[E-rundbrief] Info 192 - Ukraines �Orange Revolution� entlaesst ihre Kinder
Matthias Reichl
mareichl at ping.at
Mi Jan 26 22:08:37 CET 2005
E-Rundbrief - Info 192 - Matthias Reichl: Ukraines "Orange Revolution"
entlaesst ihre Kinder. West-östliche Machtkomplotte dominieren die neue
Regierung der Ukraine.
Bad Ischl, 26.1.2005
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
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Ukraines "Orange Revolution" entlässt ihre Kinder
Matthias Reichl
"Die Orange Revolutionäre haben ihre Schuldigkeit getan", sie - werden
ersetzt - durch neoliberale Politmanager, gewendete Politbürokraten, durch
Selfmademillionäre... Die Ministerpräsidentin Julia Timoschenko, ehemalige
Vizeregierungschefin für Energiefragen ist wegen dubioser Energiegeschäfte
in den neunziger Jahren äußerst umstritten und wird in Russland wegen
Bestechung mit Haftbefehl gesucht. Wie eine frömmelnde Bäuerin trägt sie
ihrem Zopf als Heiligenschein kontrastiert durch ihre mondänes Outfit, ist
ein Paradebeispiel dafür wie es ähnlich "Bürgerbewegten" in anderen
"Wendestaaten" erging und noch ergeht. Sie hat die Wahl: kurzzeitige
Repräsentantin der Bürgerbewegten in der Regierung zu sein um bald durch
einen (effizienten) Technokraten ersetzt zu werden um anschließend wieder
in den Volksmassen zu versinken. Oder als bekehrte "Magdalena" der alten
Polit-/ Wirtschaftsnomenklatura ihre Bekehrung zum Neoliberalismus als
150%ige Mitläuferin zu fungieren (geleitet durch Lobbyisten und
"Think-Tank-Beratern")? Oder sie kämpft sich hinauf zu einer "Thatcher des
Ostens"?
West-östliche Machtkomplotte
Die erste Tour des Wende-Präsidenten Wiktor Juschtschenko führt ihn nach
Moskau zu Putin, weiter nach Straßburg zum Europarat(mit dem - auch von
OTPOR beratenen - Präsident Sarkaschwili aus Georgien), zur EU nach Brüssel
und zu den Wirtschaftsbossen beim Weltwirtschaftsforum in Davos.
Pflichtgemäß wird er seine Erfolgsmeldung abgeben und weitere Direktiven
und die dazugehörigen Mittel entgegennehmen.
Im Blick auf die Schicksale von Bürgerbewegungen in der Tschechoslowakei
und Ungarn, mit denen ich z.T. lange vor der Wende kooperierte, wurden mir
politische Hypothesen zunehmend glaubwürdiger, die das Medienbild der
"samtenen/ orangen Revolution" in einem anderen Licht sehen. So sollen
viele Monate vor der "Wende" von 1989 Ökonomen und Politiker aus West und
Ost über die unhaltbaren politischen und ökonomischen Krisen im Ostblock
beratschlagt haben um eine möglichst unblutige "Wende" herbeizuführen.
Dabei sollten die Bürgerbewegungen das Risiko des Scheiterns tragen. Nach
der erfolgreichen Wende müssten aber staatliche und ökonomische
Institutionen möglichst bald dafür sorgen, dass sie die Macht wieder -
direkt oder indirekt - in ihre "altbewährten" Hände bekommen bzw. sie an
geeignete Gehilfen delegieren. Dafür sorgen zurzeit v.a. die BBB-Politiker
Bush, Berlusconi, Blair und ihre Kopierer samt ihren Think-Tanks und
Lobbyisten.
So besuchten Zbignew Brzezinski, Henry Kissinger, George Bush sen. und
George Soros vor bzw. während des Wahlkampfes die Ukraine, eingeladen vom
Oligarchen ("Öligarchen") Wiktor Pintschew, Besitzer eines Pipeline-,
Stahl- u. TV-Imperiums und zweitreichster Mann der Ukraine mit geschätzten
3 Mrd. $ Vermögen.
Einer meiner Prager Freunde kommentierte die Wendezeit mit Bitterkeit:
"Während wir uns sorgfältig und bedächtig vor allem auf lokal/ regionaler
Ebene für Menschenrechte und Versöhnung, für Basisdemokratie, soziale
Netze, Reform der Verwaltung, freie Medien und Bildungsinitiativen,
Minderheiten- und Umweltschutz, dezentrale Wirtschaftsprojekte usw.
engagierten, wurden wir vom Vormarsch der Eroberer überrollt. Sie
mißbrauchten Konsumgier und Nachholbedarf - aber auch das entstandene
ideologische Vakuum - der Durchschnittsbürger. Diese Chance nützten
geschickt Rechtsextremisten mit ähnlichen politischen und religiösen
Sekten, aber auch esoterische Heilspropheten für 'Bekehrungsfeldzüge' aus -
ganz zu schweigen von den Indoktrinatoren der Medien und den
Bedürfniserweckern der Konsumindustrie. Nicht nur wir sondern auch viele
unserer seriösen Partner in Politik und Wirtschaft wurden zunehmend von
ihnen und von 'Experten' und Lobbyisten an die Wand gedrängt."
Solidarisches Lernen mit dem "Süden"
Was wäre anders gelaufen, wenn damals die Bürgerrechtler in Ost und West
dem Beispiel einiger polnischer Solidarnosc-Gewerkschafter gefolgt wären
und von den Erfahrungen und Strategien brasilianischer (Land-)
Arbeiterbewegungen, landloser Bauern und ähnlichen Basisinitiativen aus dem
"Süden" gelernt hätten? Oder z.B. von Manfred Max-Neef, einem Chilenen und
Alternativen Nobelpreisträger. Als Oppositioneller und Aktivist in
Basisbewegungen erlebte er das Dilemma: "In den wiederetablierten
Demokratien der späten 80er und frühen 90er Jahren wurden die
zivilgesellschaftlichen Protestbewegungen zunehmend kraftloser... Paradox
scheint es, daß das, was Diktatoren nicht zerstören konnten, von Bürokraten
in formalen Demokratien mit Leichtigkeit demontiert werden konnte..." Ein
hoher Beamter erklärte ihm dazu: "...weil diese Organisationen sehr
gefährlich werden, wenn sie zur Opposition werden".
Diese Opfer des (Neo-)Kolonialismus hatten sich - gemeinsam mit den
indigenen Völkern Amerikas - mit den fatalen Folgen der Eroberung ihres
Kontinents seit fünfhundert Jahren kritisch auseinandergesetzt. Die
Strategien der Eroberungszüge von Kolonisatoren haben sich ihrer Erfahrung
nach in den Jahrhunderten im Prinzip kaum geändert. Politiker,
geschäftstüchtige Produzenten, Händler und deren Finanziers organisierten
früher gemeinsam mit den Militärs ihre Eroberungszüge zur Ausbeutung der
Rohstoffe im 'unterentwickelten Süden'. Missionare und humanitäre
Organisationen sorgten mit ihrer "Ersten Hilfe" für das Überleben der
Eroberten damit diese weiter ihre (Sklaven-)Arbeits- und Untertanenpflicht
leisten konnten. Bewußt oder unbewußt übernahmen viele von ihnen auch den
Part der Ideologiemissionare und Vernichter der ursprünglichen und
naturnahen Kulturen und Lebensweisen - alles nur im Streben nach
"Fortschritt, Humanismus und Entwicklung". Seither haben sich die
strategischen und technischen Möglichkeiten weiter vervielfältigt und
besser kaschiert.
4-Wege-Strategie des subtilen Instrumentalisierens
Wie weit ist es vertretbar, sich in einen Konsultationsprozeß einbinden zu
lassen, der den gebräuchlichen Methoden der neoliberalen (wie auch der
uralten) Ausbeuter gehorcht? Die geschickt Experten bzw. Gruppen einbinden
so lange ihre Dienste brauchbar sind, brauchbare Beiträge integrieren,
kritische Ansätze, die gefährlich werden könnten, analysieren um die eigene
Gegenstrategie zu aktualisieren usw. Wenn die "Eingebundenen"
(selbst)ausgebeutet sind (sich dabei selbst ausgebeutet haben) werden sie
wieder ausgeschieden und durch unverbrauchte ersetzt.
Uns sind in den mehr als 30 Jahren unseres Engagements in Initiativen
relativ ähnliche Strategiemodelle der Herrschenden untergekommen:
1. Laissez faire: beobachten, wie sich Initiativen und Bewegungen
entwickeln, was an ihnen brauchbar und integrierbar ist.
2. Kooperationsbereite zeitweise einbinden (siehe oben), Reservekandidaten
warm halten; Idee und Konzepte klauen, anpassen, entschärfen...
3. Gemäßigt Kritische durch subtile Druck- und Repressionsmethoden
behindern, zurückdrängen - z.B. durch Verweigerung von Subventionen, von
Publizität, durch existenzbedrohend erhöhte Gebühren und Abgaben, ruinöse
Gerichtsstrafen und Schadensersatzforderungen...
4. Gefährliche politische Potentiale - gewaltbereite, aber auch gewaltfreie
- kriminalisieren, ins terroristische Eck abdrängen und entsprechend brutal
"behandeln"... - im " kampf gegen die Tyrannei" (dem neuesten
Tot-Schlagwort des US-Präsidenten Bush).
Mit den moralischen Zwängen zur (Mit-/ Selbst-)Hilfe werden schon jetzt
verantwortungsbewußte Bürger so eingedeckt, daß sie sich - wie der Hase in
Grimms Märchen vom "Hasen und Igel" - von einem eingeigelten Problem zum
anderen hetzen lassen - bis sie (wie von ihren Gegnern erwartet) auf der
Strecke bleiben. Geraten dabei idealistische humanitäre Helfer nicht in
Gefahr - unbeabsichtigt - so lange zu "kollaborieren" bis sie und immer
größere Teile der Erde kollabieren? Ein Schicksal, das auch den "Kindern
der Orangen Revolution" droht!
Drei ergänzende Nachbemerkungen:
Ich war lange vor 1989 im Ost-West-Dialog kritischer Leute involviert und
habe dies auch in einem Text reflektiert (kann ich dir mailen). Daraus ein
Zitat eines Tschechen von vor 1989: "Wenn nicht simultan bei euch im Weste
eine ähnlich radikale Revolution in Gang kommt, hat unser 'Dritter Weg'
keine Chance." Schon damals dominierten ähnlich naiv-idealistische
Strategien (meist aus westlichen Think-Tanks - wie der US-Heritage
Foundation usw. - gespeist) die radikalere Analysen erfahrener Aktivisten
(z.T. undogmatische Marxisten) strikte abwehrten.
Um die Ukraine EU-reif zu machen, müßte man nicht nur Das AKW Tschernobyl,
sondern auch die anderen verstrahlten Regionen, als exterritoriale Gebiete
ausgrenzen oder aber die Grenzwerte "liberalisieren". Eingeweihte können
sich nicht vorstellen, wie unter diesen Bedingungen eine "Integration" in
die EU möglich ist. (Dazu kommen noch eine Menge weiterer Alt- bzw. Neulasten.)
Mich hat ein maßlos übertrieben euphorischer Beitrag des Bernhard Fricke,
Mitglied des Münchner Stadtrates, provoziert. Er beschrieb in der
Zeitschrift "Publik Forum" (Nr. 1/2005, Seite 28/29) seine Kiewer
Erlebnisse unter dem Titel "Der Geist Gottes war mitten unter ihnen", dass
eine Frau sogar "lichte Engelsgestalten" auf dem Himmel über Kiew gesehen
hätte. "... Als aber immer mehr Menschen von ähnlichen Beobachtungen
berichteten, wurde für viele zur Gewißheit, dass die orangene Revolution
unter dem Schutz der 'Himmlischen Heerscharen' steht... Wenn ich mir
überhaupt ein 'Neues Jerusalem' vorstellen kann, so habe ich es in diesen
bewegenden Tagen unter den Menschen in Kiew gefunden... Er zeigte sich in
der Friedfertigkeit, Achtsamkeit Fröhlichkeit und Entschlossenheit der
Menschen, die damit ein wahres Christus-Bewusstsein repräsentieren."
(Leider ist der Text nicht auf der "Publik Forum"-homepage zu finden.)
Ergänzt wurde er durch eine Erklärung ehemaliger DDR-Oppositioneller - von
denen ich einige gut kenne - die (etwas gemäßigt) auch ihren
Euphorie-Beitrag leisten.
Siehe auch [E-rundbrief] Info 185 - Durch USA gelenkte ukrainische
Opposition? auf unserer homepage www.begegnungszentrum.at.
Matthias Reichl
26.1.2005
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M. Reichl, Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
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