[E-rundbrief] Info 2044 - Costa Ricas Abrüstung und Demilitarisierung
Matthias Reichl
info at begegnungszentrum.at
Mo Dez 14 20:50:52 CET 2020
E-Rundbrief Info 2044 - Carlos Umaña/ Pressenza: Costa Ricas aktive
Rolle bei der Abrüstung – ein Vorbild für Demilitarisierung.
Bad Ischl, 14.12.2020
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
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Costa Ricas aktive Rolle bei der Abrüstung – ein Vorbild für
Demilitarisierung
08.12.2020 - San José, Costa Rica - Carlos Umaña
https://www.pressenza.com/de/2020/12/costa-ricas-aktive-rolle-bei-der-abruestung-ein-vorbild-fuer-demilitarisierung/
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Costa Ricas aktive Rolle bei der Abrüstung – ein Vorbild für
Demilitarisierung.
Am ersten Dezember war der 72. Jahrestag Costa Ricas außergewöhnlicher
Entscheidung, das eigene Militär abzuschaffen. Dr. Carlos Umaña, ein
Costa-Ricaner, der die Internationale Kampagne zur Abschaffung
Nuklearer Waffen (ICAN) mitgestaltet, erklärt den Hintergrund und
stellt Überlegungen zur Bedeutung dieser Maßnahme an, sowie zum wahren
Wert gewaltfreier Konfliktlösung und den Auswirkungen in einer Welt,
in der es Pandemien gibt.
Costa Rica sticht als friedliches Land in einer der gewaltvollsten
Regionen weltweit hervor. Bei vielen Indikatoren schneidet es
ausgezeichnet ab: Eine hohe Alphabetisierungsrate (98%), eine hohe
Lebenserwartung (80,1 Jahre) – es landete sogar auf dem ersten Platz
des „happy planet index“. Das Wort „Frieden“ ist hier ebenso
allgegenwärtig. In Costa Rica gibt es die Universität des Friedens und
ein Ministerium für Frieden und Gerechtigkeit. Frieden wird als
Menschenrecht anerkannt und Costa Ricas Diplomatie treibt seit langem
den Fortschritt des Friedens, die Abrüstung und umweltpolitische
Maßnahmen voran. Im Jahr 1986 entwarf der Präsident Costa Ricas Oscar
Arias zweimal einen Friedensplan, der dazu beitrug, im
kriegszerrütteten Zentralamerika Frieden zu schaffen (dafür gewann er
1987 den Friedensnobelpreis); Costa Rica gehörte ebenso zu den
Hauptbefürwortern des Vertrags über den Waffenhandel und spielte eine
zentrale Rolle in dessen Verwirklichung und Verhandlung.
Hinsichtlich nuklearer Abrüstung schlug es – gemeinsam mit Malaysia –
ein Modell für eine Nuklearwaffenkonvention im Jahr 1997 vor. Das Land
war Vorreiter in allen Bemühungen, Abrüstung voranzutreiben, ist Teil
der Kerngruppe der sieben Nationen, die den Atomwaffenverbotsvertrag
unterstützen, und erhielt 2018 den „Person of the Year“ Award für
Rüstungsbeschränkung. Costa-ricanische Diplomat*innen haben häufig
eine führende Rolle in Abrüstungsvorhaben übernommen, darunter die
erste Offene Arbeitsgruppe nuklearer Abrüstung im Jahr 2013 (unter dem
Vorsitz von Botschafter Dengo), sowie die Konferenz für die
Verhandlung des Atomwaffenverbotsvertrags (unter dem Vorsitz von
Botschafter Whyte). Darüber hinaus haben Costa-Ricaner ebenso eine
wichtige Rolle in internationaler Umweltpolitik gespielt; zum Beispiel
war es die costa-ricanische Botschafterin Christiana Figueres, die der
Konferenz zum Pariser Abkommen 2015 vorsaß. Es gibt noch viele weitere
Beispiele.
Diese führende Rolle in internationaler Friedenspolitik hat viel damit
zu tun, dass Costa Rica ein demilitarisiertes Land ist. Costa Rica ist
unter anderem dafür bekannt, seine Armee abgeschafft zu haben. Diese
Entscheidung hat auf machtvolle Weise neu definiert, was Sicherheit
bedeutet, wie internationale Beziehungen geführt werden sollten und
was es schließlich heißt, ein Land zu sein. Sie steht der Sichtweise
entgegen, dass ein demilitarisiertes Land angreifbar und von anderen
abhängig ist, und verändert den kollektiven Blick darauf, wie Menschen
zu ihrer Regierung und zu ihren Nachbarn stehen und wie sie sich
letztendlich selbst wahrnehmen.
Die Armee abzuschaffen war ein recht gewagter Schritt, vor allem in
den 1940er Jahren, da die Maßnahme der Idee, die die ganze Welt von
Sicherheit hatte, widersprach. Einige vermuteten, dass Costa Rica ohne
eine Armee ein leichtes Ziel für jede potentielle Invasion sein würde.
Knapp 72 Jahre später ist dies nicht geschehen, sondern Costa Rica hat
sich dadurch eher von der Region abgehoben.
Demilitarisierung. Es muss gesagt werden, dass in Costa Rica nie eine
starke Militärkultur vorherrschte. Es kämpfte nicht für seine
Unabhängigkeit, sondern erhielt es eher durch den Krieg zwischen
Mexiko und Spanien im Jahr 1821, durch welchen die gesamte
Zentralamerikanische Föderation unabhängig wurde. Anders als in
anderen Teilen der „Neuen Welt“ gab es in Costa Rica keine bedeutenden
Vorkommen von Gold oder anderen Mineralien, nach denen die Kolonisten
suchten – also waren die europäischen Siedler dort selbst nicht reich
und hatten keine Sklaven oder Diener. Sie erwarben fruchtbares Land
und bewirtschafteten es selbst. Da hinsichtlich Bodenqualität und
Klima günstige Anbaubedingungen herrschten, florierte der Handel mit
Produkten wie Kaffee und Bananen im 19. Jahrhundert. Während in
anderen lateinamerikanischen Ländern das Militär als Mittel zum
sozialen Aufstieg diente, waren Costa-Ricaner damit beschäftigt, sich
um ihre erfolgreichen Plantagen zu kümmern und persönlichen Reichtum
mit ihren eigenen Händen zu schaffen. Somit war die Zahl der Bauern
sogar schon vor der Abschaffung des Militärs sehr viel markanter als
die der Soldaten. Das wurde umso deutlicher, als eine militärische
Gruppe aus den USA, die sich selbst die „Filibuster“ nannten,
Zentralamerika besetzten, um seine landwirtschaftlichen, menschlichen
und natürlichen Ressourcen für die USA zu beanspruchen. Als sie Costa
Rica erreichten, hatten sie bereits alle anderen zentralamerikanischen
Länder erobert. Die costa-ricanische Armee war klein, und es waren
hauptsächlich Bauern, die diese Invasoren zurückschlugen. So bestätigt
es auch die Legende vom Bauernjungen Juan Santamaría, der beim „Rivas
Battle“ ums Leben kam und den Krieg gewann, indem er das Hauptquartier
der Filibuster niederbrannte. Der Kriegsheld war kein Soldat, sondern
ein Bauer. Man siegte nicht für eine Armee, sondern um der Menschen
willen. Juan Santamaría wurde zur Verkörperung costa-ricanischer
Ideale – ein Volk, das sich erheben wird, um sein Land zu verteidigen,
wann immer es nötig ist.
Knapp hundert Jahre später, im Jahr 1944, wurden einige
fortschrittliche soziale Reformen erlassen, wodurch soziale Sicherheit
geschaffen wurde (medizinische Versorgung nach den Prinzipien der
Universalität, Solidarität und Gleichheit). Auch tiefgreifende
Arbeitsreformen und universell verpflichtende Grundschulbildung wurden
eingeführt, sowie ein höheres öffentliches Bildungswesen. Dies jedoch
ging einher mit einer prokommunistisch eingestellten, autoritären
Regierungspartei, der Nationalen Republikanischen Partei, die die
Wahlen im Jahr 1948 ihrerseits für ungültig erklärte, als die
Ergebnisse zu Gunsten ihrer Gegner ausfielen. Dies löste einen
Bürgerkrieg aus, der vier Monate anhielt, und aus dem der
oppositionelle Führer José Figueres als Präsident hervorging. Nach
seiner Amtseinsetzung schaffte er die Armee ab, aber behielt die
progressiven sozialen Reformen bei.
Viele argumentieren, dass er pragmatisch entschieden hat. Einerseits
konnte Figueres mit der Hilfe auswärtiger militärischer Allianzen und
neoliberaler Kräfte siegen, die den sozialen Reformen kritisch
gegenüberstanden – ohne Militär müsste er den Gefallen seinen
Verbündeten nicht erwidern, da das Land keine militärische
Unterstützung mehr zur Verfügung stellen könnte. Das Militär
abzuschaffen würde auch die Eliminierung einer gegnerischen Kraft und
somit auch der Möglichkeit eines weiteren Staatsstreichs bedeuten. Die
Maßnahme verhinderte ebenso möglichen Interventionismus und
regimewechselnde Putsche von Seiten der USA – Szenarien, die für Costa
Rica nicht unwahrscheinlich schienen. Demilitarisierung wurde daneben
weitestgehend von der Bevölkerung begrüßt, die genug Autoritarismus
erlebt hatte und keine weiteren Konflikte mehr wollte. So wurde
„Frieden“ und Entwicklung zur Basis für Figueres` Amtszeit. Mit Gewalt
zu regieren würde nie wieder eine Option sein. International wurde der
Schachzug als riskant angesehen, da er Costa Rica angreifbar für seine
Feinde machen würde. Sich diesem Risiko bewusst, begann die
costa-ricanische Regierungspolitik jedoch, auf Diplomatie zu setzen,
als einzigen Weg, mit anderen Ländern in Beziehung zu treten. Das Land
berief sich auf internationales Recht als einziges Mittel zu ihrem
Schutz. Es hatte einfach gesagt keine andere Option. Und so wurde
Frieden zum zentralen Bestandteil costa-ricanischer Politik und der
Identität von Costa-Ricaner*innen.
Auf innenpolitischer Ebene bedeutete die Abschaffung der Armee, dass
mehr finanzielle Mittel für Gesundheit und Bildung eingesetzt werden
konnten. Umfangreiche Ressourcen wurden für Alphabetisierung und
dafür, Bildung und Gesundheit zu Grundrechten zu machen, aufgewendet.
Außerdem war das Militär nicht mehr ein Thema, dem es irgendeiner
Aufmerksamkeit bedurfte – so konnte politische Zeit und Energie hin zu
anderen Feldern verlagert werden. Dadurch entstanden weitere
Programme, wie zielstrebige Umweltmaßnahmen, die große Wirkung
zeigten. Zum Beispiel besteht das Landesgebiet zurzeit zu 52% aus
Wäldern und zu 25% aus Nationalparks, wobei ökologischer Tourismus
floriert, und das elektrische Netz basiert zu beinahe 100% auf
erneuerbaren Energien.
Es muss gesagt werden, dass sich internationale Konflikte nicht fern
von Costa Rica abspielten. Beispielsweise kam es in den letzten Jahren
zu einigen Grenzstreitigkeiten mit seinem Nachbarn im Norden,
Nicaragua. Allerdings wurden alle diese Konflikte vor dem
Internationalen Gerichtshof gelöst. Wäre Costa Rica ein
militarisiertes Land gewesen, wäre es wahrscheinlich anders gekommen.
Frieden neu definieren. Frieden bedeutet nicht die Abwesenheit von
Konflikten, sondern deren gewaltfreie Lösung. Drohungen und Gewalt zu
verwenden, um „den Frieden zu wahren“ ist weit davon entfernt, ein
echter Friedenszustand zu sein. Einerseits ist eine Drohung nur
effektiv, solange sie die andere Partei abschreckt – und der
sogenannte Frieden endet in der Minute, in der diese Abschreckung
nicht länger glaubwürdig ist. Andererseits ist das Fehlen von
offensichtlicher Gewalt nicht notwendig Frieden, wenn es Spannungen
gibt. Gewalt besteht fort, solange Menschen unter einer konstanten
Drohung oder Angst leben. Wie könnte es also mit einer militärischen
Struktur anders sein, wenn deren bloßer Daseinszweck darin besteht,
dauerhaft Stärke zu zeigen?
Obwohl sie immer noch viele Herausforderungen mit sich bringt, ist es
unanfechtbar, dass Demilitarisierung einen enormen Unterschied in dem
Kurs gemacht hat, den das Land über die folgenden Jahrzehnte hinweg
eingeschlagen hat. Costa Rica ist lebender Beweis dafür, dass
Sicherheit nicht notwendigerweise durch Militär gewährleistet wird.
Wenn wir einmal darüber nachdenken, wie viele Konflikte durch
Militarismus erst entstanden sind und fortgesetzt wurden, ist das
Militär nicht wirklich eine schützende Kraft vor Bedrohungen, sondern
könnte wahrscheinlich eher selbst eine Bedrohung sein.
Die COVID-19-Pandemie hat die Verwundbarkeit vieler Gesellschaften
offensichtlich werden lassen und bringt die Menschen dazu, das
Grundkonzept von Sicherheit zu hinterfragen. Viele Leben wurden
gelassen und viele Menschen finden sich unter den harten Bedingungen
obdachlos und arbeitslos wieder. Hat das Militär sie beschützt? Wie
hilft es den Kranken, den Arbeitslosen, den Obdachlosen Milliarden von
Dollars in teure Waffensysteme zu investieren? Wie hilft es dabei,
Todesopfern durch das Virus vorzubeugen? Die Länder, denen die
Pandemie am wenigsten Schaden zugefügt hat, waren diejenigen, die ihre
finanziellen Mittel und Aufmerksamkeit während der Pandemie
Gesundheitssystem, Bildung und Sozialpolitik gewidmet haben.
Fortschritt erfordert Frieden – und wahrer Frieden wird nicht durch
Drohungen und Zwang geschaffen, sondern von einer Kultur der
Kooperation, Akzeptanz und Teilhabe. Frieden entsteht mit der Zeit,
auf einer starken demokratischen Basis, die sich durch Politik und
Ressourcen aufrechterhält, welche ein Leben in Würde ermöglichen, mit
Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung, und wo alle
Grundbedürfnisse erfüllt werden.
Zivilisiertheit und Rechtsstaatlichkeit werden immer wichtiger in
einer Welt, die sich immer weiter miteinander vernetzt und wo
Herrschaft durch Gewalt immer irrelevanter wird. Der Fortschritt der
Menschheit liegt in Bildung, Kooperation und Gleichberechtigung. Wenn
wir unsere zwei existenziellen und menschengemachten Bedrohungen
überleben wollen – Klimawandel und Atomwaffen – ist es notwendig, dass
wir Frieden ernstnehmen und ihm eine Chance geben.
Übersetzung aus dem Englischen von Chiara Pohl vom ehrenamtlichen
Pressenza-Übersetzungsteam. Wir suchen Freiwillige!
Kategorien: Frieden und Abrüstung, Gewaltfreiheit, Meinungen,
Mittelamerika
Tags: Abschaffung des Militärs, Atomwaffenverbotsvertrag, Costa Rica,
Demilitarisierung, Frieden, Friedenspolitik, Internationales Recht
Über den/die Autor*in
Carlos Umaña
Carlos Umaña
Doctor, visual artist and translator. Regional Vice-President of IPPNW
for Latin America (International Physicians for the Prevention of
Nuclear War). Member of the International Steering Group of ICAN
(International Campaign to Abolish Nuclear Weapons)
--
Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
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