[E-rundbrief] Info 438 - J. Galtung/ D. Fischer: Nahost-Krieg
Matthias Reichl
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So Aug 13 10:05:50 CEST 2006
E-Rundbrief - Info 438 - Johan Galtung und Dietrich Fischer: Nahost:
Selbstverteidigung oder Krieg?
Bad Ischl, 13.8.2006
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Nahost: Selbstverteidigung oder Krieg?
Von Johan Galtung und Dietrich Fischer (*)
4.8.2006
NEW YORK, (IPS) Bomben fallen wieder auf unschuldige Zivilisten im
Libanon, in Gaza und in Nord-Israel. Warum? Man muss zurück in die
Geschichte gehen, um zu verstehen, was jetzt geschieht. Zu verstehen
heißt aber nicht zu verurteilen oder zu verzeihen, es geht vielmehr
darum zu verhindern, dass es sich zukünftig wiederholt.
Palästina ist das Opfer jenes Siedler-Kolonialismus, den England
schon in den nordamerikanischen Kolonien praktiziert hat, aus denen
später die USA entstanden ist. Beide Mächte haben diese Kolonisierung
als ein Recht hochgehalten, das in der Balfour Deklaration von 1917
auch den Juden übertragen wurde.
Jemand hat einem Deutschen einmal vorgeschlagen: "Da Deutschland für
den Holocaust verantwortlich ist, sollte eigentlich ein jüdischer
Staat in Deutschland aufgebaut werden - als einer Art von
Teilentschädigung. Baden-Württemberg hätte die richtige Größe." Der
Deutsche protestierte daraufhin heftig, "Das ist unmöglich! Wohin
sollen die Leute, die dort wohnen, hingehen?" Jetzt kann vielleicht
nachempfunden werden, wie Palästinenser sich fühlen müssen, die
früher dort wohnten, wo heute das Territorium von Israel ist.
Natürlich kommt da noch einiges hinzu, wie die biblische Geschichte,
die heiligen Orte des Judentums und die reale Existenz von Israel als
Staat schon seit über 60 Jahren. Das alles verlangt nach einer
Lösung, die es beiden, Israelis und Palästinenser erlaubt, friedlich
im ehemaligen Palästina zusammenzuleben.
Palästina ist außerdem ein Opfer israelischer Besetzung seitdem 1967
Krieg. Israel hatte sich zwar im September 2005 von Gaza
zurückgezogen, hält aber weiterhin die West Bank und Ost-Jerusalem
besetzt. Deshalb würde, im Sinne der UN-Charta, Palästina das Recht
auf Selbstverteidigung zustehen, um Maßnahmen zur Befreiung von einer
Besetzung aus einem illegalen Krieg zu ergreifen. Der
UN-Sicherheitsratsbeschluss 242 (1,i) verlangt eindeutig den Abzug
der israelischen Kräfte aus den 1967 besetzten Territorien.
Das Problem dabei ist, dass Palästina als Staat bisher nicht
existiert. Es gibt zwar ein Recht auf Selbstverteidigung, aber wem
steht es zu? Den Palästinensern in einem Nicht-Staat? Sie leben als
Flüchtlinge verstreut in vielen Orten. Steht das Recht der
arabisch-muslimischen Welt zu? Damit sind viele untereinander stark
verbundene Nationalitäten gemeint, die aber meistens von künstlichen
Grenzverläufen getrennt sind, die von den westlichen Kolonialmächten
gezogen worden sind, ganz nach dem Cäsarprinzip "divide et impera"
"teile und herrsche". Steht die Selbstverteidigung dem Libanon zu und
wenn, dann auch der militärisch am besten ausgerüsteten Fraktion in
diesem Land, der Hisbollah-Bewegung? Darf es Syrien beanspruchen, wo
Israel ebenfalls ein Territorium besetzt hält?
Handelt es sich um eine ständige Kriegssituation, die eine
zweiseitige Frontstellung hat, mit einer ersten Phase, die im Mai
1948 zwischen Israel und den arabischen Ländern begann, gefolgt von
einer zweiten Phase ab Juni 1967, bei der Israel gegen die arabischen
Staaten und dann zunehmend gegen die Araber schlechthin und jetzt
generell gegen die Muslime Krieg führt?
Ein Krieg besteht aus Angriff und Verteidigung. Verteidigung kann
zwei Formen annehmen: Ein Vergeltungsschlag, der den Aggressor in
seinem Territorium angreift (eine angreifende Verteidigung) oder das
Zurücktreiben eines Aggressors hinter seine Grenzen, ohne diese zu
überschreiten (eine verteidigende Verteidigung). Das gegenseitige
Töten oder Gefangennehmen von militärischen Kämpfern dürfte keine
Überraschung sein. Im modernen Krieg ist außerdem der Einsatz von
Raketen und Bomben aus der Luft üblich geworden, in der postmodernen
Kriegsführung ist sogar das Umbringen von Zivilisten durch
Staats-Terrorismus oder Nicht-Staats-Terrorismus üblich.
Das Problem ist also nicht, wer angefangen hat oder wer sich schuldig
gemacht hat oder was als "Selbstverteidigung" angesehen werden kann,
denn die Parteien werden sich mit allen erreichbaren Mitteln zu
verteidigen versuchen. Das Problem ist auch nicht, ob eine
kriegerische Handlung "verhältnismäßig" sei oder nicht, denn die
stärkere Partei wird immer alles einsetzen, was sie hat und dadurch
wird die schwächere Partei, wie in diesem Fall, nach Aufrüstung
suchen, bis hin zur Aneignung von Atomwaffen.
Das Problem ist der Teufelskreis von wiederholten gegenseitigen
Vergeltungsschlägen, die dem Krieg eigen ist. Er muss durchbrochen
werden, um auf den Boden des ungelösten Konflikts zwischen Juden und
Arabern zurückzukehren.
Das Problem kann auch nicht mit einer De-eskalation bei der Wahl der
Angriffsziele und des Ausmaßes der Zerstörung gelöst werden. Albert
Einstein hat einmal die Waffenbegrenzungsverhandlungen in der Liga
der Nationen mit einer Diskussion in einem Stadtrat verglichen, wo
nach einer Reihe von Messerstechereien im Ort, über die Länge und die
Schärfe der Messer debattiert wird, die Männer bei sich tragen
dürfen, wenn sie ausgehen.
Ein Waffenstillstand ist jedenfalls dringend notwendig, um dem
unmittelbaren Leiden Einhalt zu gebieten. Er wird aber nur für eine
Zeit lang halten, solange eben, der zugrunde liegende Konflikt nicht
gelöst ist. Israel sollte lieber darüber nachdenken, wie es Frieden
machen kann, statt Krieg.
Was hat die langen Kriegszyklen zwischen Deutschland und Frankreich
oder zwischen den Mitgliedern des Nordischen Rates beendet? Es waren
jeweils gemeinsame Vorhaben für eine bessere Zukunft für alle, für
eine Zusammenarbeit im gegenseitigen Nutzen, jedenfalls etwas, was
die Vorstellungskraft und die Hoffnungen der beteiligten Menschen
vereinigt hat, die bis dahin in Frustration und Verzweiflung leiden mussten.
Ein Ausweg könnte die Begründung einer Gemeinschaft des Nahen Ostens
darstellen, in Anlehnung (warum nicht?) an die Europäische
Gemeinschaft von 1958, allerdings bei voller Anerkennung von Palästina.
Anfang 1945 befand sich Deutschland noch im Krieg mit 25 Ländern, die
es besetzt hatte, und drohte einigen Nationen mit Genozid. Der
Schlüssel zum Frieden war die Versöhnung, die Entschuldigung und die
Kompensierung. Man gab der Wahrheit über die Greueltaten des Nazismus
sowohl intern als auch gegenüber den Betroffenen eine Chance. Das
glaubhafte Bekenntnis zur einem deutschen "Nie-Wieder" hat neue
Horizonte eröffnet.
Später wurde Deutschland sogar zu einer Säule im Aufbau der
Europäischen Gemeinschaft, ohne dabei eine dominante Rolle zu beanspruchen.
Es wäre im Interesse Israels und der arabischen Nachbarn von dieser
Erfolgsgeschichte zu lernen. Alle die einen guten Willen haben,
sollten mitten in dieser Krise zusammenkommen, um ein gemeinsames
Konzept für einen friedlichen Nahen- und Mittleren Osten zu
erarbeiten. (ENDE/trad fnf/COPYRIGHT IPS)
(*) Johan Galtung ist Friedensforscher, Begründer und Ko-Direktor von
TRANSCEND, ein Friedens- und Entwicklungsnetzwerk
(www.transcend.org). Dietrich Fischer ist Direktor des Europäischen
Universitätszentrums für Friedensforschung (www.epu.ac.at) und
Ko-Direktor von TRANSCEND.
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