[E-rundbrief] Info 366 - RB 120 - Ch. Hacker: Atomlobby verhoehnt Opfer.
Matthias Reichl
mareichl at ping.at
Sa Mär 4 23:02:33 CET 2006
E-Rundbrief - Info 366: Rundbrief Nr. 120 - Christina Hacker: Die Atomlobby
verhöhnt die Opfer. Neue Studie zu den Auswirkungen der
Tschernobyl-Katastrophe.
Bad Ischl, 4.3.2006
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
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Die Atomlobby verhöhnt die Opfer
Neue Studie zu den Auswirkungen der Tschernobyl-Katastrophe
Von Christina Hacker
Die Auswirkungen des Größt-Anzunehmenden-Unfalls (GAU) im Atomkraftwerk
Tschernobyl seien geringer als bisher angenommen, behauptet ein
internationales Wissenschaftlergremium in einem im September 2005
vorgelegten Bericht. Fast 20 Jahre nach der Katastrophe präsentiert das so
genannte Tschernobyl-Forum unter Federführung der Internationalen
Atomenergiebehörde (IAEA) das angeblich "wahre Ausmaß des Unfalls" mit dem
Tenor: "Alles gar nicht so schlimm".
Neben der IAEA waren sechs weitere große UN-Behörden an der Studie
beteiligt: die Weltgesundheitsorganisation (WHO), UNDP (United Nations
Development Programme), FAO (Food and Agriculture Organization), UNEP
(United Nations Environment Programme), UN-OCHA (United Nations Office for
the Coordination of Humanitarian Affairs), und UNSCEAR (United Nations
Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation). Auch die
Regierungen von Weißrussland, Russland und der Ukraine und nicht zuletzt
die Weltbank gehören dem Tschernobyl-Forum an. Die 600 Seiten umfassende
Studie "Tschernobyls Vermächtnis" behandelt die gesundheitlichen,
ökologischen und sozioökonomischen Folgen der Katastrophe. 1)
Opferzahlen schöngerechnet
Mehr als 100 Wissenschaftler erarbeiteten die neuen Ergebnisse und
präsentierten sie einer erstaunten Öffentlichkeit, war doch bislang in den
Medien ein ganz anderes Bild der Tschernobyl-Auswirkungen gezeichnet
worden. Dem Bericht zufolge werden von den mehr als 200.000
Katastrophenhelfern, die 1986 und 1987 mit Aufräumarbeiten in Tschernobyl
beschäftigt waren, bis zu 2200 wegen der radioaktiven Belastung früher
sterben, als es ihrer Lebenserwartung entspräche. Zusammen mit den nächsten
Anwohnern des havarierten Reaktors könnte die Gesamtzahl der durch den
Reaktorunfall geforderten Todesopfer auf 4000 steigen. Bis Mitte 2005 seien
weniger als 50 Todesfälle direkt der Strahlung zuzuordnen.
Dies widerspricht Studien unabhängiger Experten, die gezeigt haben, dass
Tschernobyl bereits heute deutlich mehr Todesopfer verursacht hat als im
Bericht prognostiziert und ein Ende noch nicht in Sicht ist. Die
ukrainische Gesundheitsbehörde sprach bereits im Jahr 2002 von 15.000
Todesopfern unter den Liquidatoren.
Anstieg von Schilddrüsenkrebs bei Erwachsenen ignoriert
Der Bericht führt weiter an, dass der Unfall zwar etwa 4000 Fälle von
Schilddrüsenkrebs bei Kindern verursacht hat, allerdings liege die
Heilungschance bei 98,8 Prozent. Dass die Erkrankungsrate bei Erwachsenen
drastisch angestiegen ist, wird im Bericht mit keinem Wort erwähnt. Nach
Informationen des Otto-Hug-Strahleninstituts in München ist bei Patienten
der Altersgruppe der heute 18 bis 35-Jährigen, die zum Zeitpunkt der
Katastrophe Kinder waren, ein deutlicher Anstieg zu erkennen. Die
abgebildete Grafik zeigt, wie sich die jährlichen Neuerkrankungen von
Schilddrüsenkrebs in Weißrussland im Zeitraum von 1976 bis 2000 bei
Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen entwickelt haben.
Anstieg von Leukämie und anderen Krebsfällen geleugnet
Weiter verneint die Studie, dass andere Krebsarten infolge des
Tschernobyl-Unfalls angestiegen seien. Dr. Michael Repacholi, Manager des
WHO-Strahlenprogramms, resümiert, dass das internationale Expertenteam
abgesehen von den 4000 Schilddrüsenfällen keine Anzeichen einer Erhöhung
von Leukämie- und anderen Krebserkrankungen bei den betroffenen Bürgern
gefunden habe. 2 Diese Aussage wurde bereits von mehreren unabhängigen
Wissenschaftlern widerlegt (s. auch Umweltnachrichten 98/2003 oder
Umweltinstituts-Webseite "Radioaktivität" > "Tschernobyl-Folgen"). Selbst
die IAEA räumte im Jahr 2000 ein, dass eine ganze Reihe von Krankheiten bei
der betroffenen Bevölkerung augenfällig sei, auch Leukämie und andere
Krebsarten seien vermehrt beobachtet worden.
Alles nur Einbildung?
Schließlich heben die Autoren der Studie hervor, dass mehrere 100.000
Betroffene an psychischen Folgen des Unfalls leiden. Es wird von
Stress-Symptomen, Depression, Angst und medizinisch nicht erklärbaren
Krankheitssymptomen sowie selbstdiagnostiziertem schlechten
Gesundheitszustand berichtet.
Die Bezeichnung "Opfer" anstatt "Überlebende" hätte ebenfalls dazu
beigetragen, dass sich die Betroffenen selbst als hilflos mit unbestimmter
Zukunft sehen. Dies würde bei manchen zu einem übervorsichtigen Lebensstil,
bei anderen zu völlig unbekümmertem Verhalten führen. Armut wie auch
psychische Erkrankungen vor allem bei den 350.000 Evakuierten würden eine
weit größere Bedrohung darstellen als die Strahlung. Nicht zuletzt hätten
anhaltende Mythen und eine Fehleinschätzung der Bedrohung durch radioaktive
Strahlung zu einem lähmenden Fatalismus geführt. Nicht die Strahlung sei
schuld am zunehmend schlechten Gesamtzustand der Bevölkerung, sondern
Hysterie und eine regelrechte "Radiophobie".
In dieses Horn bläst auch Dr. Mikhail Balonov, wissenschaftlicher
Geschäftsführer des Tschernobyl-Forums: "In den meisten Gebieten herrschen
wirtschaftliche und psychologische Probleme vor, und nicht so sehr
gesundheitliche oder ökologische" 2). Auch bezüglich der Umweltverseuchung
gibt Balonov Entwarnung: Abgesehen von der hochkontaminierten Sperrzone,
die im Radius von 30 Kilometern um den Reaktor verläuft, und einigen
gesperrten Seen und Wäldern habe die radioaktive Belastung im Großen und
Ganzen wieder ein akzeptables Niveau erreicht.
Die Atomlobby wäscht sich rein
Die Arroganz gegenüber dem Leiden der Betroffenen ist schier unerträglich.
Wenn man die am Bericht beteiligten Organisationen genauer betrachtet, wird
allerdings klar, dass diese "Wahrheit" über die Tschernobyl-Folgen nur
subjektiv ausfallen kann. Der Bericht trägt die deutliche Handschrift der
Atomlobby, schreibt sich doch die maßgeblich beteiligte IAEA die weltweite
Förderung der Atomenergienutzung auf ihre Fahnen.
Kurz vor dem 20. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe soll offenbar die
Meldung lanciert werden, dass selbst bei einem GAU die Schäden überschaubar
bleiben und also die Stromgewinnung aus Atomkraftwerken ein durchaus
duldbares Risiko beinhaltet. Der Direktor der Würzburger Uniklinik und
Leiter der Nuklearmedizin, Professor Christoph Reiners, untermauert diese
Vermutung: Bei Strahlenunfällen schwinge immer eine "unbestimmte Angst"
mit. Im Grunde aber sei Tschernobyl "in seinem Ausmaß eine Katastrophe, die
mit anderen Industrie-Katastrophen vergleichbar ist". 3) Diese vermutlich
eher beruhigend gemeinte Aussage ist Wasser auf die Mühlen der Atomlobby in
ihrem derzeitigen Bestreben, die Atomenergienutzung wieder hoffähig zu
machen. Tatsächlich könnte man Tschernobyl mit Industrie-Katastrophen wie
Seveso oder Bhopal vergleichen, die in ihrem Ausmaß und den
Langzeitwirkungen auf die Gesundheit der betroffenen Bevölkerung verheerend
waren und noch immer sind. Tatsächlich können Katastrophen dieser Art
genauso Angst auslösen wie ein atomarer GAU. Mit solchen vermeintlichen
Verharmlosungen soll die Bevölkerung beschwichtigt werden.
Für den WHO-Manager Repacholi ist denn auch "das Ergebnis der Studie
insgesamt beruhigend." "Die gesundheitlichen Auswirkungen des Unfalls waren
möglicherweise entsetzlich (potentially horrific), aber wenn man sie unter
Einbeziehung gültiger Schlussfolgerungen aus gut belegten Forschungen (good
science) aufsummiert, waren die Folgen für die Gesundheit nicht annähernd
so tiefgreifend, wie ursprünglich befürchtet". 2)
Auch Burton Bennett, Strahlenexperte und Vorsitzender des
Tschernobyl-Forums, kommt zu einer ähnlichen Einschätzung: "Es war ein sehr
schwerer Unfall mit ernsthaften gesundheitlichen Folgen, besonders für
tausende Arbeiter, die in den ersten Tagen sehr hohen Dosen an radioaktiver
Strahlung ausgesetzt waren und für weitere Tausende, die unter
Schilddrüsenkrebs leiden. Im Großen und Ganzen aber haben wir keine
wesentlichen negativen gesundheitlichen Auswirkungen beim Rest der
Bevölkerung in den umliegenden Gebieten festgestellt und haben auch keine
weitreichende Kontamination gefunden, die noch immer eine ernsthafte
Bedrohung für die menschliche Gesundheit darstellt, abgesehen von einigen
wenigen begrenzten Gebieten." 2)
Bilanz noch nicht möglich
Heute bereits Bilanz zu ziehen und zu behaupten, dass die
Reaktorkatastrophe weniger Menschen das Leben gekostet hat als befürchtet,
ist nicht seriös. Die meisten der im Bericht zitierten Studien stützen sich
auf Zahlen aus den 1990er Jahren. Die Latenzzeiten für Krebs außer Leukämie
betragen bekanntlich zwischen zehn und dreißig Jahre. Es ist also noch viel
zu früh, um einen deutlichen Anstieg der allgemeinen Krebsrate aufzeigen zu
können. Bester Beleg dafür ist, dass heute, 60 Jahre nach den
Atombombenabwürfen in Hiroshima und Nagasaki, noch immer die Daten der
Überlebenden ausgewertet werden. Das "wahre Ausmaß des Unfalls" - wie es
der Bericht suggeriert - kann also noch lange nicht abschließend beurteilt
werden.
Auch das Bundesamt für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU)
kritisiert die Tschernobyl-Studie. Nach seiner Ansicht werden in dem
Bericht die Folgen des Reaktorunglücks verharmlost. Bei der Aussage, es
könnten insgesamt etwa 4000 Menschen an den Folgen des Unfalls sterben,
handelt es sich lediglich um eine Risikoabschätzung auf der Basis der
Strahlenerkenntnisse von Hiroshima und Nagasaki. Nach ersten Erkenntnissen
des BMU sind in der Studie die tatsächliche Dosisermittlung und die damit
verbundenen Folgen für Leben und Gesundheit für die betroffene Bevölkerung
im Einzelnen gar nicht betrachtet worden, so dass die Aussagen weder
hinreichend belastbar noch plausibel sind. 4)
Die Gefahr ist nicht geringer geworden
Die Atommeiler sind inzwischen nicht sicherer geworden. Insbesondere
osteuropäische Atomanlagen sind teilweise in einem katastrophalen Zustand,
sicherheitstechnische Nachrüstungen können mangels Finanzen nicht oder nur
unzureichend durchgeführt werden. Besonders beunruhigend ist, dass heute
noch immer 16 mit dem Unfallreaktor Tschernobyl baugleiche Reaktoren am
Netz sind, einer in Litauen und 15 in Russland.
Katastrophe durch Unfall oder Terroranschlag nicht auszuschließen
Aber auch die deutschen Energiekonzerne scheuen sich, ihre Atomkraftwerke
sicherheitstechnisch nachzurüsten. Der so genannte Atomkonsens hat ihnen
eine verbindliche und weitgehend ungestörte Restlaufzeit zugesichert,
Kosten müssen also möglichst gering gehalten werden, die längst
abgeschriebenen Meiler sollen schließlich Gewinne erwirtschaften. Ein
katastrophaler Unfall ist deshalb auch hierzulande nicht auszuschließen.
Außerdem wird seit dem 11. September 2001 ein terroristischer Angriff auf
Atomanlagen als reale Gefahr eingeschätzt, wie schon mehrfach aus
Geheimdienstkreisen verlautete.
Das Umweltinstitut München e.V. wird sich auch weiterhin dafür einsetzen,
dass der Atomausstieg in Deutschland zügig vollzogen wird. Vor allem darf
es keine Betriebsverlängerungen für alte und störanfällige Reaktoren, die
noch nicht einmal den Absturz eines kleinen Verkehrsflugzeuges aushalten,
geben. Auch in Zukunft werden wir kontinuierlich die
Umgebungsradioaktivität überwachen, Messungen von Umweltproben durchführen
und vor allem unabhängig informieren.
Verkehrte Welt?
Der Friedensnobelpreis geht in diesem Jahr zu gleichen Teilen an die
Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) und ihren Generalsekretär Mohammed
el-Baradei. Ausgezeichnet werden damit die "Bemühungen zu verhindern, dass
die Nuklearenergie für militärische Zwecke genutzt wird, und zu
gewährleisten, dass die Atomenergie für friedliche Zwecke so sicher wie
möglich eingesetzt wird", so die Begründung des Komitees. Genau darin liegt
aber die Schizophrenie der IAEA, denn wer die zivile Atomtechnik fördert,
öffnet zwangsweise Tür und Tor für die Atomwaffenprogramme. Einerseits soll
die militärische Nuklearnutzung verhindert werden, andererseits wird durch
die satzungsgemäße Förderung des Ausbaus der Atomkraft indirekt die
Weiterverbreitung von Atomwaffen begünstigt. Eine Trennung ist nicht
möglich, wie in den letzten Jahren neue, "illegale" Atomwaffenstaaten immer
wieder bestätigten. Es mag eine politische Entscheidung sein, um die
Notwendigkeit der Abrüstung von Atomwaffen zu unterstreichen. Ob dieses
Kalkül aufgeht, ist fraglich. Das Nachsehen hatte die Organisation der
japanischen US-Atombombenopfer von Hiroshima und Nagasaki, die ebenfalls
nominiert war. Zum 60sten Jahrestag der Atombombenabwürfe wäre der Preis
bei dieser Organisation besser platziert gewesen.
Anmerkungen:
1) The Chernobyl Forum: Chernobyl´s Legacy: Health, Environmental and
Socio-economic Impacts. IAEA, Wien, September 2005
2) International Atomic Energy Agency, World Health Organization, United
Nations Development Programme: Chernobyl: The True Scale of the Accident.
Press Release, September 5, 2005
3) Schweinfurter Tagblatt vom 15.9.2005
4) Pressemitteilung Nr. 236/05 des BMU vom 7.9.2005
Quelle: Umweltinstitut München e.V. vom 20.01.2006. Zuerst veröffentlicht
in der Mitgliederzeitschrift des Umweltinstituts München
"Umweltnachrichten", Ausgabe 102/ Dezember 2005.
http://www.lebenshaus-alb.de/mt/archives/003543.html
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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
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