[E-rundbrief] Info 932 - Adolfo Perez Esquivel - Rechte der Mutter Erde
Matthias Reichl
info at begegnungszentrum.at
Sa Jul 3 11:45:50 CEST 2010
E-Rundbrief - Info 932 - Adolfo Pérez Esquivel (AG): Klimagipfel der
Völker in Bolivien. Die Rechte der Mutter Erde. Rede bei der
Weltkonferenz der Völker über den Klimawandel und die Rechte der Mutter
Erde in Cochabamba (Bolivien), April 2010; Für die Schaffung eines
Internationalen Gerichtshofes für die Umwelt.
Bad Ischl, 3.7.2010
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
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Klimagipfel der Völker in Bolivien
Die Rechte der Mutter Erde
Adolfo Pérez Esquivel
April 2010
Im April fand in Cochabamba die „Weltkonferenz der Völker über den
Klimawandel und die Rechte der Mutter Erde“ statt. Zu diesem Treffen
hatte der bolivianische Präsident Evo Morales im Gefolge des
enttäuschenden UN-Klimagipfels von Kopenhagen aufgerufen. Mehr als
10.000 internationale TeilnehmerInnen waren der Einladung gefolgt.
Anders als in Kopenhagen wurden in Cochabamba vor allem auch die
tieferen Ursachen der Probleme klar benannt, so auch durch
Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel, dessen Beitrag wir hier
gekürzt wiedergeben.
Wir sehen uns heute mit einer Reihe von weltweiten Krisen konfrontiert:
nicht nur mit der Finanz- und Wirtschaftskrise, die in aller Munde ist,
sondern auch mit einer politischen und sozialen, einer Ernährungs-,
Klima-und Umweltkrise.
Man muss sich darüber im klaren sein, dass es kein Zufall ist, dass
diese Krisen alle gleichzeitig zum Ausbruch kommen - sie sind eng
miteinander verknüpft und allesamt Teil einer tiefen zivilisatorischen
Krise, die nur durch strukturelle Änderungen gelöst werden kann.
Entwicklung als Ausbeutung oder im Gleichgewicht mit Mutter Erde?
Wir können uns nicht mit partiellen und sektoriellen Lösungen zufrieden
geben, die nichts anderes sind als notdürftige Pflaster, welche die
wirklichen strukturellen Gründe der weltweiten Krise bloß verbergen.
Wenn wir von einer zivilisatorischen Krise sprechen, dann deshalb, weil
die zentralen Konzepte, auf die sich unsere Gesellschaften stützen,
heute nicht mehr aufrecht zu erhalten sind und das Leben zukünftiger
Generationen aufs Spiel setzen. So müssen die Begriffe Fortschritt und
Entwicklung in Frage gestellt werden: Was verstehen wir unter Entwicklung?
Das kapitalistische System baut auf Gewinnvorteil, auf Marktwirtschaft,
auf der Ausbeutung der Mutter Erde und ihrer natürlichen Ressourcen auf,
ohne die dadurch verursachten Schäden für Natur und Völker, wie eben den
Klimawandel, zu beachten.
Viele reduzieren „Entwicklung“ auf ihre ökonomische Dimension, und
betrachten sie als Synonym für unbegrenztes Wachstum von Produktion und
von Konsum. Dieses Paradigma unbegrenzter Akkumulation stellt das Herz
des neoliberalen und kapitalistischen Systems dar und reduziert
Entwicklung auf reine Ausbeutung.
Die Ausbeutung, von der wir sprechen, findet auf mehreren Ebenen statt.
Zum einen handelt es sich um die Ausbeutung der Länder des Südens durch
die Länder des Nordens in einer völlig ungerechten globalen
Wirtschaftsordnung. Sie betrifft aber auch die Ausbeutung der Arbeiter
durch große Konzerne und die ständige Verletzung der sozialen,
wirtschaftlichen und politischen Rechte der am stärksten verwundbaren
Bevölkerungsteile, und zwar sowohl in den Ländern des Südens als auch in
den Ländern des Nordens. Schließlich handelt es sich um die Ausbeutung
unserer kollektiven natürlichen Ressourcen, die oft als Naturgüter
bezeichnet werden, weil sie als bloße Mittel betrachtet werden, die der
menschlichen Produktion zur Verfügung stehen.
Diese Interpretation des Begriffes der natürlichen Ressourcen beinhaltet
ein irreführendes Konzept von Natur und Mutter Erde, so als ob diese nur
zum Zweck der Ausbeutung durch den Menschen existierten um damit einen
vermeintlichen materiellen Wohlstand zu erlangen.
Die Konsumgesellschaft impliziert die Ausbeutung von Naturgütern in
ständig wachsendem Ausmaß. Sie denkt dabei nicht darüber nach, wofür sie
diese wirklich braucht und in welchen Mengen, noch setzt sie der
Konsumsucht irgendwelche Grenzen.
Diesem pervertierten Entwicklungsverständnis als Ausbeutung müssen wir
das Konzept von Ausgewogenheit entgegenstellen. Die gegenwärtigen Krisen
können als Ausdruck eines Bruches des Gleichgewichts gesehen werden. Es
geht darum, wieder das Gleichgewicht mit sich selbst, mit der
Gemeinschaft und mit der Mutter Erde zu finden. Die Natur ist keine
Ressource, über welche die Menschheit einfach verfügen kann, wir selbst
sind ein Teil der „Umwelt“ in der wir leben. Hier sollten wir uns von
der Kosmovision der indigenen Völker leiten lassen, die diese Beziehung
zur Mutter Erde verinnerlicht haben.
Es gibt nicht nur die Menschenrechte, sondern es gibt auch die Rechte
der Natur. Diese wurden beispielsweise in der ecuadorianischen
Verfassung von 2008 anerkannt: „Die Natur oder Pachamama, in der sich
das Leben reproduziert und verwirklicht, hat ein Recht in ihren vitalen
Kreisläufen, Strukturen, Funktionen und Prozessen zu existieren,
weiterzubestehen und sich zu regenerieren.“ In diesem Sinne ist auch die
Initiative des bolivianischen Präsidenten Evo Morales, eine „Allgemeine
Erklärung der Rechte der Mutter Erde“ zu schaffen, unterstützenswert.
Das Kyoto-Protokoll und die falschen Lösungen
Eine der Konsequenzen dieses Konsum-und Produktionskultes ist der
Klimawandel. Es muss betont werden, dass die Länder des Nordens
diesbezüglich eine besondere histo-rische Verantwortung tragen: Obwohl
sie weniger als 20% der Weltbevölkerung ausmachen, sind sie historisch
für 70% des CO2-Ausstoßes verantwortlich. Auch heute noch ist ihr pro
Kopf Ausstoß viermal höher als jener der Länder des Südens. Deswegen
können wir mit Fug und Recht sagen, dass die Länder des Nordens eine
Klimaschuld gegenüber den Ländern des Südens haben.
Dass der Norden nicht bereit ist Gleichheit mit dem Süden herzustellen,
wurde in Kopenhagen, in Río und in Kyoto deutlich. Sein Ziel bleibt es
weiterhin, alle Ressourcen auszubeuten, um den Lebensstil und das
Konsumniveau seiner in Krise befindlichen Gesellschaften
aufrechtzuerhalten, ohne sich um die Konsequenzen für das Leben auf
unserem Planeten zu kümmern. Einerseits respektiert keines dieser Länder
die im Kyoto-Protokoll festgelegten Reduktionsziele hinsichtlich der
klimaschädlichen Emissionen. Das extreme Beispiel sind die USA, die
weiterhin ständig Druck auf die zwischenstaatlichen Klimaverhandlungen
ausüben, während sie weder die von ihnen unterzeichneten Erklärungen
ratifiziert haben, noch internationale Abkommen ratifizieren und damit
meinen, sich vom internationalen Recht ausnehmen zu können.
Andererseits fördern die Länder des Nordens falsche Lösungen, wie den
Mechanismus einer Sauberen Entwicklung und den Emissionshandel, beides
Bestandteile des Kyoto-Protokolls. Dieser Mechanismus hat in
Wirklichkeit ein Recht auf Umweltverschmutzung etabliert. Die Niveaus
von Produktion und Verschmutzung im Norden bleiben unverändert – sie
sollen angeblich durch die Finanzierung von Projekten im Süden, die
theoretisch die Kohlenstoffemissionen verringern, kompensiert werden.
Das heißt, dass die Länder des Nordens ihr klimaschädliches
wirtschaftliches Entwicklungsmodell nicht zu überdenken brauchen. Doch
nicht nur das: Die durch sie finanzierten Projekte schaffen neue soziale
Probleme und Umweltkatastrophen in den Ländern des Südens. (Der Autor
verdeutlicht dies an den Beispielen von Eukalyptusplantagen und der
Biotreibstoffe.)
Klimaschuld, ökologische Schuld und Rechte der Mutter Erde
Die Lösung der aktuellen Krisen hängt davon ab, ob wir zu einer
ganzheitlichen Sichtweise der Probleme gelangen. Beschränken wir das
Problem auf den Klimawandel, führt das dazu, dass wir nur partielle und
kurzfristige Lösungen finden. Das Problem des Klimawandels ist für viele
ein sehr abstraktes und es gibt sogar immer wieder Versuche die
Verursachung durch den Menschen zu leugnen. Andererseits wird oft die
historische und geographische Komplexität des Problems dazu verwendet,
Verantwortlichkeiten zu vernebeln, was es für die Opfer fast unmöglich
macht, Verursacher nachzuweisen und Wiedergutma-chung und Entschädigung
zu bekommen.
Von daher müssen wir das weiter gefasste Konzept der „ökologischen
Schuld“ zugrundelegen.
Diese Schuld gegenüber den Ländern des Südens wächst seit Jahrhunderten
an und besteht wie gesagt gegenwärtig darin, dass die Naturgüter des
Südens durch die transnationalen Unternehmen und Länder des Nordens
unter Mithilfe internationaler Finanzinstitutionen ausgebeutet werden.
Infragezustellen sind aber auch die Regierungen des Südens, die
teilweise die gleichen Modelle umsetzen und den Raubbau an Natur und
Mensch fortsetzen. Der erste Schritt zur Bezahlung dieser Schuld ist ein
sofortiger Investitionsstopp in derart unheilvolle Geschäfte.
Wir können also nicht über Anerkennung und Verteidigung der Rechte
unserer Mutter Erde sprechen ohne die ökologische Schuld einzubeziehen.
Die Klimagerechtigkeit die viele Völker als Opfer des Klimawandels
einfordern, ist Teil der umfassenderen ökologischen Gerechtigkeit, die
die sozialen und Umweltaspekte mit einschließt. Es wird nicht möglich
sein, auf die Probleme des Klimawandels adäquat zu reagieren, ohne die
Auswirkungen auf die Menschenrechte und die Rechte der Natur zu
berücksichtigen.
Es ist nicht genug, die Situation bloß zu diagnostizieren. Es ist
notwendig die bestehende Situation zu überwinden und gemeinsam mit den
indigenen Völkern eine Rechtsgrundlage zu schaffen, welche die
Entscheidungsbefugnis und Regulierung einer Nutzung der Natur ohne
Schädigung unserer Mutter Erde konkretisiert. Entwicklung bedeutet ein
Gleichgewicht zu finden – ein Gleichgewicht zwischen den Bedürfnissen
des Menschen, der Völker und der Natur.
Übersetzung: Roland Bangerter und Christian Zettl
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Für die Schaffung eines Internationalen Gerichtshofes für die Umwelt
Nicht zuletzt angesichts der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko gewinnt
die Initiative zur Schaffung eines Internationalen Umweltgerichtshofes
weiter an Brisanz. Dabei ist die aktuelle Katastrophe nur die Spitze
eines Eisbergs: Rohstoffausbeutung ist in weiten Teilen der Welt lokal
und regional eng verknüpft mit der Vertreibung der Bevölkerung und oft
irreparabler Vernichtung von Natur und Lebensgrundlagen.
Bereits 2007 hat sich der Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel
(gemeinsam mit dem Dalai Lama) in einem dringenden Appell zur Schaffung
eines solchen Internationalen Umweltstrafgerichtshofes an die
Staatsoberhäupter gewandt. Seit Oktober des Vorjahres setzt sich nun
auch die Internationale Akademie der Umweltwissenschaften (IAES) mit
Sitz in Venedig für dieses Ziel ein.
Eine wesentliche Grundlage für das Wirken eines solchen
Umweltgerichtshofes, so Pérez Esquivel, stellt das
Selbstbestimmungsrecht der Völker dar (vgl. Erklärung von Algier, 1976).
Zivilgesellschaftliche Organisationen der Völker - als die
Hauptbetroffenen von Klimawandel und Umweltzerstörung - sollten
unmittelbaren Zugang zum Gerichtshof haben. Zur Verantwortung gezogen
könnten sowohl Firmen, Staaten wie auch Einzelpersonen werden.
Als ersten Schritt schlägt Pérez Esquivel die Schaffung eines „Tribunals
der Völker“ zum Thema ökologische Schuld und Klimagerechtigkeit vor.
Längerfristig müsste in einer Reform des bestehenden
Strafgerichtshof-Statuts von Rom erreicht werden, dass Umweltdelikte als
eine neue Kategorie von Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt
werden.
Doch bis dahin sollten die LateinamerikanerInnen nicht warten, wie Pérez
Esquivel in seinem Beitrag in Cochabamba betont:
„Keine weiteren Ausreden! Das lateinamerikanische Netz der
Umweltstaatsanwälte ist bereit, die Verantwortlichen für Klima- und
Umweltverbrechen vor Gericht zu bringen. Wir brauchen dazu nicht einmal
neue Gesetze - es genügen die bereits vorhandenen und die
unterzeichneten internationalen Abkommen. Die völlige Straflosigkeit,
mit der sich multinationale Konzerne unsere Naturgüter aneignen muss ein
Ende finden!“
Nähere Informationen zum IAES und seiner Initiative:
http://www.iaes.info/inglese/start.htm
Unterstützung des Aufrufs von Adolfo Pérez Esquivel unter:
http://www.justiceforplanetearth.org/
(Erschienen in der Zeitschrift „Spinnrad“ 2/2010, Versöhnungsbund
Österreich, www.versoehnungsbund.at )
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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
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