[E-rundbrief] Info 1789 - Die Kräfte der Veränderung aus dem globalen Süden

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
Mo Okt 22 18:26:43 CEST 2018


E-Rundbrief Info 1789 - Claus-Dieter König (Rosa Luxemburg Stiftung/ 
D): Samir Amin: «Die Kräfte der Veränderung müssen aus dem globalen 
Süden kommen».

Bad Ischl, 22.10.2018

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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https://www.rosalux.de/news/id/39187/die-kraefte-der-veraenderung-muessen-aus-dem-globalen-sueden-kommen/

«Die Kräfte der Veränderung müssen aus dem globalen Süden kommen»

Samir Amin ist am 12. August gestorben. Ein Nachruf von Claus-Dieter 
König.

Samir Amin hielt im September 2016 eine Luxemburg Lecture zum Thema 
«Kapitalismus am Ende? Alternativen denken!» CC BY 2.0, Fraktion DIE 
LINKE / flickr

Er war ein Intellektueller und Ökonom, dessen Werk weltweit 
Generationen von Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen beeinflusst hat.

Sein Buch Die ungleiche Entwicklung (Le développement inégal, 1973) 
habe ich in einem Sommerurlaub gelesen, lange bevor ich ihn persönlich 
kennengelernt habe. Die Welt hat sich selbstverständlich verändert in 
den 45 Jahren nach der Veröffentlichung dieses Buches, doch für mich 
halten weiterhin viele der dort präsentierten Argumente. Dieses Buch 
zusammen mit seinen vielfältigen weiteren Publikationen haben  Samir 
Amin neben André Gunder Frank, Paul Sweezy und Dieter Senghaas zu 
einem der wichtigsten Vertreter der Dependenztheorie gemacht.

Viele Jahre später sitze ich in seinem Büro in Dakar, wo er Direktor 
des von ihm gegründeten Third World Forums war. Er raucht ein 
Zigarillo und wir trinken gemeinsam einen starken Kaffee an, so lässt 
es sich diskutieren. Undenkbar, dass er in einem Nichtraucherbüro 
arbeiten könnte. Spaßeshalber sagte er manchmal, dass Raucher zu den 
am schärfsten verfolgten Gruppen weltweit gehörten.

Während ich für die RLS in Dakar gearbeitet habe, hatte ich hin und 
wieder die Gelegenheit, Samir zu treffen und mit ihm zu diskutieren. 
Er sprach damals oft und gerne über die Notwendigkeit Nationaler 
Souveräner Projekte im globalen Süden. Dabei handelt es sich um eine 
politische Strategie, die konsequent aus seiner Variante der 
Dependenztheorie abgeleitet werden kann. Denn der kapitalistischen 
Weltwirtschaft ist eine Logik inhärent, die Schere zwischen Zentrum 
und Peripherie immer weiter zu öffnen, indem das Zentrum die 
ökonomischen Ressourcen der Peripherie nutzt, um selbst wirtschaftlich 
weiter zu erstarken. Der Peripherie hingegen bleibt eine 
extravertierte und inkohärente Wirtschaftsstruktur ohne Potenzial, 
sich unabhängig zu entwickeln. Ohne Delinking und ohne eine eigene, 
autozentrische Entwicklungsstrategie können die Länder des globalen 
Südens nicht aus ihrer peripheren Position ausbrechen.

Delinking heißt also, aktiv eine Industrie- und eine 
Landwirtschaftspolitik zu verfolgen, in der der Staat eine zentrale 
Rolle spielt. Instrumente sind die Nationalisierung von 
Schlüsselindustrien und Banken, die Kontrolle von Finanztransaktionen 
und des Handels. Zölle und andere Mittel der Handelspolitik werden 
genutzt, um die Kontrolle über die wirtschaftliche Entwicklung des 
eigenen Landes zu gewinnen. Dazu gehört insbesondere die 
Wiederbelebung und Modernisierung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft. 
Samir hat den Begriff der Ernährungssouveränität nicht erfunden, doch 
bildet einen notwendigen Bestandteil einer Delinking-Strategie. Der 
Begriff «Souveränität» wird in Samirs Nationalem Souveränen Projekt in 
gleicher Weise ausgeprägt. Delinking ist selektiv, es handelt sich 
nicht um Isolation.

Ein Nationales Souveränes Projekt bedarf auch einer politischen Seite. 
Um es mit Gramsci zu sagen: ein hegemoniales Projekt der wirklichen 
nationalen Selbstbestimmung. Dazu gehören neben der Wirtschaft 
unabhängige Medien und das Organisieren von Bewegungen und in der 
Zivilgesellschaft.

Im weiteren Verlauf des Gespräches fragen wir uns, wer die sozialen 
Kräfte sind, z.B. in Westafrika, die solche souveränen Projekte 
formulieren und umsetzen können. Samir verweist auf die vielfältigen 
Kämpfe von Kleinbäuer*innen, die oft kaum von den Medien oder von den 
linken Kräften in der Hauptstadt wahrgenommen wurden: Kämpfe gegen 
Landgrabbing und die Industrialisierung der Landwirtschaft. Er 
verweist auf die Unruheherde in den Vorstädten Dakars. Wir stellen 
fest, dass diese noch nicht die Stärke entwickelt haben, die 
Machtfrage auf nationaler Ebene zu stellen. Er war extrem kritisch 
gegenüber der liberalen Demokratie und der Art und Weise, wie sie die 
Bevölkerung wirklicher Mitbestimmung beraubt und ihr die marginale 
Rolle überlässt, periodisch die Führungspersonen eines unverändert 
durch und durch der Kapitallogik gehorchenden Staates zu wählen.

Dennoch betonte Samir stets, dass die sozialen Kräfte um die Welt 
progressiv zu verändern vor allem aus dem globalen Süden kommen 
müssen. Der Norden sichert seine Privilegien durch sein Festhalten an 
der Kontrolle der Technologien und des globalen Finanzsystems, durch 
die Verfügung über die Ressourcen (wenn notwendig, durch Gewalt 
abgesichert), durch die militärische Stärke und durch die Erzeugung 
der Wahrheit durch die Leitmedien. Dass unsere Lebensweise auf diesen 
Privilegien basiert, bedeutet, dass es schwer ist, im Norden eine 
starke Bewegung auszubauen, die gleichzeitig radikal und konsequent 
genug gegen die internationale Ungleichheit und globale 
Machtverhältnisse kämpft. Eine politische Linke im Norden, die nicht 
in erster Linie internationalistisch ist, riskiert in letzter Instanz 
kontraproduktiv zu werden. Es ist ihre Aufgabe, die Kontrolle des 
Nordens über den Süden anzugehen. Tut sie dies nicht, vertritt sie 
letztlich nur die positionellen Interessen der Menschen des Nordens 
gegen diejenigen im globalen Süden. Dies klar und unverblümt immer 
wieder zu betonen, ist eines von Samir Amins wichtigsten Vermächtnissen.



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     Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
     Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
     Center for Encounter and active Non-Violence
     Wolfgangerstr. 26, 4820 Bad Ischl, Austria,
     fon: +43 6132 24590, Informationen/ informations,
     Impressum in: http://www.begegnungszentrum.at


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