[E-rundbrief] Info 890 - M. Schenk: Armutsbetroffene

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
Mi Feb 3 23:04:57 CET 2010


E-Rundbrief - Info 890: Mag. Martin Schenk (A): Die Stärk(ung)en der
Schwachen. Was Armutsbetroffene stärkt, und was sie schwächt;
Verteilungs- und Leistungsgerechtigkeit in Österreich, Transparenz und
Fairness. Redebeiträge zum "Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut
und sozialer Ausgrenzung 2010"

Bad Ischl, 3.2.2010

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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Die Stärk(ung)en der Schwachen

Was Armutsbetroffene stärkt, und was sie schwächt.

Von Mag. Martin Schenk

Abstract für die Medienkonferenz "Armut - hinschauen, aufzeigen und
helfen!", 21.1.2010,

Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz, Wien

zum "Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung
2010"

www.2010gegenarmut.at


Handlungsspielräume zu erweitern und Verwirklichungschancen zu erhöhen
stärkt Menschen, die in Armut leben. Es sind vor allem drei
„Lebens-Mittel“, die stärken: Freundschaft, Selbstwirksamkeit und
Anerkennung. Freundschaft bedeutet soziale Netze. Selbstwirksamkeit
heißt Lebensumstände verändern können. Anerkennung heißt Respekt.
Das Gegenteil macht verwundbar: Isolation, Ohnmacht und Beschämung
schwächen.

Freundschaft stärkt: Mit zunehmendem sozialen Abstieg schwinden die
sozialen Netze, Freunde verabschieden sich, soziale Unterstützung wird
geringer. Menschen in Armutslagen leben wesentlich öfter allein, haben
seltener Kontakte außerhalb des Haushaltes und können deutlich seltener
auf ein tragfähiges Unterstützungsnetzwerk zurückgreifen als andere
Personen.

Selbstwirksamkeit stärkt: Ebenfalls schwächend auf die
Widerstandsfähigkeit wirkt sich die Unkontrollierbarkeit der eigenen
Lebenssituation aus. Kann man selber noch irgendetwas bewirken, ergibt
Handeln überhaupt einen Sinn? Hat man das Steuerrad für sein eigenes
Leben noch in der Hand? Die Erfahrung schwindender Selbstwirksamkeit
eigenen Tuns macht verletzlich. Das sind angesammelte
Entmutigungserfahrungen.

Anerkennung stärkt: Wo man sich anstrengt und verausgabt, dafür aber
nichts Positives zurückbekommt, dort schwinden die Ressourcen. Das
gemeinsame Auftreten von hoher Verausgabung und niedriger Belohnung
macht krank. Der belastende Alltag am finanziellen Limit bringt keine
„Belohnungen“ wie besseres Einkommen, Anerkennung, Unterstützung oder
sozialen Aufstieg. Dieser schlechte Stress, der in einer solchen
„Gratifikationskrise“ entsteht, wirkt besonders bei Menschen in unteren
Rängen, die arm trotz Erwerbsarbeit sind, die in den Randbelegschaften
und in prekären Billigjobs arbeiten.

- Wer sozial Benachteiligte zu Sündenböcken erklärt, wer Leute am
Sozialamt bloß stellt, wer Zwangsinstrumente gegen Arbeitssuchende
einsetzt, wer mit erobernder Fürsorge Hilfesuchende entmündigt, der
vergiftet diese „Lebensmittel“.

- Je ungleicher Gesellschaften sind, desto eingeschränkter sind diese
Lebensmittel. Es gibt weniger „Inklusion“, das heißt häufiger das Gefühl
ausgeschlossen zu sein. Es gibt weniger „Partizipation“, also häufiger
das Gefühl, nicht eingreifen zu können. Es gibt weniger „Reziprozität“,
also häufiger das Gefühl, sich nicht auf Gegenseitigkeit verlassen zu
können.

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Verteilungs- und Leistungsgerechtigkeit in Österreich

Transparenz und Fairness

Mag. Martin Schenk

Parlamentsenquete vom 20.01.2010.

Redebeitrag Podium 2


„Ich hätte mir nie gedacht, dass mir das passiert“, hören wir immer
öfter Frauen und Männer sagen, die sich „ganz unten“ wieder finden. Die
Biographien der Betroffenen sind bunter als der schnelle Blick glauben
macht. Die Dauerpraktikantin mit Uni-Abschluss und der Schulabbrecher,
die Alleinerzieherin mit drei kleinen Kindern, die früher als
Dolmeterscherin in der Welt herum kam, und der Langzeitarbeitslose, der
einmal eine Firma geleitet hat. Der junge Mann mit Depressionen, der
sich in sozialen Initiativen engagiert, und die junge Frau in der
Leiharbeitsfirma. Der Freund, der sich als Ich-AG durchschlägt, und die
– nach einem Bandscheibenvorfall des Vaters – überschuldete Familie.
Ihre Geschichten sind unterschiedlich, ihre Lebensverhältnisse allesamt
prekär. Kürzlich in der Beratungsstelle: eine junge Frau mit zwei
Kindern, deren Einkommen so gering ist, dass sie entscheiden muss: zahle
ich die Krankenversicherung oder die Miete oder die Hefte zum
Schulanfang für die Kinder.

„Business as ususal”
Die Finanzkrise wird abgesagt. Die soziale Krise steht aber erst vor der
Tür. Die Arbeitslosigkeit steigt weiter, die soziale Ungleichheit wird
größer, wie der Sozialwissenschafter Tony Atkinson anhand von vierzig
Wirtschaftskrisen beobachtet hat. Während die Finanzmärkte sich wieder
auf „Business as usual“ einstellen, soll die Bevölkerung aber nun mit
Sparpaketen bezahlen, was das Finanzdesaster an Löchern in die
öffentlichen Haushalte gerissen hat. Während der Finanz- und
Bankensektor sich mit Steuergeldern stabilisierte, müssen wir für die
Stabilisierung des sozialen Zusammenhalts für jede Million kämpfen. z.B
bei Reform der Sozialhilfe, gekürzte Ermessensausgaben, Pflegerisiko,
Konkunkturpaket im sozialen Dienstleistungssektor.  Das ist die Debatte,
die wir jetzt führen. Sollen die Krisenkosten zwischen denen, die nichts
haben und die ein bissl haben aufgeteilt werden oder sollen alle
einbezogen sein? Stellt sich die Gerechtigkeitsfrage nur für das
unterste Einkommensdrittel (oder sogar nur für das unterste 1% bei der
Sozialhilfe) und das nur ausgabenseitig, oder umfasst Gerechtigkeit auch
die Einnamenseite (Lohn- , Massen- und Vermögenssteuern) und
Ausgabenseite (Sozial- und Dienstleistungen) – und das umfassend.
Klar ist jedenfalls: Wie die Kosten der Krise verteilt werden,
entscheidet über mehr oder weniger Armut in den nächsten Jahren.


Die Leistungslüge

US-Manager verdienen heute das 500fache ihrer MitarbeiterInnen. In den
achtziger Jahren war es noch das Vierzigfache. Sind Manager jetzt
500-mal fleißiger als damals? Und sind die MitarbeiterInnen um so viel
weniger leistungsfähig und fauler als in den achtziger Jahren?
HilfsarbeiterInnen in der Bekleidungsindustrie verdienen weniger als
jene in der Erdölindustrie. Leisten sie auch weniger? Wer reiche Eltern
hat, erbt viel. Welche Leistung ist „erben“?

So können Löhne ganzer Gruppen von Erwerbstätigen fallen, ohne dass sich
etwas an deren Leistung geändert hätte. In den letzten Jahren sind die
Unterschiede zwischen Reichen und Nicht-Reichen in Qualifikation und
Arbeitszeit zurückgegangen, die Einkommensdifferenzen jedoch haben
zugenommen.

Einkommen richten sich eben nicht nur nach der Leistung, sondern in
einer Marktwirtschaft auch nach dem Bedarf, könnte hier eingewendet
werden. Aber auch das ist wenig stichhaltig. Finden sich doch viele der
massiv unterbezahlt erbrachten Leistungen in Bereichen, in denen es um
existenzielle Bedürfnisse geht. Wer sich um kleine und größere Kinder,
kranke Angehörige, die Wäsche und das Kochen kümmert, verdient nichts,
was in der genannten Leistungsträger-Logik nur bedeuten kann, dass sie –
oder er – eben nichts leistet. Dass der Lohn für diese Arbeiten gleich
null ist, liegt wohl weder an mangelnder Leistung der Betroffenen noch
an mangelndem Bedarf an diesen Tätigkeiten.

Die Entlohnung einer Tätigkeit hat also vor allem mit dem damit
verbundenen Status und mehr noch mit Verhandlungsmacht zu tun, mit
Nachfrage am Arbeitsmarkt, sozialen Normen, gesetzlichen Regelungen und
dem Zufall der Geburt.


Das Problem mit der Treffsicherheit: „Poor Services for poor Poeple“

Das Projekt „Treffsicherheit“, das in Österreich Anfang 2000 ausgerufen
wurde, hat nicht zu einer Verbesserung der Situation Einkommensschwacher
geführt.  Existenzsicherung ist mit Treffsicherheit offensichtlich nicht
gemeint. Soziale Integration, soziale Teilhabe, soziale Aufstiegschancen
offensichtlich auch nicht.

Länder, die ihre Sozialleistungen hauptsächlich auf die Ärmeren
konzentrieren, gehören zu den Ländern mit der höchsten Armut. Das hört
sich seltsam an. Je „treffsicher“ Sozialleistungen sind, desto geringer
müsste doch die Armut sein. Ist sie aber nicht. Diejenigen Staaten,
deren Sozialsysteme sich in erster Linie an "Treffsicherheit"
orientieren wie England oder die USA haben höhere Armutsquoten als
Staaten mit egalitärem Bildungssystem und der Absicherung sozialer
Risken für eine breitere Bevölkerung. Der Ökonom Michael Förster,
beschäftigt an der OECD, kommt in einer vergleichenden Studie über
Kinderarmut zum Schluss: "Jene Staaten, deren Sozialleistungen am
ehesten als ,treffsicher' bezeichnet werden können, sind nicht
diejenigen, welche Armut am effektivsten vermindern - eher im Gegenteil.
Ein wichtiges Element bleibt die absolute Höhe der Sozialquote sowie die
progressive Verteilungswirkung des Steuersystems. Die Wirksamkeit von
Sozialstaffelung ist gerade bezüglich ihres Ziels der Armutsverringerung
mehr als fraglich: Die Länder mit viel targeting gehören zu jenen mit
höchster Armut und Ungleichheit“
Dieser Zusammenhang wird auch ,Paradoxon der Verteilung' genannt: Je
stärker die Leistungen auf die Armen konzentriert werden, desto
unwahrscheinlicher wird eine Reduktion von Armut und Ungleichheit.

"Großzügige" Staaten mit gebührenfreier Bildung für alle Kinder,
Familienbeihilfen für alle Kinder können Armutsvermeidung weit besser
verwirklichen als "treffsichere" Systeme mit einkommensgetesten
Leistungen, z.B. Familienbeihilfe nur für jene, "die sie wirklich
brauchen". Diese universellen Systeme, -universell weil sie für alle
sind- wirken offensichtlich stark armutsvermeidend. Noch viel weniger
tragen einkommensgetestete Leistungen zu einer generellen Verringerung
der Einkommensunterschiede bei. Der potentielle Verlierer derartiger
Leistungen ist der untere Mittelstand. Und es entstehen an den
Einkommensgrenzen hohe Armutsfallen. Verdient man nur einen Euro mehr,
fallen plötzlich alle Unterstützungen weg.

Durch die Einbindung der "Reichen" wird deren Bereitschaft, das
Sozialsystem zu finanzieren, erhöht. Zu befürchten wäre, dass sich die
Mittelschichten, wenn sie einzahlen, aber nichts herausbekommen, vom
sozialen Ausgleich überhaupt verabschieden. In der
Treffsicherheitstsfalle verlieren Sozialprogamme leicht die
gesellschaftliche Unterstützung. In den USA wurde die Unterstützung für
Familien mit Kindern, die in Armut leben abgeschafft. Das Programm war
zu 100% zielgerichtet und genoss trotzdem -oder deswegen- keine
politische und gesellschaftliche Unterstützung.

Weiteres Problem: Soziale Maßnahmen, die nur auf die Armen zielen,
neigen dazu, armselige Maßnahmen zu werden: Poor services for poor
people. Die Qualität sinkt: Schlechte Schulen, schlechtere
Gesundheitsversorgung, Sonderlebensmittel und viel Beschämung für die
Ärmsten. Da ist nicht mehr von Anspruchsberechtigung, sondern nur mehr
von Bedürftigkeit - die andere definieren - die Rede. Der
Treffsicherheitssstaat führt in eine Gesellschaft mit starker sozialer
Spaltung. Nur allzu schnell verselbständigt sich der Trend weg von
universellen sozialen Bürgerrechten hin zur aussondernden almosenhaften
Armenfürsorge.


Was wirklich hilft: gegen Armut und für mehr sozialen Zusammenhalt

Es geht darum, die Schwächen des Sozialstaats zu korrigieren und seine
Stärken zu optimieren. Es geht darum, Antworten auf die großen sozialen
Herausforderungen und neuen sozialen Risken, wie etwa prekäre
Beschäftigung, Pflege, psychische Erkrankungen oder Migration zu finden.
Es geht um einen Freiheitsbegriff, der auch die Freiheit der
Benachteiligten einschließt. Es geht um ein Verständnis von Autonomie,
das Bedürftigkeit nicht als Gegensatz formuliert. Es geht um eine
Politik des Sozialen, die Bürgerinnen und Bürger sieht, nicht Untertanen.

Z.B Vollzug der Sozialhilfe: es fehlt noch immer ein Maßnahmenkatalog
der Länder zur Verbesserung des Vollzugs der sog Mindestsicherung.
Rechte zu haben heißt noch nicht, von seinem Recht zu wissen. Von seinem
Recht zu wissen, heißt noch nicht Zugang zu jenem zu haben.

Denn Armut hat viele Dimensionen. Deshalb sind die Instrumente zu ihrer
Bekämpfung auch in allen Dimensionen anzulegen. Für die Reduzierung der
Armut braucht es einen ganzheitlichen Approach, einen integrierten
Ansatz, die Fähigkeit, in Zusammenhängen zu denken. Mit einseitig geht
gar nichts. Mit einem Faktor allein tut sich kaum was. Erst das
Zusammenspiel mehrerer richtig gesetzter Interventionen zeigt Wirkung.

Armutsbekämpfung ist erfolgreich, wo der Mensch als Ganzes gesehen wird.
Wer mit Erwerbslosen zu tun hat, denkt an Bildung, an Existenzsicherung,
an Wohnen, Familie, Gesundheit. Wer mit Gesundheitsfragen von
Armutsbetroffenen zu tun hat, sorgt sich um sinnvolle Tätigkeiten, nicht
schimmlige Wohnungen, Bildung, Erholungsmöglichkeiten und eine Lösung
der stressenden Existenzangst. Zum Beispiel darf sich
Arbeitsmarktpolitik paradoxerweise eben nicht nur um den Arbeitsmarkt
drehen. Erfolgreich sind bei Personen mit vielfachen Problemlagen gerade
jene Ansätze, die auch an den anderen Dimensionen ansetzen: Gesundheit,
Freundschaften, Erholung, Wohnen etc. Davon kann besonders die Politik
lernen. Statt in Kastln, besser in Zusammenhängen denken:
Gesundheitspolitik ist Wohnungspolitik, Bildungspolitik ist
Sozialpolitik, Stadtplanung ist Integrationspolitik.

So vermeiden zum Beispiel die höchsten Familiengelder allein Armut
nicht, sonst müsste Österreich die geringste Kinderarmut haben; die hat
aber Dänemark; mit einer besseren sozialen Durchlässigkeit des
Bildungssystems, einem bunteren Netz von Kinderbetreuung wie auch
vorschulischer Förderung und höheren Erwerbsmöglichkeiten von Frauen.
„Arbeit schaffen“ allein vermeidet Armut offensichtlich nicht, sonst
dürfte es keine Working Poor in Österreich geben. Eine Familie muss von
ihrer Arbeit auch leben können. Und Anti-Raucher-Kampagnen allein
vermeiden das hohe Erkrankungsrisiko Ärmerer offensichtlich nicht, sonst
würden arme Raucher nicht früher sterben als reiche Raucher.
Deutschlernen allein reduziert Armut und Ausgrenzung allein
offensichtlich auch nicht, sonst müssten die Jugendlichen in den Pariser
Vorstädten bestens integriert sein, sprechen sie doch tadellos
französisch, es fehlt aber an Jobs, Aufstiegsmöglichkeiten, Wohnraum,
guten Schulen. Ein Schlüssel braucht immer auch ein Schloss. Die einen
investieren nur in Schlüssel, die anderen nur in Schlösser, und dann
wundern sich alle, dass die Türen nicht aufgehen.

Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie und Mitbegründer der
Armutskonferenz.

www.diakonie.at, www.armut.at

Quellen:

M.Schenk / M.Moser (2010). Es reicht! Für alle! Wege aus der Armut.
Deuticke.

N.Dimmel/ K.Heitzmann / M.Schenk (2009). Handbuch Armut in Österreich.
Studienverlag.

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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
Center for Encounter and active Non-Violence
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