[E-rundbrief] Info 220 - RB 116 - Uri Avnery: Die naechsten Kreuzz�ge.

Matthias Reichl mareichl at ping.at
Fr Mär 25 18:00:25 CET 2005


E-Rundbrief - Info 219 - Rundbrief Nr. 116 - Uri Avnery: Die nächsten 
Kreuzzüge (Libanon, Irak, Syrien, Iran, Palästina/ Israel).

Bad Ischl, 25.3.2005

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

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Die nächsten Kreuzzüge

Uri Avnery, 5.3.05

Vor vielen Jahren las ich das Buch "Der stille Amerikaner" von Graham 
Green. Seine Hauptfigur ist ein hochgesinnter, naiver, junger 
amerikanischer Geheimdienstler in Vietnam. Er hat von der Komplexität 
dieses Landes keine Ahnung, will aber seine Missstände beseitigen und 
Ordnung schaffen. Die Folgen sind verheerend.

Ich habe das Gefühl, dass genau dies jetzt im Libanon geschieht. Die 
Amerikaner sind nicht so hochgesinnt und nicht so naiv. Weit davon 
entfernt. Aber sie sind sehr bereit, in ein fremdes Land einzudringen, ohne 
seine Komplexität zu berücksichtigen, und in ihm mit Gewalt Ordnung, 
Demokratie und Freiheit herzustellen.

Bürgerkrieg: Libanon.

  Der Libanon ist ein Land mit einer besonderen Topographie: es ist ein 
kleines Land mit hohen Bergketten und isolierten Tälern. Deshalb zog es 
Jahrhunderte lang Gemeinschaften verfolgter Minderheiten an, die hier ein 
Refugium fanden. Heute leben dort neben- und gegeneinander vier 
ethno-religiöse Gemeinschaften: Christen, Sunniten, Schiiten und Drusen. 
Innerhalb der christlichen Gemeinschaft gibt es noch verschiedene 
Denominationen, wie die Maroniten, Griechisch-Orthodoxen u.a., die einander 
oft feindlich gesinnt sind. Die Geschichte des Libanon ist voll von 
gegenseitigen Massakern.

Solch eine Situation lädt Nachbarn und ausländische Mächte geradezu ein, 
sich einzumischen. Jeder wünscht, zum eigenen Vorteil in diesem Topf 
herumzurühren. Syrien, Israel, die USA und Frankreich, der frühere 
Kolonialherr  alle sind daran beteiligt.

Genau vor 50 Jahren gab es zwischen den Führern Israels eine geheime, 
hitzige Debatte. David Ben Gurion (damals Verteidigungsminister) und Moshe 
Dayan (Generalstabschef) hatten eine brillante Idee: den Libanon zu 
überfallen, einen "christlichen Major" als Diktator einzusetzen und den 
Libanon in ein israelisches Protektorat zu verwandeln. Moshe Sharett, der 
damalige Ministerpräsident, lehnte diese Idee leidenschaftlich ab. In einem 
langen, scharf argumentierenden Brief, der für die Geschichte bewahrt 
wurde, zieht er angesichts der unglaublich zerbrechlichen Komplexität der 
libanesischen sozialen Struktur die totale Unkenntnis der Befürworter 
dieser Idee ins Lächerliche. Jedes Abenteuer würde in einer Katastrophe 
enden, warnte er.

Zu jener Zeit siegte Sharett. Aber 27 Jahre später taten Menachim Begin und 
Ariel Sharon genau das, was Ben Gurion und Dayan vorgeschlagen hatten. Das 
Ergebnis war genau so, wie Sharett es vorausgesehen hatte.

Jeder, der jetzt den amerikanischen und israelischen Medien folgt  es gibt 
keinen Unterschied  gewinnt den Eindruck, dass die gegenwärtige Situation 
im Libanon einfach sei: es gibt zwei Lager, "die Unterstützer Syriens" auf 
der einen Seite und die "Opposition" auf der anderen. Da gibt es einen 
"Beiruter Frühling". Die Opposition ist eine Zwillingsschwester der 
gestrigen ukrainischen Opposition, und loyal imitiert sie ihre Methoden: 
Demonstrationen gegenüber vom Regierungsgebäude, ein Meer von geschwungenen 
Fahnen, farbige Schals und am wichtigsten: hübsche Mädchen in der ersten Reihe.

Aber zwischen der Ukraine und dem Libanon gibt es nicht die geringste 
Ähnlichkeit. Die Ukraine ist ein "einfach" strukturiertes Land: der Osten 
tendiert zu Russland, der Westen zu Europa. Mit amerikanischer Hilfe, 
gewann der Westen.

Im Libanon sind alle verschiedenen Gemeinschaften in Aktion. Jede für ihre 
eigenen Interessen, jede verschwört sich gegen die andere, trickst sie aus 
oder greift sie bei einer günstigen Gelegenheit an. Einige der Führer sind 
mit den Syrern verbunden, einige mit Israel, alle versuchen, die Amerikaner 
für ihre Zwecke auszunützen. Die hübschen Bilder der in den Medien 
auffallenden jungen Demonstranten haben keine Bedeutung, wenn man nicht 
weiß, welche Gruppierung hinter ihnen steht.

Es sind erst 30 Jahre her, dass all diese Gruppierungen einen schrecklichen 
Bürgerkrieg begonnen hatten, und sie sich gegenseitig umbrachten. Die 
christlichen Maroniten wollten das Land mit Hilfe Israels übernehmen, 
wurden aber von einer Koalition der Sunniten und Drusen besiegt. (Die 
Schiiten spielten damals keine Rolle). Die von der PLO geführten 
palästinensischen Flüchtlinge, die eine fünfte Gemeinschaft bildeten, 
schlossen sich dem Kampf an. Als die Christen in Gefahr waren, überrannt zu 
werden, riefen sie die Syrer zu Hilfe. Sechs Jahre später fielen die 
Israelis mit dem Ziel ein, die Syrer und die Palästinenser gemeinsam zu 
vertreiben und einen christlichen starken Mann (Basheer Jumal) einzusetzen.

Wir brauchten 18 Jahre, um aus dem Morast wieder herauszukommen. Unsere 
einzige Errungenschaft war, die Schiiten in eine dominante Macht zu 
verwandeln. Als wir in den Libanon einmarschierten, empfingen uns die 
Schiiten mit Reis und Süßigkeiten, da sie hofften, wir würden die sie 
beherrschenden Palästinenser hinaustreiben. Ein paar Monate später, als 
ihnen klar wurde, dass wir nicht die Absicht hatten, sie zu verlassen, 
begannen sie, auf uns zu schießen. Sharon ist der Geburtshelfer der 
schiitischen Hisbollah.

Es ist schwer vorauszusehen, was geschehen wird, wenn die Syrer in das 
amerikanische Ultimatum einwilligen und den Libanon verlassen. Es gibt 
keine Anzeichen, dass die Amerikaner sich mit der Schaffung neuer 
Lebensstrukturen für die libanesischen Gemeinschaften befassen. Sie geben 
sich damit zufrieden, über "Freiheit" und "Demokratie" zu faseln, als ob 
ein Mehrheitsvotum ein für alle akzeptables Regime schaffen könnte. Sie 
verstehen nicht, dass der "Libanon" ein abstrakter Begriff ist, da für die 
meisten Libanesen die Zugehörigkeit zu ihrer Gemeinschaft bei weitem 
wichtiger ist als Loyalität zum Staat. In solch einer Situation bedeutet 
auch eine internationale Militärtruppe keine Hilfe.

Das Wiederaufflammen eines blutigen Bürgerkrieges ist leicht möglich.

Bürgerkrieg: Irak.

  Wenn im Libanon ein Bürgerkrieg ausbricht, wird er nicht der einzige der 
Region sein. Im Irak ist solch ein Krieg  wenn auch fast im 
Geheimen  bereits in vollem Gange.

Die einzige effektive Militärtruppe im Irak  abgesehen von der 
Besatzungsarmee  sind die kurdischen "Peshmargas", (jene, die dem Tode 
entgegensehen). Die Amerikaner benutzen sie immer dann, wenn sie gegen die 
Sunniten kämpfen. Sie spielten in der Schlacht von Falludja eine bedeutende 
Rolle. Die große Stadt wurde total zerstört, die Bewohner getötet oder 
vertrieben.

Das kurdische Militär führt jetzt einen Krieg gegen die Sunniten und 
Turkmenen im Norden des Landes, um die ölreichen Gebiete und die Stadt 
Kirkuk zu besetzen, und um die Sunniten, die von Saddam Hussein dort 
angesiedelt worden waren, zu vertreiben.

Wie kann solch ein Krieg von den Medien praktisch ignoriert werden? Ganz 
einfach: alles wird unter den Teppich "des Krieges gegen den Terrorismus" 
gekehrt.

Aber dieser kleine Krieg ist nichts, verglichen mit dem, der im Irak 
geschehen kann, wenn die Zeit kommt, um die Zukunft des Landes zu 
entscheiden. Die Kurden fordern völlige Autonomie, praktisch 
"Unabhängigkeit" mit einem anderen Namen. Die Sunniten denken nicht im 
Traume daran, die Herrschaft der von ihnen verachtenden schiitischen 
Mehrheit, zu akzeptieren  auch dann nicht, wenn es im Namen der 
"Demokratie" geschieht. Der Ausbruch eines Bürgerkrieges mag nur eine Frage 
der Zeit sein.

Bürgerkrieg: Syrien.

Wenn es den Amerikanern (mit unserer diskreten Hilfe) gelingt, die 
regierende syrische Diktatur zu stürzen, gibt es überhaupt keine 
Sicherheit, dass sie durch "Freiheit" und "Demokratie" ersetzt wird.

Syrien ist fast so zersplittert wie der Libanon. Es gibt eine starke 
drusische Gemeinschaft im Süden, eine rebellische kurdische Gemeinschaft im 
Norden, eine alawitische (zu der die Assadfamilie gehört) im Westen. Die 
sunnitische Mehrheit ist traditionell zwischen Damaskus im Süden und Aleppo 
im Norden geteilt. Das Volk hat sich aus Furcht vor dem, was nach einem 
Regimekollaps geschehen könnte, mit der Assad-Diktatur abgefunden.

Es ist unwahrscheinlich, dass ein wirklicher Bürgerkrieg hier ausbrechen 
wird. Aber eine längere Phase von totalem Chaos ist ziemlich 
wahrscheinlich. Sharon würde darüber glücklich sein, obgleich ich mir nicht 
sicher bin, ob dies für Israel gut sein wird.

Religiöser Eifer: Iran.

Das Hauptziel der Amerikaner ist natürlich, die Ayatollahs im Iran zu 
stürzen. ( Es ist schon etwas paradox, dass zur selben Zeit die Amerikaner 
im benachbarten Irak den Schiiten zur Macht verhelfen, wobei diese darauf 
bestehen, das islamische Recht einzuführen).

Der Iran ist eine viel schwerer zu knackende Nuss. Im Gegensatz zum Irak, 
Syrien und dem Libanon ist hier eine homogene Gesellschaft.

Israel droht jetzt offen mit dem Bombardieren der iranischen 
Atomeinrichtungen. Alle paar Tage sieht man auf unsern Fernsehschirmen die 
digital vertuschten Gesichter der Piloten, die sich mit ihrer Bereitschaft 
rühmen, dies jederzeit zu tun.

Der religiöse Eifer der Ayatollahs hat in letzter Zeit nachgelassen, wie 
dies bei jeder siegreichen Revolution nach einiger Zeit geschieht. Aber ein 
militärischer Angriff durch den "Großen Satan" (die US) oder den "kleinen 
Satan" (wir) kann den Eifer im schiitischen Halbmond, im Iran, Südirak und 
im Südlibanon neu anfachen.

Ja, auch hier.

  Sogar Israel wurde kürzlich Zeuge eines winzigen Bürgerkrieges.

Im galiläischen Dorf Marrar, wo eine drusische und eine 
arabisch-christliche Gemeinschaft seit Generationen neben einander lebt, 
brach plötzlich eine blutige Auseinandersetzung aus. Es war ein richtiges 
Pogrom: die Drusen fielen über die Christen her, griffen sie an, setzten 
einiges in Brand und zerstörten. Wie durch ein Wunder wurde niemand 
getötet. Die Christen sagten, dass die israelische Polizei - viel von ihnen 
sind Drusen - daneben stand. Der Grund für den Ausbruch: einige fabrizierte 
Nacktfotos im Internet.

Es ist leicht, einen Bürgerkrieg entweder aus Fanatismus oder 
unerträglicher Naivität zu entfachen. George Bush, der (nicht-so-) stille 
Amerikaner, rennt in der Welt herum, um mit seinem patentierten Medikament 
"Freiheit" und "Demokratie" hausieren zu gehen und das mit einer totalen 
Ignoranz über Hunderte von Jahren von Geschichte. Es ist kaum zu glauben, 
aber er zieht seine Inspiration aus einem Buch unseres Nathan Sharansky, 
einem  gelinde gesagt - sehr kleinen Geist.

Jedes menschliche Wesen und jedes Volk hat ein Recht auf Freiheit. Viele 
von uns haben für dieses Ziel ihr Blut vergossen. Demokratie ist ein Ideal, 
das jedes Volk für sich selbst realisieren muss. Aber wenn die Banner der 
"Freiheit" und "Demokratie" über dem Kreuzzug einer habgierigen und 
unverantwortlichen Supermacht flattern, können die Folgen katastrophal sein.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

(Buchtipps siehe auch Info 218, sowie weitere Infos 221, 212, 190, 191 u. 203)

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Matthias Reichl

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