[E-rundbrief] Info 1772 - Uri Avnery Friedensaktivist gestorben

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
Mo Aug 20 17:45:24 CEST 2018


E-Rundbrief Info 1772 - Der israelische Friedensaktivist Uri Avnery 
starb mit 94 Jahren am 20.8.2018 in Tel Aviv (Israel).

Bad Ischl, 20.8.2018

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

================================================

Der Friedensaktivist Uri Avnery starb nach einem Schlaganfall mit 94 
Jahren am 20. August 2018 in Tel Aviv (Israel).

Der israelische Friedensaktivist hat uns von 1993 bis zum 4. August 
2018  mit seinen Kommentaren aus Tel Aviv über internationale Ent- und 
Verwicklungen informiert. Die - von ihm mitgegründete - 
Friedensorganisation Gush Shalom will seine Arbeit weiter fortsetzen. 
Persönlich sind die Maria und ich ihm - und seiner Frau Rachel (die 
2011 gestorben ist) - 1998 in Salzburg beim Treffen der Alternativen 
Nobelpreisträger begegnet. 2001 wurden sie mit diesem Preis - neben 
weiteren - ausgezeichnet.

Innerhalb kürzester Zeit mussten wir uns von insgesamt drei 
Friedensaktivisten verabschieden:  Paula Abrams-Hourani (Frauen in 
Schwarz-Wien) gestorben am 6.6.2018, Felicia Langer (Tübingen) am 
21.6.2018 und Uri Avnery (Tel Aviv) am 20.8.2018.

Links dazu:

Paula Abrams-Hourani:
163. Rundbrief - E-Rundbrief Info 1755 und Radiosendung 
"Begegnungswege" vom 21.6.2018 (https://cba.fro.at/377893)

www.begegnungszentrum.at/rundbriefe/Rundbrief163.pdf , 
www.fraueninschwarz.at

------------------------

Felicia Langer:

E-Rundbrief Info 1758 und Radiosendung "Begegnungswege" vom 21.6.2018 
, https://cba.fro.at/381711 , http://www.felicia-langer.de/person.html

--------------------------

Uri Avnery:
Uri Avnery's letzter Wochenkommentar: Who The Hell Are We, 04/08/18

http://uriavnery.com/en/hatur.html

http://www.uri-avnery.de/news

---------------------

Uri Avnery's Homepage mit Buchhinweisen:

http://uriavnery.com/en/publications.html

---------------------------------

Gush Shaloms's Kommentar zur beschlagnahmten Friedens-Flotilla für Gaza:

http://zope.gush-shalom.org/home/en/channels/press_releases/1534754058

Navy intercepts Freedom Flotilla boat heading towards Gaza

20/07/18

Uri Avnerys Kommentar dazu:

http://www.uri-avnery.de/news/477/17/Marsch-der-Torheit

---------------------------------

Uri Avnerys
Wer zum Teufel sind wir?

Uri Avnery

4. August 2018

http://www.uri-avnery.de/news/479/17/Wer-zum-Teufel-sind-wir

VOR JAHREN hatte ich ein freundschaftliches Gespräch mit Ariel Scharon.

Ich sagte zu ihm: „Ich bin in erster Linie Israeli. Erst danach bin 
ich Jude.“

Er antwortete hitzig: „Ich bin in erster Linie Jude und erst danach 
bin ich Israeli!“

Das mag sich nach einer überflüssigen Debatte anhören. Aber in 
Wirklichkeit ist eben das die Frage, die im Zentrum all unserer 
Grundprobleme steht. Sie liegt der Krise zugrunde, die jetzt Israel in 
Stücke reißt.

DER UNMITTELBARE Grund für diese Krise ist das Gesetz, das in der 
letzten Woche von der rechten Mehrheit in der Knesset in aller Eile 
verabschiedet wurde. Es trägt den Titel: „Grundlegendes Gesetz: Israel 
ist der Nationalstaat des jüdischen Volkes“.

Es ist ein Verfassungsgesetz. Als Israel im Krieg von 1948 gegründet 
wurde, führte es keine Verfassung ein. Es gab Schwierigkeiten mit der 
religiösen Gemeinschaft der Orthodoxen, die die Einigung auf eine 
gemeinsame Formulierung unmöglich machten. Stattdessen verlas David 
Ben-Gurion eine „Unabhängigkeitserklärung“. Darin wurde verkündet: 
„Wir gründen den jüdischen Staat, nämlich den Staat Israel“.

Die Erklärung wurde nicht zum Gesetz. Der Oberste Gerichtshof nahm 
seine Prinzipien an, ohne dass er eine Rechtsgrundlage gehabt hätte. 
Das neue Dokument hingegen ist ein verbindliches Gesetz.

Was ist an dem neuen Gesetz, das auf den ersten Blick wie eine 
Abschrift der Erklärung wirkt, nun also das Neue? Es enthält zwei 
wichtige Auslassungen: in der Erklärung war von einem „jüdischen und 
demokratischen“ Staat die Rede und allen Bürgern des Staates wurde 
ohne Unterschied von Religion, Volkszugehörigkeit und Geschlecht 
vollkommene Gleichberechtigung zugesagt.

Beides ist verschwunden. Keine Demokratie. Keine Gleichberechtigung. 
Ein Staat der Juden für die Juden von den Juden.



DIE ERSTEN, die aufschrien, waren die Drusen.

Die Drusen sind eine kleine, aber starke Minderheit. Sie schicken ihre 
Söhne in die israelische Armee und Polizei und betrachten sich als 
„Blutsbrüder“. Plötzlich sind sie all ihrer Rechte und ihres 
Zugehörigkeitsgefühls beraubt.

Sind sie Araber oder nicht? Muslime oder nicht? Das kommt darauf an, 
wer wo zu welchem Zweck spricht. Sie drohen mit Demonstrationen, 
damit, dass sie die Armee verlassen und allgemein rebellieren werden. 
Benjamin Netanjahu versucht sie zu bestechen, aber sie sind eine 
stolze Gemeinschaft.

In der Hauptsache geht es jedoch nicht um die Drusen. Im neuen Gesetz 
werden die 1,8 Millionen Araber, die israelische Bürger sind, 
vollkommen ignoriert, auch die Beduinen und die Christen unter ihnen. 
(Niemand denkt auch an die Hunderttausende europäischer Christen, die 
mit ihren jüdischen Ehepartnern und anderen Verwandten vor allem aus 
Russland eingewandert sind.)

Die arabische Sprache mit all ihrem Glanz, die bisher eine der beiden 
Amtssprachen war, wurde auf einen bloßen „besonderen Status“ 
herabgestuft – was das auch bedeuten mag.

(Alles das bezieht sich auf das eigentliche Israel, nicht auf die etwa 
fünf Millionen Araber im besetzten Westjordanland und im Gazastreifen, 
die überhaupt keine Rechte haben.)

Netanjahu verteidigt dieses Gesetz wie ein Löwe gegen die zunehmende 
Kritik von innen. Er hat öffentlich erklärt, dass alle jüdischen 
Kritiker des Gesetzes Linke und Verräter (das sind ohnehin Synonyme) 
seien, „die vergessen haben, was es bedeutet, Jude zu sein“.



UND GENAU darum geht es.

Vor Jahren forderten meine Freunde und ich den Obersten Gerichtshof 
auf, die Eintragung unter „Nationalität“ in unseren Ausweisen von 
„jüdisch“ in „israelisch“ abzuändern. Das Gericht lehnte ab und 
behauptete, es gebe keine israelische Nation. Das offizielle Register 
kennt fast hundert Nationen, aber keine israelische.

Die seltsame Situation entstand mit der Entstehung des Zionismus im 
späten 19. Jahrhundert. Es war eine jüdische Bewegung, die dazu 
entworfen worden war, die Jüdische Frage zu lösen. Die Siedler in 
Palästina waren Juden. Das ganze Projekt war eng mit der jüdischen 
religiösen Tradition verbunden.

Als aber eine zweite Generation von Siedlern aufwuchs, fühlte sie sich 
unbehaglich, wenn sie nur einfach Juden – wie Juden in Brooklyn oder 
Krakau - sein sollten. Sie empfanden sich als etwas Neues, Anderes, 
Besonderes.

Die Extremstem waren die Angehörigen einer kleinen Gruppe junger 
Dichter und Künstler, die 1941 eine Organisation gründeten und dann 
den Spitznamen „Kanaaniter“ bekamen. Sie verkündeten, wir seien eine 
neue hebräische Nation. In ihrer Begeisterung gingen sie bis zum 
Äußersten und erklärten, sie hätten nichts mit den Juden im Ausland zu 
tun und es gebe keine arabische Nation – Araber seien einfach nur 
Hebräer, die den Islam angenommen hätten.

Dann kam die Nachricht vom Holocaust, die Kanaaniter gerieten in 
Vergessenheit und alle wurden reumütig zu Superjuden.

Oder doch nicht ganz. Ohne dass wir viel nachdachten, machte meine 
Generation in ihrer Umgangssprache einen deutlichen Unterschied: es 
hieß jüdische Diaspora und hebräische Landwirtschaft, jüdische 
Geschichte und hebräische Battaillone, jüdische Religion und 
hebräische Sprache.

Als die Briten noch hier waren, nahm ich an Dutzenden von 
Demonstrationen teil, bei denen wir schrien: „Freie Einwanderung! 
Hebräischer Staat!“ Ich kann mich nicht erinnern, dass auch nur bei 
einer einzigen Demonstration irgendjemand „jüdischer Staat!“ geschrien 
hätte.

Warum war also in der Unabhängigkeitserklärung von einem „jüdischen 
Staat“ die Rede? Es war eine Bezugnahme auf die UN-Resolution. Darin 
wurde die Teilung Palästinas in einen arabischen und einen jüdischen 
Staat verfügt. Die Staatsgründer stellten einfach fest, dass wir den 
in der Resolution genannten jüdischen Staat nun errichtet hätten.

Der legendäre Vorfahr des Likud Vladimir Jabotinsky schrieb eine 
Hymne, in der es hieß: „Ein Hebräer ist ein Fürstensohn“.



TATSÄCHLICH ist es ein ganz natürlicher Prozess. Eine Nation ist eine 
territoriale Einheit. Sie ist durch Landschaft, Klima, Geschichte und 
Nachbarn bedingt.

Als sich Briten in Amerika ansiedelten, hatten sie nach einiger Zeit 
das Gefühl, sie seien anders als die Briten, die sie auf ihrer Insel 
zurückgelassen hatten. Sie wurden zu Amerikanern. Die britischen 
Sträflinge, die in den entfernten Osten geschickt worden waren, wurden 
Australier. In zwei Weltkriegen eilten Australier Britannien zur 
Hilfe, aber sie waren keine Briten. Sie sind eine stolze neue Nation. 
Ebenso die Kanadier, Neuseeländer und Argentinier. Und wir eben auch.

Oder wir wären es jedenfalls geworden, wenn die offizielle Ideologie 
das zugelassen hätte. Was war geschehen?

Zuerst einmal gab es in den frühen Fünfzigerjahren die riesigen 
Einwanderungswellen aus der arabischen Welt und aus Osteuropa. Auf 
jeden Hebräer kamen zwei, drei, vier neue Einwanderer, die sich als 
Juden betrachteten.

Dann brauchten wir Geld und politische Unterstützung von den Juden im 
Ausland, besonders denen in den USA. Diese betrachteten sich zwar als 
vollkommene und wahre Amerikaner (wage ja nicht, dem zu widersprechen, 
du verdammter Antisemit!), aber sie waren doch froh, irgendwo einen 
jüdischen Staat zu wissen.

Und dann gab (und gibt!) es eine strikte Regierungspolitik, die darauf 
aus ist, alles zu judaisieren. Die gegenwärtige Regierung hat in 
dieser Hinsicht neue Höhen erklommen. In aktiven – ja geradezu 
fanatischen – Regierungsaktionen wird versucht, alles zu judaisieren: 
die Erziehung, die Kultur, sogar den Sport. Die kleine Minderheit der 
orthodoxen Juden in Israel übt enormen Einfluss aus. Ihr Votum in der 
Knesset entscheidet über Netanjahus Regierung.



ALS DER Staat Israel gegründet wurde, wurde das Wort „hebräisch“ durch 
das Wort „israelisch“ ersetzt. Hebräisch ist jetzt nur noch eine Sprache.

Gibt es nun also eine israelische Nation? Natürlich gibt es die. Gibt 
es eine jüdische Nation? Natürlich gibt es die nicht.

Juden sind Mitglieder eines ethnisch-religiösen Volkes. Sie sind in 
der Welt zerstreut, gehören vielen Nationen an und die meisten fühlen 
sich eng mit Israel verbunden. Wir, die wir hier im Land leben, 
gehören zur israelischen Nation, die ein Teil des jüdischen Volkes ist.

Es ist sehr wichtig, dass wir das erkennen. Es entscheidet ganz 
buchstäblich über unsere Blickrichtung: Blicken wir in Richtung der 
jüdischen Zentren in New York, London, Paris und Berlin oder blicken 
wir in Richtung unserer Nachbarn in Damaskus, Beirut und Kairo? Gehört 
unser Land zu einer Region, die von Arabern bewohnt wird? Machen wir 
uns klar, dass Friedenschließen mit den Arabern und besonders den 
Palästinensern die Hauptaufgabe dieser Generation ist?

Wir sind in diesem Land nicht Bewohner auf Zeit und wir sind nicht 
jeden Augenblick bereit, uns unseren jüdischen Brüdern und Schwestern 
in anderen Ländern der Erde zuzugesellen. Wir gehören zu diesem Land 
und wir werden hier noch viele künftige Generationen leben. Deshalb 
müssen wir zu friedlichen Nachbarn in der Region werden, die ich schon 
vor 75 Jahren „die semitische Region“ genannt habe.

Das neue Nationen-Gesetz zeigt uns eben durch seine halbfaschistische 
Natur, wie dringlich diese Debatte ist. Wir müssen entscheiden, wer 
wir sind, was wir wollen und wohin wir gehören. Andernfalls ist unser 
Staat dazu verdammt, dauerhaft ein Staat der Zeitweiligkeit zu sein.

  (Aus den Englischen von Ingrid von Heiseler)

(Uri Avnery wollte am 4.8.2018 an der Protestkundgebung gegen das 
"Nationen-Gesetz" teilnehmen. Sein Schlaganfall hinderte ihn daran.)



-- 

     Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
     Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
     Center for Encounter and active Non-Violence
     Wolfgangerstr. 26, 4820 Bad Ischl, Austria,
     fon: +43 6132 24590, Informationen/ informations,
     Impressum in: http://www.begegnungszentrum.at


Mehr Informationen über die Mailingliste E-rundbrief