[E-rundbrief] Info 124 - Arundhati Roy: Wie tief sollen wir graben? Gewalt des Staates...

Matthias Reichl mareichl at ping.at
Mo Jul 5 22:07:38 CEST 2004


E-Rundbrief - Info 124 - Arundhati Roy: Wie tief sollen wir graben?  Gewalt 
des Staates und gewaltfreier Widerstand durch 
Graswurzel-Widerstandsbewegungen - in Indien und weltweit.

Bad Ischl, 27.6.2004

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

==================================================================

Gewalt des Staates und gewaltfreier Widerstand durch 
Graswurzel-Widerstandsbewegungen - in Indien und weltweit.

Am 6. April 2004 hielt die bedeutende indische Schriftstellerin und 
Aktivistin Arundhati Roy einen großen Vortrag an der Aligarh Muslim 
University. Obwohl in Indien inzwischen Wahlen stattgefunden haben und eine 
neue Regierung gebildet wurde (siehe hierzu von Arundhati Roy: "Die 
Dunkelheit weicht
") hat dieser Text nichts von seiner Brisanz und 
Aktualität eingebüßt. Roy zeigt ausführlich staatliche Gewalttaten auf und 
geht der Frage nach, wie einfache Menschen auf den Angriff eines zunehmend 
gewalttätigeren Staates reagieren können. Obwohl sie sieht, dass der Boden, 
auf welchem gewaltfreier Widerstand fruchtbar sein kann, ziemlich 
ausgetrocknet worden ist, setzt sie sich nachhaltig für gewaltfreien 
Widerstand durch Graswurzel-Widerstandsbewegungen ein.

Wie tief sollen wir graben?

Von Arundhati Roy

ZNet 01.05.2004

Kürzlich erzählte mir ein junger Freund aus Kashmir über das Leben dort. 
Über den Morast politischer Käuflichkeit und über Opportunismus; über die 
metallische Gewalt der Sicherheitskräfte, den sich formenden scharfen 
Kanten, die sich schärfen, unter dem Druck einer von Gewalt übersättigten 
Gesellschaft, in welcher Militante, PolizistInnen, BeamtInnen des 
Geheimdienstes, Regierungsangestellte, Geschäftsleute, und sogar 
JournalistInnen, aufeindandertreffen, und sich langsam, im laufe der Zeit, 
immer ähnlicher werden. Er sprach davon, dass er mit diesen niemals 
endenden Ermordungen leben muss, den immer mehr werdenden "Vermissten", dem 
Flüstern, der Furcht, den unaufgeklärten Gerüchten, der wahnsinnigen Kluft 
zwischen dem was wirklich passiert, von dem, was die Menschen in Kashmir 
selbst vor Augen haben, und dem, was dem Rest von uns über die Ereignisse 
in Kashmir erzählt wird. Er sagte: "Kashmir war einmal ein Geschäft. Jetzt 
ist es ein Irrenhaus".

Je öfters ich über diese Bemerkung nachdenke, umso passender scheint mir 
diese Beschreibung für ganz Indien. Man muss zugeben, dass Kashmir und der 
Nordosten separate Flügel sind, welche den gefährlicheren Trakt der Anstalt 
beherbergen. Aber auch im Herzen des Landes ist die Spaltung zwischen 
Wissen und Information, zwischen dem was wir wissen, und dem was uns gesagt 
wird, zwischen dem was man nicht weiß, und dem was behauptet wird, zwischen 
dem was verborgen ist, und dem was ans Licht kommt, zwischen Fakt und 
Dichtung, zwischen der "echten" Welt und der angeblichen Welt, zu einem Ort 
nie endender Spekulation und potentiellem Wahnsinn geworden. Es ist ein 
gefährliches Gemisch, das hier gebraut wird, das umgerührt und am sieden 
gehalten wird, und welches einem ekelerregenden, zerstörerischen 
politischen Ziel dient.

Jedesmal wenn es einen sogenannten "Terroranschlag" gibt, eilt die 
Regierung herbei, um eifrig schuldzusprechen, mit wenig oder gar keinen 
Untersuchungen. Der Brandanschlag auf den Sabarmati Express in Godhra, der 
Angriff auf das Parlamentsgebäude am 13. Dezember, oder die Massaker an 
Sikhs, welche von so genannten "Terroristen" in Chittisinghpura begangen 
worden sein sollen, sind nur einige Beispiele, welchen große Aufmerksamkeit 
geschenkt worden ist. (Die sogenannten Terroristen, welche später von den 
Sicherheitskräften ermordet worden sind, stellten sich als unschuldige 
Dorfbewohner heraus. Die Regierung dieses Bundesstaates hat anschließend 
zugegeben, dass gefälschte Blutproben zur Durchführung von DNA-Tests 
abgegeben worden sind).

In jedem dieser Fälle führte das Faktenmaterial das langsam an die 
Oberfläche kam zu unangenehmen Fragen, und so wurde dieses sofort unter 
Verschluss genommen. Man betrachte den Fall Godhras: gleich nachdem es 
passiert ist, verkündete der Innenminister, dass dies ein Komplott des 
[pakistanischen Geheimdienstes] ISI war. Die VHP [Hindi-Abkürzung für 
"Weltrat der Hindus", eine nationalistische Partei] sagt, dass dies das 
Werk eines muslimischen Mobs war, welcher Brandbomben warf. Wichtige Fragen 
bleiben unbeantwortet. Die ununtermauerten Behauptungen hören nie auf. 
Jeder glaubt, was er oder sie glauben will, aber der Vorfall wird zynisch 
und systematisch dazu benutzt kommunale Raserei anzustacheln.

Die US Regierung nutzt die Lügen und Desinformation, welche sie um die 
Angriffe am 11. September herum schuf, nicht nur für die Invasion eines 
Landes, sondern von zweien - und wer kann sagen, was noch auf uns zukommt.

Die indische Regierung nutzt die gleiche Strategie nicht nur im Umgang mit 
anderen Ländern, sondern auch gegen ihre eigene Bevölkerung.

Im letzten Jahrzehnt ist die Zahl der Menschen, welche von den Polizei- und 
Sicherheitskräften getötet worden sind, im Bereich der Zehntausende 
gewesen. Kürzlich sprachen mehrere Polizisten aus Bombay offen mit der 
Presse darüber, wieviele "Gangster" sie auf "Befehl" von führenden Beamten 
eliminieren mussten. Andhra Pradesh kommt auf ungefähr 200 
"ExtremistInnen", welche im Durchschnitt jedes Jahr bei "Zusammenstößen" 
sterben. In Kashmir, in einer Situation, welche beinahe einem Krieg 
gleichkommt, wird geschätzt, dass 1989 ungefähr 80.000 Menschen getötet 
worden sind. Tausende sind einfach "verschwunden". Laut Aufzeichnungen der 
Vereinigung von Eltern verschwundener Menschen sind 2003 in Kashmir mehr 
als 3.000 Menschen getötet worden, von denen 468 Soldaten waren. Seit die 
Regierung Mufti Mohammed Sayeeds im Oktober 2002 mit dem Versprechen an die 
Macht kam, "eine Heilende Wirkung" mitzubringen, gab es laut dieser 
Vereinigung 54 Tote in den Gefängnissen.

In diesem Zeitalter des Hyper-Nationalismus können die Mordenden, solange 
die Menschen, welche getötet werden, als Verbrecher, Terroristen, 
Aufständische oder Extremisten bezeichnet werden, als Krieger in einem 
Kreuzzug für das nationale Interesse herumstolzieren, und sind niemandem 
Rechenschaft schuldig. Auch wenn es wahr wäre (was es sicherlich nicht 
ist), dass jede Person, welche ermordet worden ist, tatsächlich ein 
Gangster, Terrorist, Aufständischer oder Extremist war - so sagt uns dies 
lediglich, dass mit einer Gesellschaft in welcher so viele Menschen zu so 
verzweifelten Maßnahmen gezwungen werden etwas ganz falsch laufen muss.

Die Neigung des indischen Staates Menschen zu verfolgen und zu beleidigen 
ist durch das Gesetz zur Verhinderung von Terrorismus (GVT, engl.: 
Prevention of Terrorism Act, POTA) institutionalisiert und heilig 
gesprochen worden. Es ist bereits in 10 Bundesstaaten ratifiziert worden. 
Man sieht schon nach einmaligem durchblättern des GVT, dass dieses Gesetz 
drakonisch ist und alles betrifft. Es ist ein für viele Zwecke einsetzbares 
Gesetz, welches jeden anvisieren könnte - vom Al Kaida Anführer, der mit 
einem Vorrat an Sprengstoff ertappt wird, bis zu einem Adivasi, der unter 
einem Neem-Baum Flöte spielt, auch dich, auch mich. Die Genialität des GVT 
ist, dass alles sein kann, was die Regierung gern hätte. Wir sind von der 
Gunst jener abhängig, die uns regieren. In Tamil Nadu ist es dafür benutzt 
worden um Kritik an der Regierung dieses Bundesstaats zum Schweigen zu 
bringen. In Jharkhand wurden im Rahmen des GVT 3200 Personen angeklagt, 
hauptsächlich arme Adivasis, denen vorgeworfen wird, Maoisten zu sein. Im 
Osten Uttar Pradeshs wird das Gesetz dafür benutzt, jene zu bestrafen, 
welche es wagen gegen die Entfremdung ihres Landes zu protestieren und 
gegen die Zunichtemachung ihres Rechts auf ein würdiges Leben. In Gujrat 
und Mumbai wird es fast ausschließlich gegen Muslime eingesetzt. In Gujarat 
wurden nach dem staatlich unterstützten Pogrom des Jahres 2002, in welchem 
schätzungsweise 2000 Muslime getötet und an die 150.000 aus ihren Heimen 
verjagt worden sind, im Rahmen des GVT 287 Personen angeklagt. Von diesen 
sind 286 Muslime und einer ist ein Sikh!

Das GVT gestattet es Geständnisse, welche in Polizeigefangenschaft 
erzwungen worden sind, als juristischen Beweis gelten zu lassen. Das GVT 
hat somit den Effekt, dass polizeiliche Folter die polizeiliche 
Untersuchung ablösen wird. Das ist schneller, billiger, und garantiert 
Ergebnisse. Das fällt wohl unter Sparmaßnahmen bei öffentlichen Ausgaben.

Letzten Monat war ich ein Mitglied eines Volkstribunales, das sich mit dem 
GVT befasste. In einem Zeitraum von zwei Tagen hörten wir grauenhafte 
Zeugenaussagen darüber, was in unserer wunderschönen Demokratie vor sich 
geht. Ich kann versichern, dass es auf unseren Polizeistationen alles gibt: 
Menschen werden gezwungen Urin zu trinken, sich ausziehen zu lassen, sie 
werden gedemütigt, sie bekommen Elektroschocks, werden mit Zigarettenenden 
verbrannt, Eisenstäbe werden in ihren After geschoben, sie werden 
geschlagen und zu Tode getreten.

Als Konsequenz des GVT wurden überall im Land Menschen, auch einige sehr 
junge Kinder, angeklagt und eingesperrt; es kann keine Kaution gestellt 
werden, und sie erwarten eine Verhandlung in einem speziellen GVT-Gericht, 
welches keiner öffentlichen Kontrolle untersteht. Eine Mehrheit von jenen, 
welche aufgrund des GVT eingesperrt wurden, sind an einem dieser beiden 
Verbrechen schuldig: Entweder sie sind arm - und meistens kastenlos oder 
Adivasis. Oder sie sind Muslime. Das GVT dreht das akzeptierte Diktum des 
Strafgesetzes um - dass nämlich eine Person solange unschuldig ist bis ihre 
Schuld bewiesen ist. Unter dem GVT, kommst du nicht auf Kaution frei, wenn 
du nicht beweisen kannst, dass du unschuldig bist - unschuldig eines 
Verbrechen, dessen man gar nicht formell angeklagt worden ist. Im Endeffekt 
musst du beweisen, dass du unschuldig bist, auch wenn du dir nicht denken 
kannst, was für eines Verbrechen du bezichtigt wirst. Und das betrifft uns 
alle. Technisch gesehen sind wir eine Nation, welche darauf wartet, 
angeklagt zu werden.

Es wäre naiv anzunehmen, dass das GVT "missbraucht" wird. Ganz im 
Gegenteil. Es wird genau für jene Zwecke verwendet, für welche es erlassen 
worden ist. Natürlich wird das GVT bald überflüssig sein, wenn die 
Vorschläge des Malimath Komitees umgesetzt werden. Das Malimath Komitee 
schlägt vor, dass in gewissen Bereichen das gewöhnliche Strafgesetz mit den 
Bestimmungen des GVT in Übereinstimmung gebracht werden soll. Es wird dann 
keine Kriminellen mehr geben. Nur noch Terroristen. Das ist ziemlich schick.

Schon heute erlaubt es das Militärische Sonderermächtigungsgesetz, dass 
nicht nur Offiziere, sondern auch niedrigrangigeres Armeepersonal, 
gegenüber jeder Person die sie verdächtigen, die öffentliche Ordnung zu 
stören oder eine Waffe zu tragen, Gewalt anzuwenden, und sie sogar zu 
töten. Auf Verdacht! Niemand der in Indien lebt kann sich darüber 
hinwegtäuschen, wozu das führen wird. Die Berichte von Folterungen, Leute 
die verschwinden, Tode in Gefangenschaft, Vergewaltigung und 
Gruppen-Vergewaltigung (durch Sicherheitskräfte), reichen aus, um einem das 
Blut in den Adern kalt werden zu lassen. Die Tatsache, dass Indien trotz 
all diesem in der internationalen Gemeinschaft und unter seiner 
Mittelschicht einen Ruf als legitime Demokratie beibehalten kann, ist ein 
Triumph.

Das Militärische Sonderermächtigungsgesetz ist eine verschärfte Version der 
Verordnung, die Lord Linlithgow 1942 erlassen hat, um mit der Quit 
India-Bewegung fertig zu werden. 1958 wurde sie in Gebieten in Manipur in 
Kraft gesetzt, welche mit "disturbed" bezeichnet wurden. 1964 wurde das 
ganze Mizoram, damals noch teil von Assam, als "disturbed" deklariert. 1972 
wurde der Akt auf Tripura ausgeweitet. Bis 1980 ist ganz Manipur für 
"disturbed" erklärt worden. Was für weitere Beweise sollte irgendjemand 
noch verlangen, bevor es klar ist, dass repressive Maßnahmen das Gegenteil 
von dem bewirken, wozu sie gedacht sind, und das Problem verschlimmern?

Einher mit dieser verkommenen Bereitwilligkeit, Menschen zu unterdrücken 
und auszulöschen, geht die kaum verborgene Abgeneigtheit des indischen 
Staates, Fälle, in welchen es jede Menge Beweise gibt, zu untersuchen und 
vor ein Gericht zu bringen: das Massaker an 3000 Sikhs in Delhi, im Jahr 
1984; die Massaker an Muslimen in Bombay 1993 und in Gujarat 2002 (es gab 
bis heute keine einzige Verurteilung!); der Mord der vor wenigen Jahren an 
Chandrashekhar, dem früheren Präsidenten der JNU Studentenvereinigung, 
verübt worden ist; der Mord vor zwölf Jahren an Shankar Guha Nyogi von den 
Chattisgarh Mukti Morcha; das sind nur einige wenige Bespiele. Berichte von 
AugenzeugInnen und eine Menge beschuldigender Beweise sind nicht genug, 
wenn die ganze Maschinerie des Staates gegen dich steht.

Inzwischen informieren uns jubelnde Ökonomen von den Seiten der 
Wirtschaftszeitungen aus, dass die Wachstumsrate des BIPs phänomenal ist, 
so etwas hat es noch nicht gegeben. Die Geschäfte sind mit Konsumgütern 
überfüllt. Die Regierungswarenhäuser sind mit Getreide überfüllt. Außerhalb 
dieses Kreises des Lichts bringen sich Bauern zu Hunderten um, weil sie so 
stark verschuldet sind. Berichte von Hungertoten und Unterernährung kommen 
aus dem ganzen Land. In der gleichen Zeit lässt die Regierung zu, dass 63 
Millionen Tonnen Getreide in ihren Speichern verrotten. 12 Millionen Tonnen 
wurden exportiert und zu einem subventionierten Preis verkauft, den die 
indische Regierung den Armen in Indien nicht anbieten wollte.

Utsa Patnaik, der bekannte Agrarökonom, hat für einen Zeitraum von fast 
einem Jahrhundert die Verfügbarkeit und den Verbrauch von Nahrungsgetreide 
(foodgrain) in Indien aus offiziellen Statistiken heraus berechnet. In der 
Zeit zwischen den frühen Neunzigern und 2001 ist die Aufnahme von 
Nahrungsgetreide auf ein niedrigeres Niveau als in der Zeit des Zweiten 
Weltkrieges gefallen, niedriger als während der Hungersnot in Bengalen, in 
welcher 3 Millionen Menschen verhungerten. Wie wir von den Arbeiten 
Professors Amartya Sen wissen, sehen Demokratien Hungertote nicht gern. Sie 
ziehen zuviel ungewollte Aufmerksamkeit der "Freien Presse" auf sich.

Also ist heute gefährliche Unterernährung und permanenter Hunger das 
bevorzugte Modell. 47% der unter drei-jährigen Kinder in Indien leiden an 
Unterernährung, 46% wurden so in ihrer Entwicklung gehemmt. Utsa Ptanaiks 
Studie zeigte, dass 40% der ländlichen Bevölkerung Indiens den gleichen 
Verbrauch von Nahrungsgetreide hat wie das Afrika südlich der Sahara. Heute 
isst eine durchschnittliche ländliche Familie im Jahr ungefähr 100 kg 
weniger Nahrung als Anfang der 90er. In den letzten fünf Jahren gab es den 
stärksten Anstieg der Ungleichheit zwischen Land und Stadt seit der 
Unabhängigkeit.

Aber im städtischen Indien siehst du, wo auch immer du hingehst, ob in 
Geschäfte, Restaurants, Bahnhöfe, Flughäfen, Gymnasien oder in 
Krankenhäuser, überall Fernsehschirme, in welchen Wahlversprechen bereits 
wahr geworden sind. Indien glänzt, Feeling Good. Und wenn der Stiefel eines 
Polizisten auf die Rippen eines Menschen tritt, musst du nur deine Ohren 
verschließen, um das Übelkeit erregende Brechen nicht zu hören; du musst 
nur deine Augen vom Schmutz, den Slums, den zerlumpten gebrochenen Leuten 
auf der Straße wegheben und einen freundlichen Fernsehschirm suchen, und du 
wirst in dieser wunderschönen Welt sein. Die singende, tanzende Welt von 
Bollywoods nie endendem Hüftschwung, von immer privilegierten, immer 
glücklichen InderInnen, welche die indische Tricolore halten, Feeling Good. 
Es wird immer schwieriger und schwieriger zu sagen, was die echte Welt und 
was die gefälschte ist. Gesetze wie das GVT sind wie Knöpfe auf dem 
Fernseher. Man kann sie benutzen um die Armen auszuschalten, die Störenden, 
die Ungewollten.

In Indien findet eine neue Art von Abspaltungsbewegung statt. Werden wir 
das Neuen Sezessionismus nennen? Es ist eine Umkehrung des Alten 
Sezessionismus. Wenn Menschen die in Wirklichkeit Teil einer ganz anderen 
Wirtschaft, eines ganz anderen Landes, eines ganz anderen Planeten sind, 
vorgeben, dass sie von hier sind. Es ist jene Art von Sezessionismus, in 
welchem eine relativ kleine Gruppe von Leuten unglaublich reich wird, indem 
sie alles für sich beansprucht - Land, Flüsse, Wasser, Freiheit, 
Sicherheit, Würde, fundamentale Rechte, wie das Recht zu protestieren - und 
das alles einer großen Gruppe von Menschen wegnimmt. Es ist eine vertikale 
Abspaltung, nicht eine horizontale, bzw. eine territoriale. Es ist die 
wirkliche strukturelle Anpassung - jene Art, welche das glänzende Indien 
von Indien trennt. Das Indien, die GmbH von Indien, dem öffentlichen 
Unternehmen.

Es ist eine Art von Abspaltung, in welcher die öffentliche Infrastruktur, 
der produktive öffentliche Besitz - Wasser, Elektrizität, Transport, 
Telekommunikation, Gesundheitsdienste, Bildung, natürliche Ressourcen - 
Besitz, den der indische Staat als Verwalter für die Menschen halten 
sollte, welche er repräsentiert - vom Staat an private Unternehmen verkauft 
werden. In Indien leben siebzig Prozent der Bevölkerung - 
siebenhundertmillionen Menschen - in ländlichen Gebieten. Ihr Lebend hängt 
vom Zugang zu natürlichen Ressourcen ab. Wenn diese ihnen weggerissen und 
als Gut an private Unternehmen verkauft werden, beginnt das eine Enteignung 
und Verarmung in einem barbarischen Umfang zu werden.

Die Indien-GmbH wird bald von einigen wenigen Unternehmen und großen 
multinationalen Konzernen besessen werden. Die Vorsitzenden dieser 
Unternehmen werden das Land kontrollieren, seine Infrastruktur und seine 
Ressourcen, seine Medien und seine JournalistInnen, aber sie werden seinen 
Menschen gegenüber keine Verpflichtungen haben. Sie sind auf keine Weise 
zur Verantwortung zu ziehen - weder legal, sozial, moralisch oder 
politisch. Jene, welche sagen, dass in Indien einige wenige dieser 
Vorsitzenden mächtiger als der Premierminister sind, wissen genau, was sie 
sagen.

Abgesehen von den wirtschaftlichen Folgen von all diesem, auch wenn alles 
so wäre, wie es präsentiert wird (was es nicht ist) - wundervoll, 
effizient, bemerkenswert, usw. - , ist die Politik, die damit einhergeht, 
akzeptabel für uns? Wenn der indische Staat sich entschließt seine 
Verantwortungen an eine Hand von Korporationen zu verpfänden, bedeutet das, 
dass dieses Wahltheater, welches gerade jetzt in all seiner Heftigkeit 
abgespielt wird, ganz ohne Bedeutung ist? Oder wird dem weiterhin eine 
Rolle zukommen?

Der Freie Markt (der in der Wirklichkeit ganz und gar nicht frei ist) 
braucht den Staat, und braucht ihn dringend. Während die Kluft zwischen den 
Reichen und Armen wächst, ist die Arbeit für den Staat in armen Ländern 
klar vorgegeben. Korporationen welche auf Jagd nach besonders 
entgegenkommenden Geschäften sind, welche enorme Profite für sie bedeuten, 
können diese Geschäfte in Entwicklungsländern nicht ohne die aktive 
Beihilfe der Staatsmaschinerie erzwingen und diese Projekte ohne diese 
nicht verwalten. Heute braucht die Globalisierung der Konzerne eine 
internationale Vereinigung von loyalen, korrupten, am besten autoritären 
Regierungen in armen Ländern, um unpopuläre Reformen durchzusetzen und 
Aufstände niederzuschlagen. Das wird so bezeichnet: "Ein gutes 
Investitionsklima schaffen".

Wenn wir in diesen Wahlen wählen, werden wir wählen, welcher politischen 
Partei wir gerne die gewaltvolle, repressive Macht des Staates übergeben 
wollen.

Gerade jetzt müssen wir in Indien die gefährlichen Querströmungen von 
neoliberalem Kapitalismus und kommunalem Faschismus angehen. Während das 
Wort Kapitalismus seinen Glanz noch nicht ganz verloren hat, wirkt die 
Benutzung des Wortes Faschismus oft beleidigend. Also müssen wir uns 
fragen, ob wir das Wort zu leichtfertig verwenden. Übertreiben wir unsere 
Situation, oder ist das, was wir täglich erleben, als Faschismus einzuordnen?

Wenn eine Regierung mehr oder weniger offen ein Pogrom gegen Mitglieder 
einer Minderheit unterstützt, in welchem bis zu zwei tausend Menschen 
brutal getötet werden, ist das Faschismus? Wenn Frauen aus dieser 
Minderheit öffentlich vergewaltigt und verbrannt werden, ist das 
Faschismus? Wenn die Machthaber sich zusammentun um sicherzustellen, dass 
niemand für diese Verbrechen bestraft wird, ist das Faschismus? Wenn 
150.000 Menschen von ihren Häusern vertrieben werden, in Ghettos gesteckt 
und wirtschaftlich und sozial boykottiert werden, ist das Faschismus? Wenn 
die kulturelle Gilde, welche im ganzen Land Hasslager betreibt, den Respekt 
und die Bewunderung des Premierministers, des Innenministers, des 
Justizministers und des Desinvestierungs-Ministers bekommt, ist das 
Faschismus? Wenn MalerInnen, AutorInnen, Intellektuelle und Filmemacher die 
protestieren, missbraucht und bedroht werden, ihre Arbeit verbrannt, 
verboten und zerstört wird, ist das Faschismus? Wenn eine Regierung ein 
Edikt erlässt, welches die willkürliche Abänderung von Schulbüchern 
vorschreibt, ist das Faschismus? Wenn Mobs Archive alter historischer 
Dokumente überfallen und verbrennen, wenn jeder noch so kleine Politiker 
sich als professioneller Historiker des Mittelalters und Archäologe 
ausgibt, wenn gewissenhafte wissenschaftliche Arbeit durch populistische 
Behauptungen zunichte gemacht wird, ist das Faschismus? Wenn Mord, 
Vergewaltigung, Vergiftung und Lynchjustiz von der Partei an der Macht und 
ihrem Stall voller braver Intellektueller als angemessene Antwort auf eine 
echte oder eingebildete historische Ungerechtigkeit, die Jahrhunderte 
zurückliegt, zugelassen werden, ist das Faschismus? Wenn die Mittelschicht 
und alle jene, denen es sehr gut geht, dann einen Moment stehen bleiben, 
Tut-Tut machen, und dann mit ihren Leben weitermachen, als wäre nichts 
gewesen, ist das Faschismus? Wen der Premierminister, welcher all diesem 
vorsteht, als Staatsmann und Visionär gepriesen wird, legen wir dann nicht 
die Fundamente für einen schrankenlosen Faschismus?

Dass die Geschichte der unterdrückten und bezwungenen Menschen zum Großteil 
ungeschrieben bleibt, ist eine Binsenweisheit, die nicht nur auf die 
Savarna Hindus zutrifft. Wenn die Politik, historische Ungerechtigkeiten zu 
rächen, der Weg ist den wir gehen wollen, dann haben sicherlich auch die 
Daliten und Adivasis in Indien das Recht zu morden, zu vergiften und nach 
belieben zu zerstören?

In Russland sagt man, dass die Vergangenheit unvorhersehbar ist. In Indien, 
wissen wir aufgrund unserer jüngsten Erfahrung mit den Geschichtsbüchern in 
der Schule, wie wahr das ist. Jetzt müssen alle "pseudo-weltlichen Leute" 
hoffen, dass die Archäologen, welche unter der Babri Majid Moschee graben, 
keine Überreste eines Ram-Tempels finden. Aber auch wenn es wahr wäre, dass 
ein Hindu-Tempel unter jeder Mosche Indiens liegt, was war unter dem 
Hindu-Tempel? Vielleicht ein anderer Hindu-Tempel, für einen anderen Gott. 
Vielleicht eine buddhistische Stupa. Sehr wahrscheinlich ein 
Adivasi-Schrein. Die Geschichte begann nicht mit dem Savarna Hinduismus, 
oder? Wie tief sollen wir graben? Wie viel sollten wir umwerfen? Und warum 
werden Muslime, welche sozial, kulturell und wirtschaftlich ein 
untrennbarer Teil Indiens sind, als fremd bezeichnet, während die Regierung 
zugleich eifrig Geschäfte mit Konzernen macht und Verträge für 
Entwicklungshilfe mit einen Land abschließt, das uns für Jahre 
kolonialisiert hat?

Zwischen 1876 und 1892, während der großen Hungersnöte, verhungerten 
Millionen Inder, während die britische Regierung weiterhin Nahrung und 
Rohmaterial nach England exportierte. Historische Aufzeichnungen schätzen, 
dass zwischen 12 und 29 Millionen Menschen starben. Das sollte bei der 
Politik der Rache auch eine gewisse Rolle spielen, oder etwa nicht? Oder 
macht Rache nur Spaß, wenn die Opfer verwundbar und leicht anzugreifen sind?

Erfolgreicher Faschismus braucht harte Arbeit. Und diese ist auch nötig, um 
"Ein gutes Investitionsklima zu schaffen". Arbeiten die beiden gut 
zusammen? Historisch gesehen haben sich Korporationen selten vor Faschisten 
geziemt. Korporationen wie Siemens, I.G. Farben, Bayer, IBM und Ford 
machten mit den Nazis Geschäfte. Wir haben die aktuelleren Beispiele 
unserer eigenen Konföderation der Indischen Industrie (CII), welche auch 
noch nach dem Pogrom des Jahres 2002 mit der Regierung Gujarats Geschäfte 
macht. So lange wie unsere Märkte offen sind, wird ein bisschen selbst 
angebauter Faschismus keinem guten Geschäft in die Quere kommen.

Es ist interessant zu bemerken, dass gerade zu jener Zeit, in welcher 
Manmohan Singh, damaliger Finanzminister, die indischen Märkte auf den 
Neoliberalismus einstellte, L.K. Advana seine erste Rath Yatra 
veranstaltete, die den Zorn der ländlichen Bevölkerung aufwiegelte, und uns 
für den Neo-Faschismus vorbereitete. Im Dezember 1993 zerstören 
randalierende Mobs die Babri Majid Moschee. 1993 unterzeichnete die 
Regierung von Maharashtra ein Energiekauf-Abkommen mit Enron. Das war das 
erste private Energieprojekt in Indien. Der Vertrag mit Enron, so desaströs 
er sich auch entpuppte, startete die Zeit der Privatisierung in Indien. 
Jetzt, wenn die Kongress-Partei von den Zuschauertribünen aus jammert, hat 
die BJP den Prügel aus ihren Händen gerissen. Die Regierung veranstaltet 
ein außergewöhnliches Doppelkonzert. Während der eine Arm damit beschäftigt 
ist, die Reichtümer der Nation in großen Stücken auszuverkaufen, 
organisiert der andere Arm, um Aufmerksamkeit abzulenken, einen bellenden, 
schreienden und krankhaften Kultur-Nationalismus. Die unerbitterliche 
Rücksichtslosigkeit des einen Projekts nährt direkt den Wahnsinn des anderen.

Auch wirtschaftlich betrachtet ist dieses Doppelkonzert ein gangbarer Weg. 
Ein Teil der enormen Profite, welche in diesem Prozess der totalen 
Privatisierung (und dem Anwachsen des Glänzenden Indiens) entstehen, geht 
in die Finanzierung von Hindutvas riesiger Armee - dem RSS, dem VHP, dem 
Bajrang Dal, und an eine Vielzahl anderer Organisationen, welche Schulen, 
Spitäler und soziale Dienste verwalten. Der Hass, den sie predigen, 
verbunden mit der unaufhaltsamen Frustration, welche durch die 
rücksichtslose Verarmung und Enteignung durch das Globalisierungsprojekt 
der Konzerne entsteht, schürt die Gewalt von Arm gegen Arm - die perfekte 
Rauchwand, hinter welcher man die Strukturen der Macht intakt und ungestört 
arbeiten lassen kann.

Aber es ist nicht immer genug die Frustration der Menschen in Gewalt 
umzulenken. Um ein "Gutes Investitionsklima zu schaffen", muss der Staat 
oft selbst eingreifen.

In den letzten Jahren hat die Polizei bei friedlichen Demonstrationen 
wiederholt Feuer auf unbewaffnete Menschen eröffnet, meistens Adivasis. In 
Nagarnar, Jharkhand; in Mendi Kheda, Madhya Pradesh, in Umergaon, Gujarat; 
in Rayagara und Chilika, Orissa; in Muthang und in Kerala sind Menschen 
getötet worden. Wenn es arme Menschen sind, und besonders Dali oder 
Adivasi-Gemeinschaften, werden sie dafür umgebracht, einen Wald zu 
betreten, (Muthanga), und auch wenn sie versuchen ihren Wald und ihr Land 
vor Dämmen, Bergbauarbeiten oder Schwerindustrie zu schützen (Koel Karo, 
Nagarnar). Der Widerstand geht weiter und weiter - Jambudweep, Kashipur, 
Maikanj.

Fast jedesmal wenn die Polizei auf Menschen schießt, werden jene, die 
beschossen worden sind, sofort Militante genannt (PWG, MC, ISI, LTTE).

Wenn die Opfer sich weigern Opfer zu bleiben, werden sie Terroristen 
genannt, und man geht mit ihnen auch so um. POTA ist ein 
Breitspektrumantibiotikum gegen die Krankheit Widerstand. Es gibt andere, 
spezifischere, Schritte, welche auch unternommen werden - Gerichtsurteile 
welche die Redefreiheit, das Recht zu streiken und das Recht zu leben 
einschränken. Die Ausgänge werden alle verschlossen. Dieses Jahr haben 181 
Länder bei einer UNO-Versammlung für den verstärkten Schutz der 
Menschenrechte in der Zeit des Kriegs gegen den Terror gestimmt. Sogar die 
USA stimmte dafür. Indien enthielt sich der Stimme. Es wird alles für einen 
Großangriff auf die Menschenrechte vorbereitet.

Wie können also einfache Menschen auf den Angriff eines zunehmend 
gewalttätigeren Staat reagieren?

Der Boden auf welchem gewaltfreier Widerstand fruchtbar sein kann, ist 
ausgetrocknet worden. Nach mehrjährigen Anstrengungen stehen mehrere 
gewaltfreie Widerstandsbewegungen jetzt mit dem Rücken zur Wand, und fühlen 
ganz richtig, dass sie jetzt ihre Richtung ändern müssen. Ansichten 
darüber, welche Richtung das sein soll, sind zutiefst polarisiert. Es gibt 
jene welche glauben, dass ein bewaffneter Kampf der einzige Weg ist, der 
noch übrig bleibt. Lässt man auch fürs erste Kashmir und den Nordosten 
beiseite, so gibt es ganze Ketten von Gebieten, ganze Distrikte in 
Jharkhand, Bihar, Uttar Pradesh, Madhya Pradesh und UP, die jetzt von jenen 
kontrolliert werden, die dieser Ansicht sind. Andere glauben immer stärker, 
dass sie sich an der Politik der Wahlen beteiligen müssen - bei diesem 
System mitmachen müssen, um von innerhalb zu verhandeln. (Ist es nicht 
ähnlich wie die Entscheidungen, vor welchen die Menschen in Kashmir 
standen?) Was man aber nicht vergessen darf ist, dass, so sehr sich diese 
beiden Gruppen auch unterscheiden, teilen beide doch den Glauben (um es 
plump zu formulieren): Es Reicht! Ya Basta!

Es gibt zurzeit keine wichtigere Debatte in Indien. Das Ergebnis wird das 
Leben in diesem Land verändern, zum besseren oder zum schlechteren. Für 
alle. Reich, arm, ländlich, städtisch.

Bewaffneter Kampf führt zu einer massiven Eskalation der Gewalt von Seiten 
des Staates. Wir haben gesehen, in welchen Morast dies in Kashmir und im 
Nordosten geführt hat.

Also, sollten wir das tun, was unser Premierminister vorschlägt? Dem 
Widerstand entsagen und uns ins Wahlgetümmel werfen? Bei der Roadshow 
mitmachen? Beim schrillen Austausch von Beleidigungen mitmachen, welche nur 
dazu dienen zu verbergen, was sonst ein fast totaler Konsens ist? Vergessen 
wir nicht, dass bei all den großen Themen - den Nuklearwaffen, den großen 
Dämmen, der Kontroverse um Badri Masjid, bei der Privatisierung - die 
Kongresspartei die Saat gelegt hat, und die BJP herbeistürmte, um die 
bösartige Ernte zu kassieren.

Das bedeutet nicht, dass das Parlament keine Bedeutung hat, und man Wahlen 
ignorieren sollte. Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen einer 
unverhohlen kommunalistischen Partei mit faschistischer Ausrichtung oder 
einer opportunistischen kommunalistischen Partei. Natürlich gibt es einen 
Unterschied zwischen einer Politik, welche offen und stolz Hass predigt und 
einer Politik, welche schlau und still die Menschen gegeneinander aufbringt.

Und natürlich wissen wir, dass das Erbe der einen uns den Horror der 
anderen gebracht hat. Zwischen ihnen haben sie jede echte Wahl ausgelöscht, 
welche eine parlamentarische Demokratie bieten sollte. Die Raserei, die 
Atmosphäre eines Messegeländes, die um die Wahl herum geschaffen wird, 
bekommt in den Medien die größte Aufmerksamkeit, weil sich jeder darin 
sicher ist, dass egal wer gewinnt, der Status Quo nicht herausgefordert 
werden wird. (Nach den eifrigen Reden im Parlament, scheint eine 
Widerrufung des GVT bei keiner der Parteien eine Priorität in ihrer 
Wahlkampagne darzustellen. Sie wissen alle, dass sie es brauchen, in der 
einen oder anderen Form.) Was auch immer sie während Wahlen oder wenn sie 
gerade in der Opposition sind sagen, keine Regierung des Staates oder eines 
Bundesstaates konnte die Hand des Neoliberalismus beiseite halten. Es wird 
keine radikalen Veränderungen "von innen" geben.

Ich persönlich glaube nicht, dass ein gangbarer Weg zu einer alternativen 
Politik über eine Beteiligung an den Wahlkämpfen führt. Nicht wegen der 
gespielten Zierlichkeit der Mittelschicht, welche sich in Aussprüchen wie 
"Politik ist schmutzig", oder "alle PolitikerInnen sind korrupt" äußert, 
sondern weil ich glaube, dass man strategische Kämpfe von einer Position 
der Stärke und nicht von einer der Schwäche aus führen muss.

Die Ziele eines zweifachen Angriffs von kommunalem Faschismus und von 
Neoliberalismus sind die Armen und die Minderheiten (welche mit 
fortschreitender Zeit immer mehr verarmt werden). Während der 
Neoliberalismus seinen Keil zwischen Arm und Reich treibt, zwischen dem 
Glänzenden Indien und Indien, wird es für jede Mainstream-Partei zunehmend 
absurd vorzugeben, sowohl die Interessen der Armen als auch die der Reichen 
zu vertreten, weil die Interessen der einen nur auf Kosten jener der 
anderen vertreten können. Meine "Interessen" als eine reiche Inderin (würde 
ich nach ihnen handeln), würden kaum den Interessen eines armen Bauern in 
Andhra Pradesh ähneln.

Eine politische Partei, welche die Armen vertritt, wird eine arme Partei 
sein, eine Partei mit sehr geringfügigen Geldern. Heute ist es nicht 
möglich eine Wahl ohne Gelder zu führen. Ein paar gut bekannte soziale 
AktivistInnen ins Parlament zu setzen ist interessant, aber nicht wirklich 
politisch bedeutungsvoll. Kein Prozess, der es Wert wäre, all unsere 
Energie zu schlucken. Individuelles Charisma und Personenpolitik kann keine 
radikale Veränderung bewirken.

Aber arm zu sein bedeutet nicht schwach zu sein. Die Stärke der Armen liegt 
nicht innerhalb von Regierungsgebäuden und Gerichtshöfen. Sie liegt 
außerhalb, in den Feldern, den Bergen, den Straßen und auf jedem 
Universitätscampus des Landes. Dort müssen die Verhandlungen abgehalten 
werden. Dort muss der Kampf geführt werden.

Gerade jetzt sind diese Orte an die Hindu-Rechte abgegeben worden. Was auch 
immer man von ihrer Politik hält, man kann nicht leugnen, dass sie da 
draußen sind und sehr hart arbeiten. Während der Staat sich seiner 
Verantwortung entledigt und Gelder für elementarste öffentliche Dienste wie 
Gesundheit und Bildung reduziert, sind die Soldaten der Sangh Parivar 
einmarschiert. Neben den zehntausenden Shakhas (örtlichen Vereinen) welche 
tödliche Propaganda austeilen, betreiben sie Schulen, Spitäler, Kliniken, 
Ambulanzdienste und Katastrophenschutzstellen. Sie verstehen die 
Machtlosigkeit. Sie verstehen auch, dass Menschen, und besonders machtlose 
Menschen, Wünsche haben, welche nicht nur praktische Alltagsbedürfnisse 
sind, sondern auch emotional, spirituell und die Erholung betreffend. Sie 
haben einen bösartigen Schmelztiegel entworfen, in welchen der Ärger, die 
Frustration, die alltägliche Unwürdigkeit, und die Träume einer anderen 
Zukunft abgegossen werden können, um für einen tödlichen Zweck eingesetzt 
zu werden.

Inzwischen träumt die traditionelle Mainstream-Linke davon "an die Macht zu 
kommen", aber bleibt seltsam festgefahren, nicht bereit sich den Fragen der 
Zeit zu stellen. Sie hat sich selbst in eine Ecke gestellt und in einen 
abgelegenen intellektuellen Raum zurückgezogen, wo antike Argumente in 
archaischer Sprache, welche nur wenige verstehen, vorgelegt werden.

Die einzige mögliche Herausforderung für den Großangriff der Sangh Parivar 
stellen die Graswurzel-Widerstandsbewegungen dar, welche im ganzen Land 
verstreut sind, die Enteignung und Verletzung ihrer elementarsten Rechte 
bekämpfen, was seinen Ursprung im aktuellen "Entwicklungs"-Modell hat. Die 
meisten dieser Bewegungen sind isoliert und arbeiten (trotz nie endender 
Anschuldigungen, dass sie "vom Ausland bezahlte ausländische Agenten" 
seien) fast ohne Geld und Ressourcen. Sie sind hervorragende 
Feuerwehrleute, sie stehen mit dem Rücken zur Wand. Aber sie stehen in 
Kontakt zur Realität und sehen genau, was passiert. Sie wissen, wie die 
düstere echte Welt aussieht. Wenn sie zusammenarbeiten würden, wenn sie 
unterstützt und gestärkt werden würden, könnten sie zu einer Kraft werden, 
die man beachten muss. Ihr Kampf wird, wenn er gefochten wird, ein 
idealistischer sein müssen - kein starrer und ideologischer.

In einer Zeit, in welcher Opportunismus alles ist, wenn die Hoffnung 
verloren scheint, wenn alles sich auf einen zynischen Geschäftsabschluss 
reduziert, müssen wir die Courage finden zu träumen. Die Romantik 
wiedererobern. Die Romantik, an Gerechtigkeit, Freiheit und Würde zu 
glauben. Für alle. Wir müssen gemeinsam gehen, und um das zu tun, müssen 
wir verstehen, wie diese große alte Maschine arbeitet - für wen sie 
arbeitet und gegen wen sie arbeitet. Wer zahlt, wer profitiert? Im ganzen 
Land führen gewaltfreie Widerstandsbewegungen isolierte Kämpfe um einzelne 
Themen, und beginnen zu begreifen, dass diese Art der Politik, einzelne 
Interessen zu vertreten, welche ihre Zeit und ihren Ort hatte, nicht länger 
ausreichend ist. Dass sie sich in eine Ecke gedrängt und ineffektiv fühlen, 
ist nicht Grund genug, vom gewaltfreien Widerstand als Strategie 
abzukehren. Es ist jedoch Grund genug einige ernsthafte Fragen an uns 
selbst zu stellen.

Wir brauchen eine Vision. Wir müssen sicherstellen, dass jene von uns 
welche sagen, dass wir die Demokratie wiederaufrichten wollen, in unseren 
eigenen Abläufen und Methoden egalitär und demokratisch sind. Wenn unser 
Kampf ein idealistischer sein soll, können wir keine Ausnahmen für interne 
Ungerechtigkeiten vorsehen, die wir einander, Frauen oder Kindern, antun. 
Zum Beispiel dürfen jene, welche den Kommunalismus bekämpfen, die 
wirtschaftliche Ungerechtigkeit nicht einfach ignorieren. Jene, welche 
Dämme oder Entwicklungsprojekte bekämpfen, dürfen Themen wie Kommunalismus 
oder Kastenpolitik in ihrer Einflusssphäre nicht einfach ausweichen - sogar 
auf Kosten von kurzfristigen Erfolgen in ihren Kampagnen. Wenn 
Opportunismus und Praktikabilität auf Kosten unserer Überzeugungen 
akzeptiert werden, dann unterscheidet uns nichts von 
Mainstream-PolitikerInnen. Es ist Gerechtigkeit, was wir wollen, und das 
muss Gerechtigkeit und gleiche Rechte für alle bedeuten - nicht nur für 
Einzelgruppen mit Einzelinteressen. Darüber kann nicht diskutiert werden.

Wir haben es zugelassen, dass der gewaltfreie Widerstand beim Theater der 
Fühl-Dich-Gut-Politik mitmacht, was bestenfalls eine Photogelegenheit für 
die Medien darstellt, und im schlechtesten Fall einfach ignoriert wird.

Wir müssen uns umsehen und dringend Strategien des Widerstandes besprechen, 
echte Kämpfe führen und echten Schaden zufügen. Wir müssen uns daran 
erinnern, dass der Salzmarsch nicht nur ein gutes politisches Theater war. 
Er war ein Angriff auf das wirtschaftliche Fundament des britischen Imperiums.

Wir müssen die Bedeutung von Politik wieder neu definieren. Die 
"NGO"-isierung der Gesellschaft führt uns geradewegs in die falsche 
Richtung. Sie entpolitisiert uns. Sie macht uns abhängig von Hilfe und 
Geschenken. Wir müssen die Bedeutung von zivilem Ungehorsam wiederentdecken.

Vielleicht brauchen wir ein gewähltes Schattenparlament außerhalb der Lok 
Sabha, ohne deren Unterstützung und Bestätigung das Parlament nicht mehr 
problemlos funktionieren kann. Ein Schattenparlament welches im Untergrund 
einen Takt vorgibt und Informationen zur Verfügung stellt (was die 
Mainstreammedien immer weniger machen). Furchtlos, aber gewaltfrei, müssen 
wir die Bestandteile dieser Maschine, welche uns aushöhlt, ausschalten.

Uns geht die Zeit aus. Schon während wir sprechen, schließt sich der Kreis 
der Gewalt um uns.

Auf welchem Weg auch immer, die Veränderung wird kommen. Sie könnte blutig 
sein, oder sie könnte wunderschön sein. Es hängt von uns ab.

Quelle: ZNet Deutschland vom 19.06.2004. Übersetzt von: Matthias, mit 
leichter Bearbeitung von Michael Schmid und Matthias Reichl. 
Orginalartikel: "How Deep Shall We Dig?".

========================================

Matthias Reichl
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
Wolfgangerstr.26
A-4820 Bad Ischl
Tel. +43-6132-24590
e-mail: mareichl at ping.at
http://www.begegnungszentrum.at






Mehr Informationen über die Mailingliste E-rundbrief