[E-rundbrief] Info 150 - RB Nr. 114 - Frei Betto: Anti-Hunger-Mobilisierung in Brasilien.
Matthias Reichl
mareichl at ping.at
Sa Okt 30 12:22:05 CEST 2004
E-Rundbrief - Info 150 - RB Nr. 114 - Frei Betto: Zero Hunger Social
Mobilization in Brasilien. Sozialpolitik des brasilianischen Präsidenten Lula.
Bad Ischl, 30.10.2004
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
===========================================================
Zero Hunger Social Mobilization in Brasilien
Sozialpolitik des brasilianischen Präsidenten Lula
Vortrag von Frei Betto
Der brasilianische Dominikanermönch und bekannte Befreiungstheologe Frei
Betto weilte anlässlich der Aktivitäten zum 25jährigen Bestehen des
ÖIE/Südwind am 8. und 9. Oktober 2004 in Wien.
Ich möchte zuerst dem Renner-Institut für diese Einladung danken und im
Besonderen dem Compañero Werner Hörtner für seine ganze Arbeit und dass er
mich überzeugt hat, für zwei Tage hierher zu kommen und mit euch die
Sozialpolitik des Präsidenten Lula zu debattieren. Es freut mich, zum
dritten Mal in diese Stadt zu kommen. Einmal kam ich, um, wie Martin
(Janata; Anm.) schon erwähnte, den Preis der Bruno-Kreisky-Stiftung
entgegenzunehmen (1988; Anm.). Der Grund, weshalb Präsident Lula dem "Null
Hunger" eine so große Priorität einräumt, hat im wesentlichen drei
Komponenten. Es ist nicht nur ein Kampf gegen den Hunger in Brasilien und
weltweit. Im September des Vorjahres bei der Eröffnung der
Generalversammlung der UNO hat Lula eine große weltweite Mobilisierung
gegen den Hunger vorgeschlagen. Mehr Tote als alle chemischen Waffen, die
Bush im Irak nicht gefunden hat, fordert der Hunger heutzutage. Es gibt
fünf Faktoren für einen vorzeitigen Tod: Krankheiten, Verkehrs- und
Arbeitsunfälle, Kriegsgeschehen, Terrorismus und Hunger. Die Anzahl der
Opfer der ersten vier Faktoren erreicht nicht einmal die Hälfte der Zahl
der Hunger-Opfer. Gestern war ich in Brasilia mit Lula bei einem
Mittagessen, zusammen mit dem Generalsekretär der FAO (UN-Organisation für
Ernährung und Landwirtschaft; Anm.), Jacques Diouf. Dieser sagte, dass es
heute auf der Welt 840 Millionen Menschen im Zustand chronischer
Unterernährung gibt. Alle 24 Stunden sterben 24 000 Menschen an den Folgen
des Hungers, das heißt eine Person alle 3,6 Sekunden. Da erhebt sich eine
Frage: Warum so viel Mobilisierung auf der Welt gegen den Terrorismus,
gegen die Krankheiten, gegen die Kriege und so wenig Mobilisierung gegen
den Hunger? Die einzige Antwort, die ich bis jetzt gefunden habe, ist
zynisch: Von den fünf Faktoren, die ich vorhin erwähnt habe, ist der Hunger
der einzige, bei dem es Klassenunterschiede gibt. Als ob wir Wohlgenährten
sagen würden: das mit dem Hunger von diesen Elenden, das berührt mich nicht.
Wir sind heute etwas über 6 Milliarden Menschen auf der Welt, von denen
zwei Drittel unterhalb der Armutsgrenze leben. Man kann also nicht sagen,
dass wir in der besten aller Welten leben würden. Mit Ausnahme von uns, die
wir hier anwesend sind, die wir von der biologischen Lotterie preisgekrönt
wurden, denn niemand von uns hat die Familie oder das Land oder die soziale
Klasse, in die er geboren wurde, selbst ausgesucht. Die Wahrscheinlichkeit
in der biologischen Lotterie in Lateinamerika hingegen, in die Armut
hineingeboren zu werden, ist viel höher. Das müsste sich in unserem
humanitären Gewissen als eine soziale Schuld niederschlagen. Was sollen wir
tun, um jenen zu helfen, die nicht dieses Glück hatten? Denn dieses Glück
und die ganze biologische Lotterie ist eine schwerwiegende Ungerechtigkeit.
Alle Menschen sollten in Umstände hineingeboren werden, damit sie in Würde
leben können. Die Universale Erklärung der Menschenrechte sagt ganz klar:
Alle Menschen sind von Geburt aus gleich. Das ist aber nicht wahr. Die in
Elend lebenden Frauen in Lateinamerika, in Afrika bekommen ihre Babies
unter völlig ungleichen Umständen. Gemäß der FAO könnte unser Planet zwölf
Milliarden Münder ernähren, d.h. das Doppelte der gegenwärtigen
Bevölkerung. Das Problem der Welt ist also nicht zu wenig Ernährung und zu
viele Münder. Es ist die mangelnde Gerechtigkeit. Dasselbe in Brasilien.
Wir haben 180 Millionen Einwohner. Und jeden Monat produzieren wir in den
Hotels, den Restaurants, aber auch im Haushalt - so viel Speiseabfall, dass
wir damit 35 Millionen Menschen ernähren könnten. Wir zählen zu den fünf
größten Nahrungsproduzenten der Welt. Und gleichzeitig leben 53 Millionen
Menschen in Armut.
Das ist der erste Grund, weshalb Präsident Lula beschlossen hat, dem Kampf
gegen den Hunger höchste Priorität einzuräumen. Im Dezember 2002, als er
bereits gewählt war, aber noch vor dem Amtsantritt, reiste Lula zu einem
Besuch des Präsidenten Bush nach Washington. Und Bush fragte ihn: "Wie wird
Brasilien reagieren, wenn die Vereinigten Staaten den Wunsch äußerten, sich
militärisch im Irak zu engagieren?" Und Lula antwortete: "Herr Präsident
Bush, unser Krieg in Brasilien ist nicht dazu da, Leben zu nehmen, sondern
Leben zu retten." Und ich kann hinzufügen, dass Brasilien sich an der
Invasion des Irak nicht beteiligt hat. Der zweite Grund ist genau der ,
dass wir in Brasilien 53 Millionen Menschen im Zustand chronischer
Unterernährung haben. Weiteres eine sehr hohe Kindersterblichkeit: 29
Kinder von 1000 Neugeborenen sterben. In der ganzen republikanischen
Geschichte Brasiliens gab es nur einen Präsidenten, der aus der Armut kam,
und zwar im Jahre 1909. Lula ist eine andere Ausnahme: er ist der Einzige,
der aus dem Elend kam. Von den zwölf Kindern seiner Mutter sind vier
gestorben, noch bevor sie fünf Jahre alt waren. Lula erinnert sich sehr oft
an die Zeiten seiner Kinderheit. Das ist der dritte Grund.
Unser Bemühen beim Entwerfen des Null-Hunger-Programms war es, keine
Hilfskampagne ins Leben zu rufen. Wir wollten ein Programm öffentlicher
Politiken zur sozialen Eingliederung der Menschen ausarbeiten. Das Prinzip
von Null Hunger" ist: Eine Familie, die von dem Programm begünstigt wird,
muss so weit kommen, dass sie morgen diese Unterstützung nicht mehr
notwendig hat. Was tun also, dass diese 11,4 Millionen Familien, das sind
eben die erwähnten 53 Millionen Menschen, von der sozialen Ausgrenzung zur
Integration gelangen? Es kann sich nicht darum drehen, Lebensmittel zu
sammeln und an die Menschen zu verteilen, denn das führt nicht weiter.
"Null Hunger" ist ein Programm der öffentlichen Politik, das im
wesentlichen auf drei Beinen steht. Das erste ist das
"Familien-Stipendium". Das besteht darin, dass wir jeden Monat an die
ärmsten Familien im Lande ein Geld auszahlen. Heute werden von den 11,4
Millionen, die wir anpeilen, bereits 5 Millionen im Rahmen dieses Programms
begünstigt. Bis Jahresende wollen wir 6,5 Millionen erreichen. Das ist für
uns ein beträchtlicher Fortschritt. Beträchtlich, weil wir damit sogar über
den Zahlen liegen, die wir zu Beginn der Regierungszeit Lulas im Jänner
2003 prognostiziert hatten. Wie läuft nun diese Geldüberweisung ab? Wir
haben einen Kataster mit den Namen dieser Familien. Die Namen werden von
den Bürgermeisterämtern in Zusammenarbeit mit den "Null Hunger-Komitees",
so wie wir sie jetzt nennen, eingetragen. Das sind Organisationen der
lokalen Zivilgesellschaft. Wir haben nämlich Angst, diese Aufgabe allein
den Bürgermeistern anzuvertrauen. Die sind auch nur Menschen, und oft gibt
es Fälle von Korruption, oder sie würden einen Verwandten oder einen Freund
in dieses Verzeichnis eintragen. Es ist also wichtig, dass die
Zivilgesellschaft über diesen Kataster Kontrolle ausübt. Jede Familie
bekommt im Monat 73 Reales, das sind ungefähr 22 Euros. Im Vergleich zu
euren Verhältnissen, ist das natürlich sehr wenig. Aber für Menschen, die
nie etwas hatten oder unter der letzten Regierung vielleicht 7 Euros im
Monat bekamen, bedeutet das viel. Dieses Geld wird direkt an die Frauen
ausgezahlt. Man bräuchte jetzt nur die Frauen fragen, die wüssten, weshalb
wir es nicht an die Männer auszahlen. (Lachen im Publikum) Die Frau bekommt
eine Karte, geht damit jeden Monat zur Bundesbank oder, wenn es die nicht
gibt, dann zum Postamt, und hebt dort das Geld ab. Für jedes Kind im
schulpflichtigen Alter aber nur bis zur Grenze von drei Kindern gibt es
4 Euro mehr. Und für jede Person über 65 Jahre, die im selben Haushalt
lebt, gibt es 60 Euro mehr. Auch für geistig Behinderte gibt es einen
Zuschlag von 62 Euros, das ist der gegenwärtige Mindestlohn in Brasilien
wir führen nämlich eine Kampagne durch, die darin besteht, geistig
Behinderte aus den Anstalten herauszuholen. Und oft zahlen das
Bürgermeisteramt und die Provinzregierung noch etwas dazu. Das ist das
erste Standbein. Dieses Stipendium ist jedoch mit drei Bedingungen
verknüpft: Schulbesuch der Kinder, Teilnahme an einem Gesundheitsprogramm
Untersuchungen, Impfungen usw. und Alphabetisierung. Wir machen auch eine
große Alphabetisierungskampagne zur Zeit. "Null Hunger" ist ja nicht das
Projekt eines einzigen Ministeriums, sondern der gesamten Regierung. Also
der gesamten öffentlichen Hand mit Beteiligung der Zivilgesellschaft.
Hier beginne ich nun mit dem zweiten Standbein des Programms.
Das zweite Standbein ist die Strukturpolitik. Was heißt das? Es genügt
nicht, Geld an die Familien zu überweisen auch wenn einige Leute, die ich
aus diplomatischen Gründen nicht nennen will, glauben, das wäre schon
genug. Wir aber glauben, dass es strukturelle Veränderungen braucht. Und so
gibt es eine ganze Reihe von Politiken mit Beteiligung der
Zivilgesellschaft, um Bedingungen zu schaffen, dass diese Familien selbst
ein Einkommen erwirtschaften und sich sozial in die Gesellschaft
integrieren können. Die wichtigste dieser Bedingungen ist die Agrarreform.
Brasilien ist ein Land, das nie eine Agrarreform erlebte. Wir haben viele
Großgrundbesitze, auf einigen arbeiten die Leute sogar noch wie Sklaven. Es
gibt also einen Nationalplan zur Agrarreform, und es gibt eine Bewegung,
die Bewegung der Landlosen, MST, mit der die Regierung ausgezeichnete
Beziehungen hat. Sie fällt zum Glück nicht in die Falle, die ihr gerne
gelegt wird, nämlich die MST entweder in die Regierung hereinzuholen oder
zu kriminalisieren. Lula ist ja ein Ergebnis der sozialen Bewegungen. Es
wäre ein großer Widerspruch, wenn er nun sozialen Bewegungen cohabitieren
oder unterdrücken wollte. Die Leute von der extremen Rechten stört das
natürlich, wenn die MST weiter mobilisiert, doch das ist schließlich ihr
gutes Recht. Ein Detail dazu. Alle Präsidenten bisher wollten eine
Bevölkerung, die ruhig, unbeweglich ist. Lula ist der erste Präsident, der
neben seiner Kanzlei ein Büro der sozialen Mobilisierung geschaffen.
Das ist das erste Mal, dass sich eine Regierung darum kümmert, die soziale
Mobilisierung zu fördern. Neben der Agrarreform umfasst dieses zweite
Standbein noch Wohnbauförderung, Wasserver- und Entsorgung,
Berufsausbildung, Hausgärten, Gemeinschaftsküchen, Volksrestaurants ein
ganzes Konvolut von Politiken. Bis 2006 sollen 530 000 Familien in den
Genuss der Agrarreform kommen. Die MST wolle eine Million, doch Lula hat
ihnen gesagt: "Schaut, das mit einer Million ist das Wünschenswerte, doch
wir haben nicht die Ressourcen, um das durchzuführen." Neben der
Agrarreform haben wir heuer auch noch mit dem Programm "Null Durst"
begonnen.
(Es folgen nun Ausführungen über ein System der Sammlung von
Regenwasser in Zisternen.)
Mit dem Sammeln von Regenwasser, wodurch die Familien die Zeit der
Trockenheit mit genügend Wasser überstehen können, erreichen wir drei
Emanzipationen: eine politische, eine ökonomische und eine soziale. Eine
politische, weil es in der trockenen Region im Nordosten des Landes ein
ganzes System gibt, das eben von der Ausbeutung der Trockenheit lebt: die
Tankwagen, Wasserverkäufer usw. Eine ökonomische, weil das Wasser der
Familie den Aufbau einer kleinen Landwirtschaft ermöglicht. Noch nie hat
eine Regierung in Brasilien soviel Geld dafür aufgewendet, um eine
familiäre Subsistenzwirtschaft aufzubauen. Es gibt dafür auch Mikrokredite
mit 3 % Verzinsung im Jahr das ist eine Revolution, denn die Banken
verlangen 12 bis 15 % Zinsen im Monat. Und eine soziale Emanzipation, da
die Frauen und Kinder nicht mehr kilometerweit gehen müssen, um Wasser zu
holen und stattdessen in die Schule gehen oder ihrer Arbeit nachgehen
können. Das Wasser wird für den Haushalt und für die Pflanzung verwendet.
Das dritte Standbein des Programms Null Hunger ist die Erziehung. Ihr
werdet wahrscheinlich schon den Namen Paulo Freire gehört haben. Dieser
brasilianische Pädagoge hat die so genannte "Pädagogik der Unterdrückten"
entwickelt. Wenn ihr mich fragt, wieso es in einem Land voller
Ungleichheiten wie Brasilien, wo die Bankiers noch viel reicher sind als in
Europa, ein Mann wie Lula Präsident wird, so würde ich einen
Verantwortlichen nennen: Paulo Freire. Ohne seine Methodologie hätten sich
in Brasilien in den letzten 40 Jahren ein Teil davon noch in der Zeit der
Militärdiktatur, die von 1964 bis 1985 dauerte niemals so viele soziale
Bewegungen gebildet, wie wir sie heute haben. Und Lula ist eine Folge
dieser Entwicklung. Deshalb genügt es nicht, den Hunger nach Brot zu
stillen, sondern auch den Hunger nach Schönheit, nach Kultur, nach den Rechten.
Deshalb haben wir im Rahmen des Hunger Null-Programms so genannte Talleres,
Werkstätten, gegründet. Ein Team von 10 Fachleuten hat 800 ErzieherInnen
ausgebildet, die nun im ganzen Land mit den Menschen daran arbeiten, einen
Paradigmenwechsel herbeizuführen. Zum Beispiel in der Landwirtschaft
alternative Produktionstechniken einzuführen oder andere Produkte anzubauen.
Wir sind überzeugt, dass der Hunger, der das größte Problem in der heutigen
Welt ist, auch wenn nur wenige Menschen davon reden, eine soziale Schande
ist. Es ist eine Schande, dass es zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch
Menschen gibt, die nicht einmal ihre tierischen Bedürfnisse befriedigen
können denn jedes Tier hat das Recht auf Essen. Und diese Schande kann
nur dann beendet werden, wenn es gelingt, das soziale Problem in eine
politische Angelegenheit zu verwandeln. So ist es mit der Sklaverei
passiert, die jahrhundertelang als normal und legal betrachtet und von der
Kirche unterstützt wurde. Oder auch mit der Folter, die lange Zeit als ein
legales Instrument des Verhörs angesehen wurde. Wir müssen den Hunger und
die Armut als eine schwere Verletzung der Menschenrechte betrachten und das
in eine politische Angelegenheit umwandeln. Wenn wir es eines Tages in
unserer Kultur schaffen, Schande zu empfinden, dass es Armut gibt, so wie
wir angesichts der Sklaverei oder der Folter Scham empfinden, dann sind wir
in unserem zivilisatorischen Prozess ein gutes Stück weitergekommen.
Antworten von Frei Betto in der Diskussion:
Freihandelsabkommen ALCA: Die Regierung Lula hat den ursprünglichen Text
des Gesamtlateinamerikanischen Freihandelsabkommens ALCA nicht
akzeptiert. Die Position Brasiliens ist eine kritische. Wir lehnen so ein
Abkommen nicht grundsätzlich und völlig ab; wir versuchen, eine bessere
Form der lateinamerikanischen Integration zu finden. Eine Integration, die
nicht darin besteht, dass unsere Länder von einem anderen Staat annektiert
werden. Deshalb hat Lula versucht, zuerst den MERCOSUR zu reaktivieren und
die Anden-Gruppe Ecuador, Venezuela, Kolumbien, Peru an diese
Gemeinschaft heranzuführen. Brasilien hat Venezuela verteidigt. Und da
möchte ich erwähnen, dass es in der ganzen Geschichte Lateinamerikas noch
nie einen Präsidenten gegeben hat, der so oft demokratisch legitimiert
wurde wie Chávez. Und US-Außenminister Colin Powell, der in dieser Woche
Brasilien besuchte, gab zu, dass Lula recht hatte, als er Bush sagte: Die
Legitimität von Chávez nicht anzuerkennen, bedeutet, neuerlich ein Fenster
zur Rückkehr der Diktaturen nach Lateinamerika zu öffnen.
Beziehung zur Bewegung der Landlosen, MST: Bezüglich der MST kann ich
sagen, dass die Regierung beste Beziehungen zur Landlosen-Bewegung hat.
Bevor ich in die Regierung eintrat, war ich ja Berater der MST. Wir führen
den ganzen Agrareform-Prozess in enger Zusammenarbeit mit der MST durch. Es
stimmt, dass diese Bewegung mit ihren Landbesetzungen fortfährt.
Normalerweise sind es wohlüberlegte Aktionen, bei denen brachliegende,
unproduktive Ländereien besetzt werden. Manchmal kommt es aber auch zu
Irrtümern dabei. Die Mobilisierungen der MST vermitteln der Presse den
Eindruck, dass eine Unzufriedenheit mit der Agrarreform herrscht. Nein, es
gibt vielmehr Unterstützung. Es stimmt, dass die Agrarreform nicht so
schnell voranschreitet, wie Lula es gerne hätte. Heuer hatten wir z.B. ein
großes Problem, nämlich den Streik des technischen Personals des
Agrarreform-Ministeriums. Ein langer Streik. Gerade vor zwei Tagen hat der
Minister dieses Ressorts im Fernsehen bekannt gegeben, dass wir in der
Landverteilung im Rückstand sind. Wir haben bis jetzt an 72 000 Familien
Land verteilt, aber wir werden die 115 000, die wir bis Jahresende geplant
haben, nicht erreichen.
Zusammenarbeit der lateinamerikanischen Länder: Die Beziehungen Brasiliens
zu den anderen lateinamerikanischen Staaten sind ausgezeichnet. Brasilien
ist ja ein Land mit kontinentalen Ausmaßen. Doch trotz dieser Größe haben
wir nicht die geringste imperialistische Anwandlung. Lula ist in den
internationalen Foren so etwas wie ein Sprecher für Lateinamerika geworden.
In Cancún hat Lula an die zwanzig Länder vereinigt, um die WTO zu
veranlassen, ihre Kriterien etwas zu revidieren. Einige haben diese
Konferenz dann als einen Fehlschlag interpretiert, doch für uns war sie ein
Erfolg. Wir haben ein Recht darauf, dass in der WTO ausgewogenere Kriterien
eingeführt werden. Es gibt nun ein interessantes Phänomen: Viele Länder in
Lateinamerika wollen nun auch so etwas machen wie unser "Null
Hunger-Programm". Ich habe schon viele Länder besucht, um unsere
Erfahrungen darzulegen. Wir wollen dieses Modell nicht exportieren, jedes
Land muss so ein Programm gemäß den eigenen Gegebenheiten entwerfen. Wir
betonen aber immer wieder, dass es sich um kein assistenzialistisches, also
um kein Hilfsprogramm handelt. Es ist ein Programm der sozialen Einbeziehung.
Rolle des IWF als Verursacher von Hunger in der Welt und Brasilien;
Rückzahlung der Auslandsschuld: Man muss die Regierung Lula mit zwei
verschiedenen Brillen sehen. Man darf nicht vergessen: Lula hat die Wahlen
gewonnen, doch er hat keine Revolution gemacht. Viele Linke erwarten von
Lula mehr, als er tun kann. Sie betrachten ihn als einen Fidel Castro, der
am 1. Jänner 1959 siegreich in Havanna einzog und die ganzen Strukturen des
Staates, der Justiz usw. übernahm. Nein, Lula hat nur eine Wahl gewonnen,
und das in einem Land mit einem sehr gut organisierten konservativen Lager.
Man kann nicht sagen, dass viele Institutionen des Staates sehr
fortschrittlich wären. Man muss also mit Weisheit und Geduld vorgehen und
verhandeln. Außerdem wurde das Abkommen mit dem IWF von der vorhergehenden
Regierung unterzeichnet. In unserem lateinamerikanischen Bewusstsein ist
uns sehr präsent, dass wir keine Links-Demagogie betreiben dürfen. Die
Regierung untersucht zur Zeit, ob sie das Abkommen mit dem IWF im nächsten
Jahr erneuern wird oder nicht. Und wenn sie es unterschreibt, dann ist die
Frage, wie dieses Abkommen aussieht. Es wird sicher nicht so aussehen wie
das, das Cardoso unterzeichnet hat. Ein anderer Punkt, den man betrachten
muss, ist: Wir sind wohl an die Regierung gekommen, aber das bedeutet
nicht, dass wir an die Macht gekommen wären. Und in unserem Gedächtnis ist
uns noch sehr präsent, dass in zwei Ländern die Menschen glaubten, an die
Regierung zu kommen heißt auch, an die Macht zu kommen: in Chile unter
Salvador Allende und die Sandinisten in Nicaragua. Und die Macht hat ihnen
dann gezeigt, dass sie wohl die Regierung hatten, aber nicht die Gewalt im
Staate. Wir wollen nicht wieder so eine Seite in der Geschichte
Lateinamerikas aufschlagen. Wir wollen das tun, was uns bei den letzten
Gemeindewahlen wieder ein Stück gelungen ist: die Gesamtheit der
brasilianischen Gesellschaft überzeugen, dass wir das beste Programm haben,
um unser Land aus dem Elend, aus der Unterentwicklung herauszuführen, die
sozialen Ungleichheiten zu reduzieren und für die künftigen Generationen
die Bedingungen für ein Leben in Würde zu schaffen. Es braucht viel
Geschick dafür, allmählich immer mehr Parzellen der Macht zu erobern. Darum
dreht es sich. Lula hat gegenwärtig eine Zustimmung von fast 60 Prozent in
der Öffentlichkeit. Er wurde mit knapp über 60 % gewählt. Das bedeutet ein
starkes politisches Kapital. Der Sieg der Arbeiterpartei in 400 wichtigen
Kommunen des Landes, in fünf Hauptstädten und bei der Stichwahl am 31.
Oktober können noch mehr Bürgermeisterämter dazu kommen - , das alles ist
ein wichtiges Kapital, um eine gute Verwaltung aufzubauen. Man muss sich
vor Augen halten, dass wir noch nicht einmal zwei Jahre an der Regierung
sind. Wir können also nicht alle Erwartungen erfüllen. Wir haben auch
unsere Fehler, wir befinden uns in einem Lernprozess. Wie Lula sagte:
"Verlangt von mir keinen vollständigen Kurs für Präsidenten. Das erste
Diplom in meinem Leben, das ich bekam, war das Präsidenten-Diplom. Und
dieses Diplom erhält man, noch bevor man den Kurs macht. Nun beginne ich
erst mit dem Kurs." Das ist etwas, was man in der Praxis lernt und nicht in
der Theorie.
Gesetz zum Grundeinkommen von Anfang 2004: Das Grundeinkommen ist ein
Vorhaben der Arbeiterpartei, ausgearbeitet von einem im Lande sehr
geschätzten Senator aus São Paulo, Eduardo Suplicy. Lula hat dann diesen
Plan offiziell unterzeichnet. Demnach sollen alle Brasilianerinnen und
Brasilianer, unabhängig von ihrer sozialen Klasse, ein Basiseinkommen
erhalten. Ich glaube, dass wir stufenweise in diese Richtung gehen. Wenn
wir unseren Plan erfüllen und bis 2006 11,5 Millionen in den Genuss des
"Null Hunger-Programms" kommen und wenn Lula die Wahlen im Oktober 2006
neuerlich gewinnt, dann werden wir diesen Prozess des Grundeinkommens noch
weiter vertiefen. Das ist eine Verpflichtung, aber auf diesem Weg gibt es
noch viele Hindernisse zu überwinden.
Der Vortrag wurde gehalten am 8. Oktober 2004 im großen Saal der BAWAG,
Seitzergasse 2-4, 1010 Wien
(Transkription: Werner Hörtner)
Ergänzung durch Matthias Reichl:
Gentechnische Nahrungsmittel: Meine Diskussionsbeitrag an Frei Betto: Wie
stehen Sie zum Abrücken der Regierung von der bisherigen gentechnikfreien
Zone Brasilien? Werden nun die Armen mit gentechnischen Nahrungsmitteln
gespeist?
Frei Betto antwortete (zusammengefasst): Er erklärte die Schwierigkeiten
bedingt durch den Anbau von Gentech Pflanzen in den Nachbarstaaten. Doch
die Brasilianer würden - wie er - weiter nur natürlich und ohne Gentechnik
gewachsene Nahrungsmittel essen. Er schilderte diese Einstellung sehr
eindrücklich und überzeugt. Die Gentech-Produktion würde seines Wissens
nach nur ins Ausland (u.a. nach China und Europa) exportiert.
Mein Kommentar dazu: Leider blieb keine Zeit, offene Fragen und
Widersprüche in seiner Antwort zu diskutieren. Denn der Bundesstaat Rio
Grande do Sul - die Heimat des verstorbenen Umweltaktivisten José
Lutzenberger - war bis vor kurzem eine gentechnikfreie Zone bis sich
Monsanto mit seinen GentechFood-Plantagen durchsetzte. Ob der Nachbarstaat
Santa Catarina sein Durchfuhrverbot für Gentechprodukte lange durchhalten
wird, ist fraglich. Also wird - wie in der EU - die Gentechnik in
Billigprodukten schrittweise das Land überschwemmen und kontaminieren?
Matthias Reichl
Frei Betto: Zero Hunger Social Mobilization. Federal Republic of Brazil.
(Mit Texten von Präsident Lula zur Beseitigung des Hungers in Brasilien).
2004 FOMEZERO (www.fomezero.gov.br). Kostenlos
Hunger ist kein Schicksal. Beiträge u. a. von Jean Ziegler und zu Landlosen
in Brasilien, redigiert v. Wolfgang Kessler (Publik-Forum) u. Armin Paasch
(FIAN-Deutschland). Dossier-Beilage in "Publik-Forum" Nr. 18/2004.
Publik-Forum Verlagsgesellschaft. 3,40
-------------------------------------------------------------------------------------------------
Jean Ziegler - UN-Botschafter für den Kampf gegen den Hunger - berichtet in
einem seiner Dossiers über den wachsenden Hunger unter den Palästinensern
(v.a. auch unter den Kindern), verursacht primär durch die
Unterdrückungspolitik der israelischen Regierung. Israelische Politiker
fordern von der UNO die Entlassung von Jean Ziegler.
Mehr dazu demnächst im Info 156.
M.R.
========================================
Matthias Reichl
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
Wolfgangerstr.26
A-4820 Bad Ischl
Tel. +43-6132-24590
e-mail: mareichl at ping.at
http://www.begegnungszentrum.at
Mehr Informationen über die Mailingliste E-rundbrief