hoffnung
darauf, dass ein neues Ägypten auch eine neue Politik gegenüber Gaza
einschlagen würde, während es bis jetzt durch seine Grenzpolitik Gaza
gleichsam in ein Gefängnis verwandelt hat.

Es ist viel eher die leise Hoffnung, dass der Funke der Revolution
auch nach Gaza überschlägt, die vor allem die Jugend hier ergriffen
hat. Auf Facebook und Twitter werden die neusten Meldungen über die
Ereignisse ausgetauscht, und die Helden der Revolution gefeiert, als
ob sie die eigenen Helden wären. Doch die
Ägypten-Solidaritätsdemonstration einiger Jugendlicher wurde mit
Stärke von der Hamas-Regierung niedergeschlagen, die Besorgnis der
arabischen Herrscher hat auch nach Gaza übergeschlagen. Nicht dass die
Fatah Regierung mit den Demonstranten in Ramallah anders verfahren
wäre. „Das einzige, worin sich die Palästinensischen Parteien gerade
einig sind“, sagte Marwan Barghouti, ein gefeierter palästinensischer
Politiker, „ist die Unterdrückung der Menschenrechte ihres eigenes
Volkes“. Und so wissen die Jugendlichen gar nicht, gegen wen sie als
erstes rebellieren sollen. Angst vermischt mit Unsicherheit, keine
gute Ausgangslage für eine Revolution.

Doch die Menschen Gazas wären nicht die Menschen Gazas, wenn sie sich
von so etwas ihre Freude und ihren Überlebenswillen nehmen lassen
würden. Heute ist Mubarak gefallen, heute feiern sie auf den Straßen,
und wenn Ägypten das Unmögliche schafft, allein durch die Kraft der
Gemeinschaft, dann kann Gaza das auch. Zumindest in diesem Moment,
inmitten der Menschenmenge auf Gazas Hauptstraße, hat man da keinen
Zweifel daran.

Vera Macht lebt und arbeitet seit April 2010 in Gaza. Sie ist
Friedensaktivistin und berichtet über den täglichen Überlebenskampf
der Menschen im Gazastreifen (Vera.Macht at uni-jena.de)

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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
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