[E-rundbrief] Info 264 - Uri Avnery: Sharons Weltsicht.
Matthias Reichl
mareichl at ping.at
Do Aug 18 12:46:14 CEST 2005
E-Rundbrief - Info 264 - Uri Avnery: Was für Wunder! Sharons Weltsicht ist
einfach, um nicht primitiv zu sagen.
Bad Ischl, 18.8.2005
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
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Sharons Weltsicht ist einfach, um nicht primitiv zu sagen.
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Sein wirklicher Mentor war David Ben-Gurion.
Seine Ideologie ist eine klassisch zionistische, konsequent und
pragmatisch: die Grenzen des jüdischen Staates in einem andauernden Prozess
so weit wie möglich hinauszuschieben, ohne eine nicht-jüdische Bevölkerung
einzuschließen. Überall, wo möglich, zu siedeln und dabei jeden Trick zu
verwenden. Viel zu handeln und wenig darüber reden. Erklärungen abgeben,
dass man Frieden erreichen wolle, aber keinen Frieden machen, der die
Expansion und Siedlung behindert.
Was für Wunder !
Uri Avnery
In meinem Gedächtnis hat sich ein Bild eingeprägt: Ariel Sharon in der
Knesset. Rund um ihn wütet ein Sturm. Die Parlamentarier rennen herum,
Schreie von allen Seiten. Der Abgeordnete am Rednerpult gestikuliert
aufgeregt mit den Armen, verurteilt und verflucht ihn. Sharon sitzt am
Regierungstisch. Allein. Unbeweglich. Massiv und passiv. Kein
Gesichtsmuskel bewegt sich. Nicht einmal das nervöse Muskelzucken um die
Nase, das einst sein besonderes Kennzeichen war (und das viele Leute als
eine Art Lügendetektor betrachteten). Ein Fels im tobenden Meer.
Dies ist der Mann, der allein über den Rückzug und die Auflösung der
Siedlungen aus dem Gazastreifen entschied. Es ist der Mann, der dies
praktisch alleine ausführt. Es ist der Mann, der in der nächsten Woche
allein dem Hurrikan trotzt, wie es ihn bisher in der Geschichte Israels
noch nicht gegeben hat.
Ein an Gott Glaubender könnte sagen: Es ist ein Wunder des Himmels.
Geheimnisvoll sind die Wege des Allmächtigen. Der Schutzherr der
Siedlungen, der Mann, der die meisten von ihnen geplant und dorthin gesetzt
hat, wo sie jetzt stehen, und ihnen half, Wurzeln zu schlagen und sich
auszubreiten er ist der Mann, der nun den schicksalhaften Präzedenzfall
schafft, in diesem Lande Siedlungen aufzulösen.
Die Dimensionen dieses "Wunders" können nur begriffen werden, wenn man
einige hypothetische Fragen stellt. Was würde geschehen, wenn die
Laborpartei an der Macht wäre, wenn Shimon Peres verantwortlich wäre, wenn
Ariel Sharon die Opposition führen und die orangefarbenen Hemden befehligen
würde? Allein der Gedanke ist schon ein Alptraum.
Wenn dies das einzige Wunder wäre, das uns zustößt dann wäre das schon
genug. Doch wird es von einem anderen Wunder begleitet: die israelische
Armee führt den Kampf gegen die Siedler aus. Das ist ein außerordentliches
Wunder, dass es auch den säkularsten Schweinefleischesser zum Rabbi laufen
ließe.
Seit 37 Jahren ist die israelische Armee eine Verteidigungsarmee der
Siedler gewesen. Sie hat offen oder im Geheimen die Standorte der
Siedlungen geplant, einschließlich der "illegalen" Außenposten überall in
der Westbank. Sie hat ihre meisten Kräfte und Ressourcen ihrer Verteidigung
gewidmet. Das nahm groteske Dimensionen an: z.B. die Nezarim-Siedlung
mitten im Gazastreifen wurde von drei ganzen Bataillonen verteidigt. 17
Soldaten und Soldatinnen ließen ihr Leben bei der Verteidigung von Nezarim,
über das Ariel Sharon vor ein paar Jahren sagte: " Das Schicksal von
Nezarim ist wie das von Tel Aviv!" Die Geschichte von den Siedlerkindern,
die zum Musikunterricht von gepanzerten Militärfahrzeugen begleitet werden,
ist schon zu einem Teil israelischer Folklore geworden.
Zwischen der Armee und den Siedlern hatte sich eine wirkliche Symbiose
entwickelt. Die Grenzlinie zwischen ihnen war verschwommen: viele Siedler
sind Armeeoffiziere, die Armee hat die Siedlungen unter dem Vorwand von
"territorialer Verteidigung" schwer bewaffnet. Während der letzten Jahre
bemühte sich das national-religiöse Lager auf Dauer, die unteren, mittleren
und oberen Ränge des Offizierkorps zu infiltrieren und füllten so die
Lücken, die die Kibbuzniks hinterlassen hatten, die aus allen Rängen
verschwunden sind. Die Schaffung der "Arrangement-Jeshivots", homogene
national-religiöse Einheiten, die ihren Rabbinern gehorchen, war ein Verrat
an den innersten Werten der Nationalarmee ja, sogar noch mehr, als die
Entlassung von zehn Tausenden orthodoxer Studenten aus der allgemeinen
Wehrpflicht.
Bei vielen Demonstrationen gegen Errichtungen von Siedlungen standen
Friedensaktivisten Soldaten gegenüber, die sie mit Tränengasgranaten
bewarfen, mit Gummi ummantelten Kugeln auf sie schossen und manchmal auch
scharf schossen. Wenn die Siedler palästinensische Dorfbewohner aus ihren
Olivenhainen trieben, ihre Oliven stahlen und ihre Bäume ausrissen,
verteidigten die Soldaten gewöhnlich die Räuber und vertrieben die Beraubten.
Und siehe da! dieselben Offiziere und Soldaten lösen nun die Siedlungen auf
und vertreiben die Siedler, um die israelische Demokratie zu verteidigen
und gegen deren Feinde zu kämpfen. Gewiss mit Samthandschuhen und
Süßholzgeraspel aber immerhin.
Wir müssen nicht davor zurückschrecken, die Dinge beim richtigen Namen zu
nennen: der gegenwärtige Kampf ist eine Art Bürgerkrieg, auch wenn noch
einmal wie ein Wunder kein Blut dabei vergossen wird. Die Yesha-Leute sind
eine revolutionäre Bewegung. Ihr wirkliches Ziel ist, das demokratische
System umzuwerfen und die Herrschaft ihrer Rabbiner aufzurichten. Jeder,
der die Geschichte der Revolutionen studiert hat, weiß, dass die Position
der Armee letzten Endes entscheidend ist. Solange die Armee vereint hinter
der Regierung steht, ist die Revolution zum Fehlschlag verurteilt. Erst
wenn die Armee dabei ist, sich aufzuspalten oder sich den Rebellen
anzuschließen, gewinnt die Revolution. Deshalb können die Siedler diese
Schlacht nicht gewinnen.
Vor 32 Jahren blockierten die ranghohen Offiziere der Armee General Sharons
Pfad zum Posten des Generalstabschefs. Jetzt stehen sie geschlossen hinter
dem Ministerpräsidenten Sharon. Wenn das kein Wunder ist ? Was ist es dann?
Natürlich sieht dies alles nur wie ein Wunder aus. Alles hat seine
natürlichen Ursachen.
Die ausländischen Journalisten, die im Augenblick den Gazastreifen
belagern, fragen immer wieder: Warum tut er das? Was hat ihn dazu gebracht,
den Trennungsplan zu konstruieren?
Auf diese Frage gibt es verschiedene Antworten. Wie jedes historische
Ereignis, hat es mehr als nur einen Beweggrund.
Der Plan war nicht das Ergebnis von Beratungen. Es gab keine ordentliche
Stabsarbeit, weder im militärischen noch im zivilen Bereich. Sharon zog den
Plan sozusagen aus dem Ärmel und warf ihn vor anderthalb Jahren in die
Luft. Er reagierte auf mehrere unmittelbare Bedürfnisse.
Als Sharon einer der prominenten Armeegeneräle war, war er eher als
"Taktiker" bekannt im Stile eines Rommel oder George Patton, denn als
"strategischer" General wie Dwight Eisenhower. Er erfasste das Schlachtfeld
intuitiv, war aber nicht in der Lage, mehrere Schritte im voraus zu denken.
Genau diese Eigenschaften brachte er ins politische Leben mit. Dies erklärt
die Umstände der Entstehung des "Trennungsplanes".
Man erinnere sich daran, dass die Amerikaner von ihm verlangten, eine
Friedensinitiative zu präsentieren. Präsident Bush benötigte dies dringend,
um der Welt zu zeigen, dass er Frieden und Demokratie im Nahen Osten
fördern will. Für Sharon war die Verbindung zu den Amerikanern schon
allgemein, die Verbindung zu Bush aber eine zentrale Stütze für Israels
Sicherheit. Der einseitige Trennungsplan sieht irgendwie wie ein
Friedensplan aus und so hat er Wort gehalten. Gestern wiederholte Sharon
bei einem Presse-Interview: "Ich möchte lieber ein Abkommen mit den
Amerikanern als mit den Arabern erreichen."
Er wollte auch anderen herumgeisternden Friedensplänen zuvorkommen . Die
"Genfer Initiative" war gerade dabei, überall in der Welt Anerkennung zu
finden; ausländische Würdenträger unterstützen sie. Sharons Trennungsplan
wischte sie vom Tisch. Später machte er dasselbe mit der Road Map, die von
Sharon forderte, den Siedlungsbau einzufrieren und die "Außenposten"
aufzulösen. Als der Trennungsplan sich auf den Weg machte, wurde die Road
Map eine Worthülse. Die Amerikaner unterstützten sie nur mit
Lippenbekenntnissen. (Das mag sich nach dem Abzug ändern, da Präsident Bush
in dieser Woche in einem Spezialinterview im israelischen Fernsehen eine
Andeutung machte).
Natürlich hat Sharon nicht im entferntesten damit gerechnet, dass es mit
den Siedlern, seinen Schützlingen und privaten Hausgästen, einen Kampf auf
Leben und Tod geben wird. Er war sich sicher, dass er in der Lage sein
würde, sie zu überzeugen, dass dies eine weise und voraussehende Maßnahme sei.
Dann kamen die Mörsergranaten und Kassam-Raketen, die eine bedeutende Rolle
spielten. Die israelische Armee hat vorläufig keine Antwort auf diese
Waffen, und der Preis, den Gazastreifen zu halten, wurde eine zu große
Belastung für die Ressourcen der Armee.
Die Feinde des Abzugsplanes schrieen es ( buchstäblich) von den Dächern,
Sharons wirkliches Motiv sei, die Aufmerksamkeit von der Korruptionsaffäre,
in die er und seine beiden Söhne verwickelt waren, abzulenken. Das ist
sicher sehr übertrieben. Wenn dies der einzige Grund gewesen wäre, hätte
eine andere Initiative erfunden werden können , z.B. ein kleiner Krieg.
Aber es mag ein zusätzlicher Grund gewesen sein.
Aber hinter all diesen Motiven stand etwas Wesentlicheres: die
Persönlichkeit und Weltanschauung von Sharon selbst.
Mehr als einmal wurde über ihn gesagt, dass er größenwahnsinnig sei, ein
Mann der brutalen Gewalt, ein Mann, der alle anderen verachtet, ein Mann,
der jeden Widerstand wie eine Dampfwalze überrollt. All das ist wahr, aber
es ist nicht alles.
Schon vor Dutzenden von Jahren kam er zu dem Beschluss, dass er die einzige
Person sei, die den Staat führen kann. Das Schicksal habe ihn dafür
erkoren, das Volk von Israel zu retten und die Weichen für die nächsten
Generationen zu stellen. Dass alle anderen Leute um ihn, Politiker und
Generäle, Zwerge seien, deren An-die-Macht-kommen nur unsägliches Unheil
über Israel bringe. Die Schlussfolgerung: jeder, der seinen Weg blockiert,
begeht ein Verbrechen gegen den Staat und das Volk. Das würde natürlich
auch auf jeden zutreffen, der den Abzugsplan verhindert, der - für ihn der
erste Schritt in seinem "Großen Entwurf" ist.
Sharons Weltsicht ist einfach, um nicht primitiv zu sagen. Die Vision von
Vladimir Jabotinsky, dem ideologischen Poeten von Odessa (und geistigem
Vater des gegenwärtigen Likud) ist für den Jungen, der in dem
Gemeinschaftsdorf Kfar Malal geboren wurde, sehr fremd. Menachem Begin mit
seinen polnischen Ideen der Ehre, war ihm auch fremd, und in seinem Herzen
verachtete er ihn. Sein wirklicher Mentor war David Ben-Gurion.
Seine Ideologie ist eine klassisch zionistische, konsequent und
pragmatisch: die Grenzen des jüdischen Staates in einem andauernden Prozess
so weit wie möglich hinauszuschieben, ohne eine nicht-jüdische Bevölkerung
einzuschließen. Überall, wo möglich, zu siedeln und dabei jeden Trick zu
verwenden. Viel zu handeln und wenig darüber reden. Erklärungen abgeben,
dass man Frieden erreichen wolle, aber keinen Frieden machen, der die
Expansion und Siedlung behindert.
Moshe Dayan, ein anderer Schüler Ben Gurions, predigte in einer seiner
enthüllenden Reden vor der Jugend des Landes, dass es ein fortdauerndes
Unternehmen sei. "Ihr habt es nicht angefangen und werdet es auch nicht
beenden!" sagte er. In einer andere wichtigen Rede sagte Dayan, dass die
Araber zuschauen, wie wir das Land ihrer Vorfahren in unser Land
verwandeln. Sie werden sich niemals damit abfinden. Der Konflikt wird ein
permanenter sein.
Das ist auch Sharons Einstellung. Er will Israels Grenzen so weit wie
möglich hinausschieben und die Anzahl der Araber innerhalb dieser Grenzen
minimieren. Deshalb ist es sinnvoll, den winzigen Gazastreifen mit
anderthalb Millionen dort lebenden Palästinensern aufzugeben und auch die
Zentren der palästinensischen Bevölkerung in der Westbank. Er will die
Siedlungsblöcke und die dünn besiedelten Gebiete annektieren, wo neue
Siedlungsblöcke gebaut werden können. Das Problem der palästinensischen
Enklaven will er zukünftigen Generationen überlassen.
Ben Gurion hat ein grundsätzliches Prinzip hinterlassen: der Staat Israel
hat keine Grenzen. Grenzen frieren die bestehende Situation ein und das
kann Israel nicht anerkennen. Deshalb waren alle seine Nachfolger,
einschließlich Yitzhak Rabin, bereit, Interim-Abkommen abzuschließen, aber
niemals ein endgültiges Abkommen, das die Grenzen festlegt. Deshalb besteht
Sharon darauf, dass alle seine Schritte einseitig sind und dass nach dem
Abzug ein neues Interim-Abkommen erreicht werden kann aber unter keinen
Umständen ein endgültiges Friedensabkommen.
Diese Vorgehensweise wird das Auflösen von weiteren Siedlungen in der
Westbank nötig machen von kleinen, isolierten Siedlungen in Gebieten, in
denen keine neuen Siedlungsblöcke wegen dichter palästinensischer
Bevölkerung errichtet werden können. Das wird praktisch da hinauslaufen,
dass es weitere Zusammenstöße mit den Siedlern geben wird, deren harter
Kern nicht nach den Lehren eines Ben Gurion aufgewachsen sind, sondern nach
der Vision messianischer Rabbis, die über die Grenzen des "von Gott
verheißenen Landes" reden. Sharons Pragmatismus beeindruckt sie wenig.
Um den Staat fest auf diese Schiene zu setzen, und um sicher zu gehen, dass
er so auch in den zukünftigen Jahrzehnten läuft, benötigt Sharon eine
zweite Amtsperiode. Binyamin Netanyahu, den Sharon für einen kleinen
Politiker mit einem großen Mundwerk hält, gefährdet diesen Plan. Für ihn
ist es ein Verbrechen gegenüber Israel.
Viele sind wegen Sharons langfristiger Absichten gegen diesen Abzugsplan.
Aber die Geschichte zeigt, dass Absichten notwendigerweise nicht so wichtig
sind. Jene, die historische Prozesse in Gang bringen, kontrollieren nicht
die Folgen. Was aber zählt, sind die Ergebnisse. Die Väter der
Französischen Revolution beabsichtigten nicht, einen Napoleon
hervorzubringen; Karl Marx beabsichtigte nicht, das Gulag-Empire eines
Stalin zu errichten.
In dieser Woche geschieht etwas Besonderes: es ist das erste Mal, dass
jüdische Siedlungen in Palästina aufgelöst werden. Das
Siedlungsunternehmen, das sich bis jetzt nur immer erweitert hat, macht das
erste Mal einen Rückzieher.
Und das ist wichtiger als die guten oder bösen Absichten Ariel Sharons .
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und vom Verfasser autorisiert)
http://www.uri-avnery.de
erstellt am 13.08.2005
Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
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