[E-rundbrief] Info 751 - J. Ziegler: Spekulanten-Tribunal

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
Fr Okt 31 21:49:02 CET 2008


E-Rundbrief - Info 751 - Jean Ziegler (CH): Tribunal für Spekulanten.

Bad Ischl, 31.10.2008

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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Vorbemerkung:

Dank einer Kooperation mit Dan Jakubovic (von SOL) hat dieser von Jean 
Ziegler die Zusicherung bekommen, dass seine Texte - für die er das 
Copyright hat - frei weiterverbreitet werden dürfen. Es muss folgender 
Vermerk angeschlossen sein: "Von Jean Ziegler, Autor von 'Das Imperium 
der Schande', Goldmann-Verlag". Also, bringen wir seine aufrüttelnden 
Texte unter die Leute!

Wer ihn live erleben will - er wird am 20. November 2008 um 19:00 in der 
Salzburger Residenz sprechen. Er wird dort mit dem Salzburger 
Robert-Junk-Zukufntspreis ausgezeichnet. (Mehr dazu auf 
http://www.jungk-bibliothek.at)

Matthias Reichl

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Jean Ziegler

"Tribunal für Spekulanten"

Der Schweizer Soziologe Jean Ziegler fordert Strafen für Wetten auf
Nahrungsmittel und warnt vor den Wirkungen der Finanzkrise auf die armen
Regionen der Welt.

Herr Ziegler, gibt es auch etwas Positives an der Finanzkrise?

Ja, sicher: Die neoliberale Wahnidee ist endlich im Eimer. Die Theorie
der Autoregulierung der Märkte, der staatenlosen globalen Entfesselung
der Märkte als Ziel der Geschichte. Jetzt kann jeder sehen, dass das in
den Abgrund führt.

Was muss jetzt geschehen?

Wer immer für die normativen Menschenrechte war, wie etwa das Recht auf
Nahrung, wusste, dass es Eingriffe in den Markt geben muss. Das kann
jetzt wieder geschehen. Die Welthandelsorganisation muss die
Ernährungssouveränität der Länder wieder respektieren und nicht durch
Total-Liberalisierung weiteres Agrar-Dumping zulassen. Auf jedem
afrikanischen Markt kann man heute deutsches und französisches Gemüse zu
einem Drittel des Preises einheimischer gleichwertiger Produkte kaufen.

Welche Auswirkungen hatte die Liberalisierung der Weltmärkte auf
Armutsregionen der Welt?

Das hat unter anderem dazu geführt, dass alle fünf Sekunden ein Kind
unter zehn Jahren verhungert. Täglich sterben über 100 000 Menschen am
Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen. 923 Millionen Menschen auf der
Welt sind permanent schwerst unterernährt. Letztes Jahr waren es noch
854 Millionen Menschen. Das sind UN-Zahlen.

Was haben diese erschreckenden Zahlen mit dem Finanzmarkt zu tun?

Es gibt drei Dinge, die das Leid hauptsächlich verursachen: Erstens das
Agrar-Dumping. Die EU subventioniert das und wir exportieren unsere
Überschüsse zum Beispiel nach Afrika, wo diese Überschüsse die
Landwirtschaft zerstören. Zweitens die Produktion von
Agrar-Treibstoffen. Die USA haben im vergangenen Jahr 138 Millionen
Tonnen Mais verbrannt, um Agrar-Rohstoffe herzustellen. Dazu Hunderte
Millionen Tonnen Getreide. Das hat zu einer unglaublichen Verknappung
der Nahrungsmittel geführt. Das dritte Übel ist die Spekulation auf
Nahrungsmittel. Das funktioniert mit Agrar-Rohstoff-Zertifikaten, die an
der Börse gehandelt werden.

Wie funktioniert diese Spekulation genau?

Die Schweizer Großbank UBS hat zum Beispiel gerade Prospekte aufgelegt,
die überall in der Schweiz für diese Finanzprodukte werben. Für ein
Zertifikat auf Reis. Im Prospekt heißt es, dass dieses Zertifikat auf
Reis außergewöhnlich hohe Profite verspricht. Die großen Hedgefonds
haben auf der Suche nach profitablen Anlegemöglichkeiten die
Agrar-Rohstoffbörsen der Welt angesteuert und dort ihre Termingeschäfte
aufgebaut. Sie haben auf Mais, Getreide und so weiter gewettet. Der
Reispreis ist innerhalb von nur sechs Monaten um 83 Prozent gestiegen.
Mais um 67 Prozent und Getreide um 111 Prozent. Vor allem die
Slumbewohner hat das weltweit zuerst getroffen. Die Spekulanten sollten
jetzt vor ein Tribunal kommen, wie die Nazi-Verbrecher nach dem Krieg in
Nürnberg angeklagt wurden. Das sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Wen trifft die Krise am meisten, die Erste oder die Dritte Welt?

Jeden Tag werden derzeit in den USA etwa 10 000 Familien aus ihren
Häusern ausgewiesen, weil die Kredite platzen. Da kommt die Polizei,
klopft an die Tür und sagt: ihre Wohnung wird in 24 Stunden geräumt. 25
Millionen Familien haben in den USA in diesem Jahr ihre Wohnung
verloren. Auch die Altersvorsorge ist in den USA börsengebunden. Das ist
schlimm, aber was in den Armutsregionen der Welt passiert ist unfassbar.
Ich komme gerade aus Darfur zurück. Dort leben 2,2 Millionen Menschen in
Lagern. Die werden von den UN geschützt. Wenn dort nicht die weißen
Lastwagen mit Mehl und Reis, Trockenmilchsäcken und Wasser kommen, dann
sterben die Menschen. Das Welternährungsprogramm verteilt nur 1500
Kalorien pro Erwachsenen pro Tag, obwohl das Existenzminimum laut
Weltgesundheitsorganisation bei 2200 Kalorien liegt. Obwohl dort die
UN-Fahne weht, werden die Menschen in der Unterernährung gehalten. Und
warum? Weil die freiwilligen Beiträge der Staaten gestrichen worden sind.

Die Staaten sparen wegen der Finanzkrise an der Nothilfe?

Ja. Die Weltgesundheitsorganisation hat die Malaria-Impfkampagne
unterbrochen. Alle 22 UN-Organisationen haben ein Budget. Je nach
Aufgabe gibt es freiwillige Beiträge. Die Finanz-Krise wirkt sich
unmittelbar auf die Budgets aus. Das ist eine Katastrophe für die Dritte
Welt. Man muss sich das einmal vorstellen: Um die großen
Millenniumsziele der UN zu erreichen, also die acht schlimmsten Plagen
der Menschheit vom Hunger bis zur mangelnden Bildung zu besiegen und
wirklich die ganze Dritte Welt aus der materiellen Not zu führen,
bräuchte es laut UN-Berechnungen nur 82 Milliarden Dollar pro Jahr für
einen Zeitraum von fünf Jahren! Wenn ich jetzt ein Mensch wäre in einem
Land der südlichen Hemisphäre und sehe, dass in New York in einem Monat
3000 Milliarden Dollar vernichtet worden sind und der amerikanische
Finanzminister 700 Milliarden Dollar mobilisiert, um solche Bankhalunken
freizukaufen, würde ich mich total verachtet fühlen! Dann sehe ich weiße
Rassisten, die sich nur um sich selbst kümmern.

Würden Sie den Banken denn kein Geld geben?

Doch, aber es müssen Bedingungen gestellt werden. Es ist richtig, dass
der Interbankenverkehr unterstützt, Spareinlagen geschützt und das
Eigenkapital heraufgesetzt wird. Aber das müsste an strikte Bedingungen
gebunden werden: Abschaffung der goldenen Fallschirme für Manager,
Transparenzpflicht in der Buchhaltung, Kontrolle über die Manager. Sonst
wird die öffentliche Hand nur geschröpft, damit die Gleichen mit den
gleichen Methoden weitermachen. Warum sind denn eigentlich die
Aktienkurse nach der ersten Ankündigung der Rettungspläne noch einmal in
die Tiefe gestürzt? Weil die großen Hedgefonds eventuell denken: wenn
der Staat schon bereit ist, zu zahlen, dann setzten wir ihn noch etwas
unter Druck.

Welche Lehren müssen aus der Finanzkrise gezogen werden?

Es muss ein neuer Gesellschaftsvertrag durchgesetzt werden. Die
gesellschaftliche Souveränität muss wiederhergestellt werden. Der
Finanzmarkt bleibt ein Instrument. Es geht ja nicht um Kollektivierung
im DDR-Stil. Aber wir wollen keine Marktgesellschaft, wir wollen eine
Marktwirtschaft. Der freie Markt ist nur eine Maske für die unglaubliche
Gier weniger Menschen. Der Chef von Lehman Brothers, Richard Fuld, hat
sich in den letzten Krisentagen 20 Millionen Dollar Bonus angeeignet.
Das ist Banken-Banditismus, Kriminalität mit Hilfe einer Bank.

Kann die Erste Welt die Krise auch als Chance zur Neubestimmung begreifen?

Ja, genau. Der Zusammenbruch der neoliberalen Wahnidee macht die Sicht
frei auf die Notwendigkeit einer ganz anderen Gesellschaft, eines
planetaren Gesellschaftsvertrages. Wenn die Menschen in der
Herrschaftswelt begreifen, was für ein Irrweg diese spekulative
globalisierte Kapitalismus-Ordnung war. Absurd und mörderisch zugleich.
Mörderisch, weil sie tötet, und absurd, weil sie unnützerweise tötet.
Weil man ja alle materiellen Probleme lösen könnte mit diesem
einzigartigen Überfluss an Ressourcen. Wenn diese Sicht sich in der
westlichen Öffentlichkeit durchsetzen würde, dann wird auch die Sicht
auf die Dritte Welt ganz anders. Dann kommt es zu einem Dialog, zu
gemeinsamem Widerstand.

Was können wir in der Krise von der Dritten Welt lernen?

Dass wir auf derselben Welt leben und dass der Hunger besiegt werden
muss, weil es sonst kein Glück für keinen gibt. Kant hat gesagt: Das
Leid, das einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in
mir. Das ist ganz sicher so. Die Banker, die wir jetzt haben, begreifen
so etwas nicht. Das sind Dschungel-Wegelagerer. Dabei ist doch klar,
dass nur dort Investitionen sich auszahlen, wo auch Menschenrechte
verwirklicht sind. Der globalisierte Dschungel-Kapitalismus mit seiner
Gier, mit seiner Deregulation, mit seinem Irrglauben, seinem Lug und
Betrug muss verschwinden. Dieses ganze Weltbild muss verschwinden. Das
muss wie die Nazis in den Eimer geworfen werden! Bei den Nazis waren
Armeen nötig, um sie zu besiegen. Den Dschungel-Kapitalismus wird
hoffentlich die öffentliche Meinung besiegen. Es muss ein Übergang
kommen vom Kapitalismus zur Zivilisation. Die planetarische soziale
Gerechtigkeit muss durchgesetzt werden. Zum ersten Mal in der Geschichte
der Menschheit haben wir die materiellen Mittel, um das umzusetzen. Das
materielle Leid können wir besiegen. Liebeskummer, Krankheit und Tod
sind doch schon Leid genug.

Glauben Sie, dass die Menschen hierzulande umdenken?

Es wird sich die Erkenntnis durchsetzen, dass die Paradigmen der
gegenwärtigen Weltordnung mörderisch und verlogen sind. Diese Erkenntnis
wird sich durchsetzen, weil jetzt die Menschen im Herzen des
Herrschaftsbereiches Opfer sind. Und wenn jemand leidet, dann denkt er
richtig.

Interview: Matthias Thieme

Der Autor

Jean Ziegler ist weltweit als scharfzüngiger Globalisierungskritiker
bekannt. Zuletzt veröffentlichte der 1934 geborene Soziologe und
Politiker das Buch "Imperium der Schande" (Goldmann TB). In dem Band
brandmarkt er die multinationalen Konzerne als Mitverursacher des Hungers.

In unserer Serie kommentieren Prominente aus Politik, Wirtschaft und
Kultur die Finanzkrise. Bislang kamen zu Wort: der ehemalige
Daimler-Chef Edzard Reuter und der chinesische Ökonom Ding Xueliang.

[ document info ]
Copyright © FR-online.de 2008
Dokument erstellt am 20.10.2008 um 16:36:02 Uhr
Letzte Änderung am 21.10.2008 um 14:40:34 Uhr
Erscheinungsdatum 21.10.2008

http://www.fr-online.de/in_und_ausland/wirtschaft/aktuell/?em_cnt=1616315&

Jean Ziegler

Jean Ziegler wurde in jungen Jahren geprägt von seiner Freundschaft zu
Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir sowie durch einen zweijährigen
Afrika-Aufenthalt als UN-Experte nach der Ermordung Patrice Lumumbas.
(Ich habe mir geschworen, nie wieder, auch nicht zufällig, auf der Seite
der Henker zu stehen.)

Seine zahlreichen Publikationen (Die Schweiz wäscht weisser, Die
Schweiz, das Gold und die Toten, Die Barbaren kommen u.v.a) haben weite
Kreise ziehende Skandale ausgelöst und ihm internationales Ansehen, in
seinem eigenen Land jedoch den Ruf des Nestbeschmutzers eingetragen.
Jean Ziegler ist ein Mann klarer Worte. Sein Buch Wie kommt der Hunger
in die Welt? ist in Frankreich an gymnasialen Oberstufen bereits als
Schulbuch im Einsatz. Der streitbare Moralist aus Genf wirbt aufrichtig
dafür, dass sich in den demokratischen Industrienationen des Nordens
Bürgerbewegungen und Initiativen bilden, die ihre Regierung zwingen, den
lautlosen Genozid des Hungers zu stoppen. Immer, so Ziegler, geht es um
das reale Verhältnis von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, karitativer
Hilfe und politischer Reform.

Auszug aus: http://www.g26.ch/texte_jean_ziegler_00.html

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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
Center for Encounter and active Non-Violence
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