[E-rundbrief] Info 539 - Alternativer ECOFIN Berlin
Matthias Reichl
info at begegnungszentrum.at
Mi Mai 9 16:12:28 CEST 2007
E-Rundbrief - Info 539 - Abschlusserklärung zum
2. Alternativen ECOFIN in Berlin vom 20./21.
April 2007 - Berliner Deklaration. Für ein
einiges, wirtschaftlich erfolgreiches,
friedliches, solidarisches und ökologisch nachhaltiges Europa.
Bad Ischl, 9.5.2007
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
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Abschlusserklärung zum 2. Alternativen ECOFIN in Berlin vom 20./21. April 2007
Berliner Deklaration
Parallel zum informellen ECOFIN-Rat der
Wirtschafts- und Finanzminister der EU hat in
Berlin der 2. Alternative ECOFIN getagt. Der
alternative ECOFIN greift die Impulse der
Vorgängerkonferenz und Wiener Deklaration vom
April 2006 auf. Ein einiges, wirtschaftlich
erfolgreiches, friedliches, solidarisches und
ökologisch nachhaltiges Europa ist zu wertvoll,
um es der Politik der Regierungen und der EU- Institutionen zu überlassen.
Die Orientierung auf ein markt- und
elitenfixiertes Integrationsmodell hat Europa in
eine tiefe Krise geführt. Deshalb melden wir uns
zu Wort. Im Zusammenwirken von Gewerkschaften,
sozialen und ökologischen Bewegungen sowie
kritischer Wissenschaft wollen wir in einem
offenen und demokratischen Prozess zu einem
Umsteuern beitragen und erneuern unsere
Forderungen nach einem ökologisch und sozial gestalteten Europa.
1. Die gegenwärtige Krise der EU
Das historisch fortschrittliche Projekt der
europäischen Integration wird seit Mitte der
1980er Jahre zunehmend neo-liberal deformiert.
Die von den EU-Organen und den meisten
Mitgliedsstaaten vorangetriebene Wirtschafts- und
Finanzpolitik setzt einseitig auf Deregulierung,
Liberalisierung und Privatisierung. Statt die
kontraproduktive Wirkung dieses Ansatzes auf die
erklärten EU-Ziele zu überdenken, reagierte die
Politik mit einer Erhöhung der Dosis: Bei der
Lissabon-Strategie der EU wurde die schon zu
Beginn vorhandene Tendenz in Richtung einer
angebotsorientierten Wirtschafts- und
Sozialpolitik weiter betont und die verbal noch
vertretenen Ziele Vollbeschäftigung,
Armutsreduzierung und Umweltschutz aus der
politischen Praxis weitestgehend verbannt.
Gegenüber den Skandalen von
Massenerwerbslosigkeit und Armut in der
Wohlstandsregion Europa betreibt die EU viel
verbalen Aufwand, aber keine energische Politik.
Dabei zeigt das Beispiel der skandinavischen
Länder, dass im Sinne sozialer Solidarität,
ökologischer Nachhaltigkeit und ökonomischer
Leistungsfähigkeit auch in Zeiten der
Globalisierung große Handlungsspielräume
bestehen. Aber der ECOFIN-Rat stimmt eine
Wirtschafts- und Finanzpolitik der EU ab, die die
internationale Rolle der EU als
Globalisierungsverschärfer weiter zuspitzt.
Dadurch entstehen auch innerhalb Europas immer
bedrohlichere Ungleichgewichte, die dann
innergesellschaftlich zu sozialer Ausgrenzung und
Polarisierung führen. Diese Fehlentwicklung ist
ganz entscheidend von einem aggressiv auf hohe
Exportüberschüsse fixierten, räuberischen
Deutschland geprägt worden. Der deutschen
Position als Exportweltmeister stehen wachsende
Leistungsbilanzdefizite vieler Mitgliedsländer
gegenüber. Die deutsche Wirtschafts- und
Sozialpolitik der letzten Jahre kann deshalb kein
Modell für Europa sein. Auf Dauer bedrohen
derartige Ungleichgewichte nicht nur den
wirtschaftlichen, sondern auch den politischen
Zusammenhalt Europas. Doch statt diese seit
vielen Jahren überfällige Wende auf nationaler
Ebene durchzuführen, verschärfen die deutsche
EU-Präsidentschaft und die parallele
G8-Präsidentschaft Deutschlands - diese negativen
Tendenzen weiter: An die Stelle einer
Einbindung der Finanzmärkte in die Entwicklung
der Realwirtschaft tritt weitere Liberalisierung
im Interesse der Finanzkonzerne.
Ein neuer Privatisierungsschub und die Erosion
der Steuerbasis bedrohen die ohnehin geschwächten
öffentlichen Leistungen und Räume und verstärken
damit bestehende Geschlechterungerechtigkeiten.
Ganze Finanzierungskreisläufe wie etwa die
umlagefinanzierten Pensionssysteme sollen
europaweit den Anlagestrategien des privaten Kapitals preisgegeben werden.
Mit der Umsetzung der neuen handelspolitischen
Global Europe-Strategie planen Deutschland und
die EU die Durchsetzung wiet reichender
WTOplus- Regeln gegenüber Entwicklungs- und
Schwellenländern. Damit einher geht eine
verschärfte Anpassung EU-interner Regeln und
politischer Prozesse an die Bedürfnisse
weltmarktorientierter Konzerne ohne soziale und ökologische Regulierungen.
Anstatt die sich immer weiter verschärfende
ökologische Krise wirklich durch
sozialökologische Umbaumaßnahmen am europäischen
Haus anzugehen, beschränkt sich die EU bislang
auf Ankündigungen und halbherzig verfolgte Strategien.
Statt zu versuchen, das weltpolitische
Engagement der EU strikt auf nichtmilitärische
Politik zur Friedenssicherung und
Entwicklungshilfe zu konzentrieren, unterstützt
auch die deutsche Präsidentschaft die Forderungen
nach einem weiteren Ausbau der militärischen Fähigkeiten der EU.
Anstatt sich innerhalb des UN-Systems dem
neoliberale Washington Consensus
entgegenzustellen und einen neuen, entwicklungs-
und umweltgerechten Multilateralismus zu
schaffen, verfolgt die EU zunehmend selbst eine
bilaterale Agenda in der internationalen Politik,
durch die dieses destruktive Regulierungsmodell
noch schärfer durchgesetzt wird.
Der Versuch, die europäische Einigung unter
neoliberalen Vorzeichen fortzuführen, findet
keine gesellschaftliche Akzeptanz mehr er
gefährdet vielmehr das gesamte europäische
Projekt. Angesichts der gravierenden
Fehlentwicklungen der offiziellen EU-Politik geht
es für uns um Protest und politische Alternativen.
2. Unsere Alternativen
Wir wollen die Schlagseite einer vor allem an
kurzfristigen Renditeinteressen ausgerichteten
und von den politischen Eliten ohne wirksam
demokratische Kontrolle bestimmten EU überwinden.
Eine wirklich moderne Finanz- und
Wirtschaftspolitik, muss folgenden Elemente umfassen:
Wirksame Schritte in Richtung einer
koordinierten europäischen Politik der
existenzsichernden, menschenwürdigen
Vollbeschäftigung: Begrenzung und Verkürzung der
Arbeitszeit, öffentliche Zukunftsinvestitionen,
insbesondere in den Bereichen des
sozialökologischen Umbaus, der Erarbeitung und
Vermittlung von Wissensgrundlagen und der
sozialen und kulturellen Dienstleistungen, sowie
eine selektiv wirkende Makropolitik, die zugleich
gezielt die vorrangigen Zukunftsaufgaben eines
sozialökologischen Umbaus angeht, bilden die
wesentlichen Achsen eines Richtungswechsels, der
den lähmenden und einschüchternden Druck von
Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung von allen
ArbeitnehmerInnen nehmen kann.
Strategien zu einem grenzübergreifenden Ausbau
der sozialen Sicherheit, die der Verarmung und
Prekarisierung gezielt entgegenwirkt: Dazu sollte
die Politik in einer neuen, veränderte
Geschlechter- und Generationenverhältnisse
berücksichtigenden Weise an Forderungen nach
Mindeststandards und -entgelten anknüpfen. Sie
sollte bindende soziale Korridore für Steuer- und
Sozialstandards je nach wirtschaftlicher
Leistungsfähigkeit der Staaten beschließen - mit
dem Ziel ihrer mittelfristigen Konvergenz nach
oben. Zugleich sind öffentliche Leistungen und
Räume als ein wichtiger Faktor sozialen
Ausgleichs zu begreifen und durch eine Erneuerung
öffentlicher Dienste und Unternehmen zu stärken.
Ein koordiniertes Vorgehen der Mitgliedstaaten
zur Durchsetzung von sozialer Gerechtigkeit und
sozialer Kohäsion: Die Mitgliedstaaten der EU
sollten sich endlich auf wirksame Maßnahmen gegen
den Steuerwettbewerb einigen. Sie allein können
die Finanzierungsgrundlagen der staatlichen
Aufgabenwahrnehmung langfristig sichern. Dazu
gehören die Festsetzung von einheitlichen
Mindeststeuersätzen und einer einheitlichen
Bemessungsgrundlage, sowie die Bekämpfung der
Steuerflucht. Zugleich ist sicherzustellen, dass
die sozialen und ökologischen Folgewirkungen der
verschärften Binnenmarktkonkurrenz auch
grenzübergreifend durch entsprechende
Transferzahlungen kompensiert werden. Als ein
erste Schritte dazu wären etwa eine
Devisentransaktionssteuer sowie eine europäische
Kerosinsteuer zu erheben und direkt für
europäische Transferzahlungen zur Kompensation von Klimaschäden einzusetzen.
Die Nachhaltigkeitspolitik der EU neu
definieren und konkreter umsetzen: Bisher
begnügen sich die maßgeblichen Kräfte in der EU
mit einem grundsätzlichen Bekenntnis zu den
Zielen einer ökologisch, sozial und ökonomisch
nachhaltigen Entwicklung. In der konkreten
Gesetzgebung bleiben die EU und die
Mitgliedsstaaten aber weit hinter den Zielen
zurück. Der Ausstoß der Treibhausgase muss bis
2020 auf der Basis von 1990 in der EU um 30
Prozent und in Deutschland um 40 Prozent
verringert werden. Dafür sind u.a. folgende
Maßnahmen auf EUEbene erforderlich: Ausbau der
erneuerbaren Energien, Aufbau einer dezentralen
und effizienten Energieversorgung, Wärmedämmung
von Gebäuden, Verringerung des
Kraftstoffverbrauchs der PKW, Verbrauchsstandards
für Elektrogeräte. Die Steuer- und
Subventionspolitik der EU muss an den Zielen
nachhaltiger Entwicklung ausgerichtet werden,
etwa durch den Abbau umweltschädlicher
Subventionen und eine ökologische Steuerreform.
Das unerlässlich gewordene Umsteuern muss an den
gegenwärtigen nicht-nachhaltigen Energie- und
Verkehrssystemen ansetzen und dem strukturellen
Zurückbleiben ganzer Gruppen von Mitgliedstaaten entgegenwirken.
Die globale Verantwortung der EU aktiv und
kooperativ wahrnehmen: Als größter
Wirtschaftsraum trägt die EU eine wesentliche
Verantwortung für eine friedliche und gerechte
internationale Wirtschaftsordnung. Sie sollte für
die demokratische Kontrolle der internationalen
Regulierungsinstitutionen, für die Erhöhung der
Finanzmarktstabilität und generell für
gleichberechtigte und faire internationale
Handelsbeziehungen eintreten. Dazu gehören auch
eine solidarische Handelspolitik gegenüber
Entwicklungsländern und der Schutz wirtschafts-
und umweltpolitischer Gestaltungsmöglichkeiten
vor dem Korsett von WTO- und WTO-plus- Regeln.
Die derzeit verhandelten bilateralen
Handelsverträge mit den AKPStaaten (EPAs) sind
damit nicht vereinbar. Ferner bedarf es der
Neuausrichtung der Entwicklungskooperation auf
die Förderung eigenständiger Strategien der
Entwicklungsländer zur Überwindung von Armut und
Hunger sowie der Durchsetzung der
Kernarbeitsnormen der ILO und verbindlicher
internationaler Verhaltensstandards für
Unternehmen. Das Öffentliche Beschaffungswesen
der EU und aller Mitgliedstaaten sollte
konsequent zur Stärkung sozialer, ökologischer,
fairer und entwicklungsgerechter Produktion
innerhalb und außerhalb Europas genutzt werden.
3. Blockaden überwinden Grundlagen der europäischen Integration neu bestimmen
Anstatt die überkommene und verfehlte Politik
fortzuschreiben wie dies das ECOFIN-Programm für
die deutsche EU-Präsidentschaft 2007 getan
hat ist es längst überfällig, die Fixierung der
offiziellen wirtschafts- und finanzpolitischen
Debatte in Europa auf Liberalisierung und
Deregulierung zu überwinden. Es ist vorurteilslos
zu fragen, welche wirtschafts- und
finanzpolitischen Strategien die Ziele einer
ökologisch nachhaltigen, sozial gerechten und
solidarischen und ökonomisch leistungsfähigen
Entwicklung im Interesse der Menschen wirklich
erreichen können. Dies erfordert auch eine neue
Einbindung von Europäischer Zentralbank,
ECOFINRat und andere europäischen Institutionen in demokratische Politik.
Die von der deutschen Präsidentschaft
beabsichtigte schnelle Wiederbelebung des
gescheiterten Verfassungsentwurfs wäre für die
notwendige demokratische Neubestimmung der
Wirtschafts- und Sozialpolitik in Europa eine
schwere Hypothek. Die in dem Entwurf enthaltenen
neoliberalen, wirtschafts- und finanzpolitischen
Vorgaben sollten zurückgenommen und die soziale
Dimension gestärkt werden. Die Berliner
Erklärung des EU-Gipfels kündigteeine erneuerte
gemeinsame Grundlage Europas an. Dafür ist
jedoch ein offener demokratischer Prozess
Voraussetzung. Die darin erarbeiteten neuen
Grundlagen sollten die weitere Entwicklung
Europas an starke soziale und ökologische sowie
geschlechtergerechte Leitplanken binden und
Europas Fähigkeit zur globalen Kooperation
stärken. Der Festigung des europäischen
Zusammenhaltes würde es dienen, wenn die Menschen
Gelegenheit erhalten, eine in diesem Prozess
entwickelte konkrete Vision der europäischen
Integration in Volksabstimmungen zu ratifizieren.
Dies würde mehr Beteiligung und Demokratie in
Europa bedeuten - und die Menschen wieder näher
an die Europäische Einigung heranführen.
Berlin, 21.4. 2007
Initiiert von:
Attac-D, BUND, WEED, IGM, verdi, EuroMemorandum u.a.
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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
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