[E-rundbrief] Info 1427 - Konstantin Wecker: Der Frieden braucht eine Revolution

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
Mo Apr 13 18:36:07 CEST 2015


E-Rundbrief - Info 1427 - Konstantin Wecker (D): Der Frieden braucht 
eine Revolution. Zum Buch: Margot Käßmann/ Konstantin Wecker (Hg.): 
Entrüstet euch! Warum Pazifismus für uns das Gebot der Stunde bleibt. 
2015, Gütersloher Verlagshaus.

Bad Ischl, 13.4.2015

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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Der Frieden braucht eine Revolution

Konstantin Wecker

8. April 2015

Als die Russland-Hetze und die von Politikern und Medien geschürte 
Kriegsstimmung im letzten Herbst eskalierten, entschlossen sich 
Konstantin Wecker, Margot Käßmann und der Gütersloher Verlag, zeitnah 
ein Friedensbuch herauszubringen, das als Warnung und als Gegengewicht 
dienen sollte. “Entrüstet euch” ist eine bunte, aufrührerische und 
nachdenklich machende Textsammlung. Neben Konstantin und der 
ehemaligen EKD-Vorsitzenden der Evangelischen Kirche Deutschland 
Käßmann berichtet u.a. HdS-Autorin Ellen Diederich von ihren 
Erfahrungen als Pazifistin. Prominente lebende Pazifisten wie Eugen 
Drewermann, Jörg Zink und Arno Gruen stehen neben Klassiker/innen wie 
Erich Kästner, Martin Luther King oder Bertha von Suttner. Wirklich 
ein Chor kluger und mutiger Stimmen, ein not-wendiges Buch zur rechten 
Zeit. Der folgende Text Konstantins gibt einen Einblick in sein 
pazifistisches Denken.

„Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg, bis ich 
herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die 
nicht hineingehen müssen“, sagte Erich Maria Remarque, Autor des 
Anti-Kriegs-Romans „Im Westen nichts Neues“. Das trifft den Punkt. Wer 
von denen, die heute dafür plädieren, Deutsche müssten ihre 
Verantwortung in der Welt vor allem tötend und sterbend stärker 
wahrnehmen, zieht denn schon persönlich in den Krieg? Wie zu allen 
Zeiten schickt man „unsere Jungs“ in die Schlacht. Über die 
„Notwendigkeit von Kriegen“ schwadronieren gesetzte Damen und Herren 
aus sicherem Abstand, das blutige Geschäft müssen dann andere verrichten.

Und wie zu allen Zeiten ist das erste Opfer im Krieg die Wahrheit. 
Laut Spiegel online teilteim April 2014 Jay Carney, Sprecher des 
Weißen Hauses, mit, es gäbe „erdrückende Beweise“ dafür, dass Russland 
in der Ostukraine Unruhe stifte. Erinnert die Wortwahl nicht fatal an 
jene „erdrückenden Beweise“, die George W. Bush den Vorwand zum 
Einmarsch in den Irak lieferten? Das ist über zehn Jahre her, und es 
ist erschreckend, wie lückenhaft das Gedächtnis der Menschheit ist, 
wenn es um Kriegslügen geht. Der Angriff auf Irak seit dem 20. März 
2003 und die Besetzung durch die USA haben einer halben Million Iraker 
das Leben gekostet, sagt eine US-Studie. 500 000 IrakerInnen sind 
ermordet worden – aus humanitären Gründen, wie es hieß. Sie sollten ja 
von einer Diktatur befreit werden. Befreite Tote?

Wer es, wie ich, damals gewagt hatte, den Krieg und das Vorgehen der 
USA zu kritisieren, wurde als antiamerikanischer 
Verschwörungstheoretiker und als Saddam Hussein-Versteher 
verunglimpft. Heute weiß man, dass George W. Bush mehrere hundert 
PR-Agenturen beauftragt hatte, um pazifistischen „Weicheiern“ und 
anderen antimilitaristischen Zweiflern den Krieg schmackhaft zu 
machen. Heute wird das gleiche „Spiel“ wieder gespielt. Und statt der 
Hussein- sind nun Putinversteher ins Visier der Bellizisten geraten. 
Als gäbe es nichts Schlimmeres als den Versuch, die andere Seite zu 
verstehen (was ja nicht mit Zustimmung zu all ihren Taten 
gleichzusetzen ist). Ich bin genauso wenig ein Putinfreund, wie ich im 
Irakkrieg den Diktator Hussein unterstützt habe. Ich bin ein Freund 
des Friedens und Verfechter der Gewaltlosigkeit.

Glaubt denn wirklich noch irgendein aufgeklärter Mensch, dass wir um 
der Demokratie willen streiten und bomben? Hans-Peter Dürr, der leider 
unlängst verstorbene große Physiker, Umwelt- und Friedensaktivist, 
schrieb: „Man braucht kein Pazifist zu sein, um zu erkennen, dass 
Krieg in seiner heute üblichen hoch-mechanisierten over-kill-Form 
nicht mehr rational als Problemlöser fungieren kann, da durch ihn, in 
der Regel, vor allem Unschuldige, jetzt und auch künftig Lebende, 
getroffen werden und nicht die vermeintlichen oder gar eigentlichen 
Schurken. Mit Superkeulen, die großzügig und indifferent 
Lateralschäden in Kauf nehmen, lassen sich, ganz nüchtern betrachtet, 
Menschenrechte schlicht nicht erzwingen.“

Karl Kraus, der die Manipulation der Massen in den Zeiten des Ersten 
Weltkriegs durchschaute und wie kein anderer messerscharf analysierte, 
sagte: „Wie wird die Welt regiert und in den Krieg geführt? Diplomaten 
belügen Journalisten und glauben es, wenn sie’s lesen.“ Wir täten 
heute gut daran, uns auf Karl Kraus zu besinnen. „Als einer der 
Pioniere der Medienkritik hatte er erkannt, dass die Medien die 
Wirklichkeit nicht abbilden, sondern erzeugen, dass Meinungen und 
Stimmungen nicht einfach entstehen, sondern gemacht werden“, schreiben 
Matthias Bröckers und Paul Schreyer in ihrem lesenswerten Buch “Wir 
sind die Guten“.

In den Jahrzehnten, in denen ich mich bewusst mit Nachrichten und 
Zeitungen beschäftigen, habe ich niemals annähernd eine derartige 
Propagandaschlacht erlebt wie heute. Es ist erschreckend zu sehen, wie 
sich manche Leitmedien, obwohl sie mit zum Teil sehr klugen 
Kommentaren überhäuft werden, penetrant weigern, ihre Leser ernst zu 
nehmen. Noch ist allenthalben viel gesunder Menschenverstand, sind 
Mitgefühl und kluge Zurückhaltung in der Bevölkerung verbreitet. Aber 
durch den Dauerbeschuss mit Un- und Halbwahrheiten kann man den 
Menschen diese Eigenschaften auch nach und nach aberziehen. Wie macht 
man ein friedliebendes Volk kriegslüstern? Man hat dies unter anderem 
zu Beginn des Ersten Weltkriegs gesehen: durch Propaganda, durch 
Erfindungen und Lügen, durch die Erschaffung eines Feindes. War es 
nicht immer schon so? Die Menschen wollen keinen Krieg, bis man dieses 
Wollen durch gezielte PR in die richtigen Bahnen lenkt.

Maßlos enttäuschend verhält sich in diesem Zusammenhang vor allem 
Bundespräsident Joachim Gauck, der den kriegsunwilligen Deutschen im 
Juni 2012 gar unterstellte, „glückssüchtig“ zu sein. War es diese 
unverhohlene Kriegsbereitschaft,die man an der bundespräsidialen 
Spitze unseres Staates mit seinem für manche Kreise so hinderlichen 
Grundgesetz haben wollte? Vielleicht waren es Sätze wie diese, die 
Gauck scheinbar plötzlich zum Konsenskandidaten aller neoliberal 
gesinnten Parteien machten: „Und in diesem Kampf für Menschenrechte 
oder für das Überleben unschuldiger Menschen ist es manchmal 
erforderlich, auch zu den Waffen zu greifen?“ Der Pastor, der Christ 
Gauck, wollte als „Widerstandskämpfer“ seinerzeit sicher auch alle 
Schwerter zu Pflugscharen machen. Aber anscheinend nur kommunistische. 
Mit kapitalistischen Schwertern lässt es sich trefflich kämpfen.

Nie im Leben hätte ich gedacht, dass wir einmal einem evangelischen 
Pfarrer einen Satz eines Papstes zur Besinnung vor Augen halten 
würden. „Der Krieg ist Wahnsinn“ rief Papst Franziskus während einer 
Messe an der italienischen Gedenkstätte für die Gefallenen des Ersten 
Weltkriegs in Fogliano Redipuglia vor 100 000 Menschen aus. Mit einer 
vehementen Anklage gegen Waffenhändler und Kriegshetzer gedachte der 
Pontifex der Toten aller Kriege. Und er zog Parallelen zu jener 
Epoche, deren (trauriges) Jubiläum wir 2014 feierten. Wie 1914, 
entstünden auch heute Kriege durch geopolitische Pläne, Geldgier, 
Machthunger und die Interessen der Waffenindustrie. „Die 
Geschäftemacher des Krieges verdienen damit viel Geld und haben durch 
ein verdorbenes Herz das Weinen darüber verloren“, sagte Franziskus, 
der mir immer mehr aus dem Herzen spricht.

Während das Volk mit Brot und Spielen gefüttert wird – wobei es mit 
dem Brot speziell für die wachsende Schicht der Armen im Land hapert 
–, dealt die Große Koalition fleißig weiter mit Waffen: für 
„lupenreine Demokratien“ wie Saudi Arabien, Algerien und Singapur. Mit 
diesen Waffen wird gemordet, das kann man sich schön reden, wie man 
will. Sie werden in der jeweiligen Region weiterverkauft, ohne dass 
Deutschland auch nur irgendeine Form der Kontrolle darüber hätte. 
Vermutlich will man das aber auch gar nicht. Zu große Zurückhaltung 
beim Töten könnte Arbeitsplätze in der heimischen Rüstungsindustrie 
gefährden.

Eine neue „Kultur des Krieges“ entsteht gerade, wie es Jakob Augstein 
in einem seiner hervorragenden Kommentare benannte. Eine Kultur des 
Krieges, in die sich auch die Grünen – einst die Partei Petra Kellys 
–, einreihen, etwa mit Cem Özdemirs infamer Bemerkung, Kriege könnten 
„nicht mit Yogamatten“ gewonnen werden. In einer Zeit, in der es mehr 
bewaffnete Konflikte gibt als je zuvor, wird nun aus allen Ecken 
wieder auf den Pazifismus eingeprügelt. Anstatt sich ernsthaft 
Gedanken zu machen, wie der Friede vorbereitet werden kann, denkt man 
in bestdotierten Think Tanks darüber nach, wie man neue Märkte 
erschließen kann:mit Waffen, mit Gewalt und der immer gleichen 
Anmaßung, sich auf der Seite des Guten zu wähnen. Und ein armer, 
missbrauchter Gott wird wohl bis in alle Ewigkeit die Waffen segnen 
müssen – vorzugsweise für beide Varianten des „Guten“. Wo bleibt da 
der Gott der Liebe, des Verzeihens und Erbarmens, wie er etwa von 
Jesus gelehrt wurde, der sich eher verletzen und töten ließ, als auch 
eine einzige Verletzung eines seiner Feinde zuzulassen? Vergessen, 
verjagt, ausgeklammert aus Gehirnen, die sich von der Logik des 
Krieges haben kolonialisieren lassen.

Uns wird weisgemacht, dass Frieden noch immer das Endziel westlicher 
Politik sei – selbstverständlich erst, nachdem mit Waffengewalt eine 
gerechte Ordnung in den Konfliktregionen geschaffen wurde. Was wäre 
aber, wenn eine andauernde Instabilität im Nahen Osten geradezu 
erwünscht wäre, um militärische Dauerpräsenz damit zu rechtfertigen? 
Was wäre, wenn es ohne die westliche Politik das augenblickliche 
Hauptproblem der stets gedemütigten Kurden, den „Islamischen Staat“ 
(IS), gar nicht gäbe? „Jahrelang haben die USA die Waffenlieferungen 
Saudi-Arabiens und anderer Golfstaaten an syrische Terroristen 
wohlwollend durchgewinkt“, schreibt Jürgen Todenhöfer, ehemaliger 
Bundestagsabgeordneter der CDU. „Saudi-Arabien – Deutschlands 
angeblicher ‚Stabilitätsanker‘ – besitzt ja Waffen im Überfluss. Vor 
allem westlicher, auch deutscher Produktion. Aus einigen dieser von 
den Saudis ausgerüsteten Organisationen entstand ISIS, die sich später 
in ‚Islamischer Staat‘ (IS) umbenannte.“ Was wäre, wenn wir einige der 
Waffen, die wir jetzt an die bedrängten Kurden liefern, schon bald in 
den Händen islamistischer Kämpfer sehen würden – etwa in Mali, 
Zentralafrika oder Nigeria? Was wäre, wenn all dieser Wahnsinn 
wohlgelitten wäre, um immer wieder aus „humanitären Gründen“ 
eingreifen zu können, wieder Waffen verkaufen zu können und die Welt 
in Unruhe zu halten? Es wäre ehrlicher, zuzugeben, dass das 
kapitalistische System immer wieder Kriege braucht, um sich am Leben 
zu halten.

Was derzeit geschieht, macht mir Angst. Wenn die maßvollen und 
vernünftigen Kräfte es nicht schaffen, eine gewaltige internationale 
Friedensbewegung auf die Beine zu stellen, die ein eindeutiges „Mit 
uns nicht!“ skandiert, kann es passieren, dass Europa wieder in einem 
Krieg verbrannt wird. Ansätze zu einer solchen, wünschenswerten 
Friedensbewegung gibt es ja bereits. Diese plädierte Ende 2014 gegen 
Waffenlieferungen in den Nordirak und stattdessen für eine „humanitäre 
Intervention, die ihren Namen wirklich verdient“. Diese solle die 
Bundesregierung „mit hohem finanziellem und personellem Einsatz 
bestreiten“, heißt es in einer Erklärung. Gefordert wird, „alle nach 
Berlin“ einzuberufen, „die ein solches Engagement großzügig und 
kompetent stemmen können: unter anderem die etablierten 
Hilfsorganisationen und die Gruppen der Zivilgesellschaft“. Auch ich 
plädiere für eine entschiedene Ausweitung der bisherigen Hilfe, etwa 
durch feste Flüchtlingscamps, stabile Lazarette inklusive 
medizinischer Versorgung, Unterstützung des Alltagslebens und anderes. 
„Flüchtende, die die Region verlassen wollen, sind zu unterstützen“, 
heißt es in der Erklärung. „Ihnen ist Asyl oder ein humanitäres 
Aufenthaltsrecht gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention zu gewähren.“

Natürlich werden viele wieder behaupten, dies sei ungenügend – naiv 
ohnehin. Aber man muss eben einmal damit beginnen, den Frieden zu 
schaffen, auch wenn dies bisher versäumt wurde. Deutschland gibt pro 
Jahr über 30 Milliarden Euro für Militär aus, aber nur 29 Millionen 
für den Friedensdienst. Das sagt eigentlich alles. Eine friedliche 
Welt ist dem freien Markt und seinen Kriegsgewinnlern immer schon ein 
Dorn im Auge gewesen. Die Abgeordnete der Linken, Sevim Dagdelen 
schreibt: „Wir leben in einer Vorkriegszeit. Das spüren immer mehr 
Menschen in diesem Land. Unsere Aufgabe ist es, die Lügen, die die 
neuen Kriege mitvorbereiten, zu entlarven. Damit die Mehrheit der 
Bevölkerung, die Krieg als Mittel der Politik ablehnt, die keine 
Auslandseinsätze und Rüstungsexporte will, endlich zu ihrem Recht kommt.“

Auch um der nur allzu offensichtlich kriegsfreundlichen Meinungsmache 
in den großen Medien etwas entgegenzusetzen, haben wir uns 
entschlossen, dieses Buch herauszugeben. Unser „Duett“ soll zu einem 
ganzen Chor aufrechter und kluger Stimmen aus Vergangenheit und 
Gegenwart anschwellen, der mit aller Vehemenz für die Sache des 
Friedens eintritt. Wir glauben weiter an die Kraft der Veränderung. 
Ungehorsam ist nun gefragt. Wir sollten Schulen des Ungehorsams 
gründen, um ein Gegengewicht gegen die die Seele deformierenden 
Gehorsamsschulen des Militärs zu schaffen. Zuallererst müssen wir uns 
gegen die Nebelkerzen wehren, mit denen wir täglich beschossen werden. 
Aber, wenn sich der Nebel endlich gelichtet hat, sind wir dann auch 
bereit, aufzustehen? Was wäre, wenn der Friede kein Wunder bräuchte, 
sondern eine Revolution?

http://hinter-den-schlagzeilen.de/2015/04/08/der-frieden-braucht-eine-revolution/

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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
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