[E-rundbrief] Info 163 - Uri Avnery: Freue dich nicht (�ber Arafats Tod)
Matthias Reichl
mareichl at ping.at
Di Nov 16 09:31:44 CET 2004
E-Rundbrief - Info 163 - Uri Avnery: Freue dich nicht (über Arafats Tod)
Bad Ischl, 16.11.2004
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
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Kein arabischer Führer und sehr wenige Führer der Welt weckte solch tiefe
Liebe und Bewunderung seines Volkes wie dieser Mann, den die Israelis als
wahrhaftiges Monster in Menschengestalt betrachten. Die Palästinenser
vertrauten ihm, verließen sich auf ihn, ließen ihn alle großen, mutigen
Entscheidungen fällen, holten sich von ihm die Kraft, um den unerträglichen
Bedingungen einer brutalen Besatzung stand halten zu können. Jetzt finden
sie sich - unvorstellbar - auf einmal allein wie Verwaiste in einer vom
Tode dieses einen Mannes für sie veränderten Welt. Er hinterlässt eine
große Lücke.
Freue dich nicht
Uri Avnery, 13.11.04*
"Freue dich nicht über den Fall deines Feindes, und dein Herz sei nicht
froh über sein Unglück; der Herr könnte es sehen und Missfallen daran haben
." (Sprüche Salomos, 24,17)
Dieses biblische Gebot ist eines der tiefsinnigsten jüdischen moralischen
Lehrsätze.
In diesem Zusammenhang wäre Israel weit davon entfernt, ein "jüdischer
Staat" zu sein, wie er sich selbst gerne definiert. Die widerlichen
unflätigen Ausdrücke, die in den letzten Tagen über Arafat praktisch in
allen israelischen Medien verbreitet wurden, lassen mich als Israeli vor
Scham erröten.
Die Dämonisierung des palästinensischen Nationalführers, die seit
Jahrzehnten ein Kernstück israelischer Propaganda gewesen ist, geht nun
auch noch über seinen Tod hinaus. Es scheint, dass die 37 Jahre als
Besatzer unsere Gesellschaft entmenschlicht und ihr sogar das allgemeine
Anstandsgefühl genommen haben.
Minister und Fischverkäufer, TV-Ikonen und Universitätsprofessoren, "Linke"
und totale Faschisten versuchten mit vulgärsten Ausdrücken einander zu
überbieten.
Niemals war die tiefe Kluft in der Wahrnehmung beider Völker deutlicher als
an Arafats Beerdigungstag. Während israelische Kommentatoren und "Experten
für arabische Angelegenheiten" die meisten Veteranen verschiedener
Geheimdienstagenturen den verstorbenen Führer als wahrhaftiges Monster,
eine Verkörperung der Grausamkeit, Verwerflichkeit und Korruption
beschrieben - brachen Hundert Tausende kummervoll Trauernde in Ramallah in
Emotionen aus, die das Begräbnis in ein Chaos verwandelten und fast
unterbrochen hätten. Wenn die israelische Armee an diesem Tag nicht alle
Städte umzingelt und isoliert hätte, wären mehr als eine Million dort gewesen.
Gush Shalom, die einzige israelische Organisation, die mit dem
palästinensischen Volk trauerte, entschied sich, eine Delegation zur
Beerdigung zu schicken. Alle von uns Aktivisten, Frauen und Männer, trugen
auf ihrer Brust ein großes Abzeichen, das aus der israelischen und
palästinensischen Flagge besteht. Der Druck der Menge trieb uns
auseinander. Während der Stunden des Begräbnisses fühlten wir uns
vollkommen sicher, auch als Tausende von Schüssen in die Luft geschossen
wurden, um den Kummer und die Trauer zum Ausdruck zu bringen. Uns wurde
hundertfach Dankbarkeit und Freundschaft von Seiten der Palästinenser jeden
Alters und jeder Position zum Ausdruck entgegen gebracht.
Ich war mitten in der Menge, als der Helikopter, der den Sarg brachte, von
Kairo kam. Als ich neben dem Grab zwischen den palästinensischen Ministern,
religiösen Würdenträgern und Diplomaten stand, empfand ich, während der
Helikopter den Boden berührte, die Emotionen der großen Menge um uns
besonders stark und erinnerte mich an die Szene von Gamal Abd-al Nassers
Begräbnis (1970), als dort die Massen vorwärts drängten und buchstäblich
den Leichnam ihres geliebten Führers den Soldaten abnahmen. Ich hatte das
Gefühl, dass dies hier auch jeden Moment geschieht. Und es geschah.
Kein arabischer Führer und sehr wenige Führer der Welt weckte solch tiefe
Liebe und Bewunderung seines Volkes wie dieser Mann, den die Israelis als
wahrhaftiges Monster in Menschengestalt betrachten. Die Palästinenser
vertrauten ihm, verließen sich auf ihn, ließen ihn alle großen, mutigen
Entscheidungen fällen, holten sich von ihm die Kraft, um den unerträglichen
Bedingungen einer brutalen Besatzung stand halten zu können. Jetzt finden
sie sich - unvorstellbar - auf einmal allein wie Verwaiste in einer vom
Tode dieses einen Mannes für sie veränderten Welt. Er hinterlässt eine
große Lücke.
Was wird nun geschehen? Arafat brachte sein Volk vom Rande der
Vergessenheit an die Schwelle der Unabhängigkeit. Doch ist die Schlacht der
Befreiung noch längst nicht vorüber. Die neue Führung muss mit all den
Problemen, denen Arafat gegenüberstand, fertig werden ohne die gewaltige
Autorität Arafats.
Abu Mazen, Abu-Ala und ihre Kollegen sind aufrechte und anständige Leute.
Ich kenne sie seit Jahren, meistens von Treffen mit Arafat. Aber sie sind
nicht im Volk verwurzelt. Es mag Jahre dauern, bis wieder eine starke
Führung auftaucht.
Im Augenblick sind die Palästinenser in ihrem Vorsatz vereinigt, der Welt
zu zeigen, dass sie mit der Krisis in einer zivilisierten und
verantwortlichen Weise fertig werden können. Dies könnte für Israel (und
natürlich auch für die Vereinigten Staaten) eine Chance werden, mit dem
palästinensischen Volk ein neues Kapitel ihrer Beziehungen aufzuschlagen.
Was könnte getan werden? Nun, da sollte es neue Zeichen des guten Willens
geben mit solchen Gesten wie einer Massenentlassung palästinensischer
Gefangener, einschließlich des sehr geachteten Marwan Barghouti, der zu
fünffach lebenslänglich verurteilt wurde. Belagerungen sollten aufgehoben
und militärische Operationen wenigstens eingeschränkt werden.
Friedensverhandlungen sollten für die nächste Zukunft angekündigt werden.
Der erste Test war natürlich das Begräbnis selbst. Arafat hätte gemäß
seinem Wunsch - in Jerusalem beerdigt werden sollen. Seine Bestattung in
Ramallah wird die Palästinenser nur in ihrem Kampf anspornen, bis sie in
der Lage sind, ihn dort beizusetzen. Der Justizminister Tommy Lapid, ein
extrem Rechter, der sich liberal gibt, erzielte einen neuen Rekord in
Pöbelhaftigkeit als er erklärte, dass nur "jüdische Könige in Jerusalem
beerdigt werden dürften und keine arabischen Terroristen". Menachim Begin,
ein Terrorist, der "ein König" wurde und in Jerusalem beerdigt ist, könnte
als Präzedenzfall dienen.
Das Wichtigste wäre nun, dass man die Palästinenser in die Lage versetzt,
innerhalb der nächsten 60 Tage Wahlen abzuhalten, wie es ihre Verfassung
vorschreibt. Tatsächlich betraf mein letztes Gespräch mit Arafat vor nur
wenigen Wochen die Wahlen. (Übrigens sah er damals noch ganz gesund aus.)
Wir stimmten darin überein, dass sie undurchführbar seien, während die
israelische Armee routinemäßig mögliche Kandidaten umbringt und die
Bewegung zwischen den Städten und Orten fast unmöglich macht. Wie wollen
Kandidaten falls sie am Leben bleiben für Stimmen werben? Wie sollen sie
Material verteilen, Versammlungen abhalten und über Politik debattieren,
wenn im Hintergrund Panzer stehen und Kampfhubschrauber über ihren Köpfen
kreisen?
Diese Situation muss sofort verändert werden. Alle militärischen Einheiten
müssen wenigstens aus den Gebieten, die unter der Jurisdiktion der
Palästinensischen Behörde stehen, (nach den Oslo-Abkommen die sog. Zonen A
und B) zurückgezogen werden, die Bewegungsfreiheit wieder hergestellt, die
Kampagne der "gezielten Liquidationen" gestoppt und vor allem
internationale Beobachter eingeladen werden.
Wird das geschehen? Wahrscheinlich nicht. Ariel Sharon hat absolut kein
Interesse daran, einer demokratisch gewählten Führung, die international
legitimiert und geachtet wird, gegenüber zu sitzen, die vielleicht sogar
seine Kontrolle über Präsident Bush schwächt und seinen Plan zerstört, der
die Annexion des größten Teils der Westbank vorsieht. Er wird alles tun, um
die Wahlen zu verhindern und die Schuld daran, natürlich, den
Palästinensern in die Schuhe schieben.
Wie immer ist es ratsam zu ignorieren, was Sharon sagt - und genau darauf
zu achten, was er tut.
* Genau vor 30 Jahren, am 13.11.1974, stand Yasser Arafat vor der UNO und
hielt seine berühmte Rede
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
http://www.uri-avnery.de
erstellt am 13.11.2004
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