[E-rundbrief] Info 1357 - Uri Avnery: Gott will es! Nationale und religioese Konflikte
Matthias Reichl
info at begegnungszentrum.at
Fr Sep 5 18:42:51 CEST 2014
E-Rundbrief - Info 1357 - Uri Avnery (Israel): Gott will es! Der
israelisch-palästinensische Konflikt wird zu einem
jüdisch-muslimischen Konflikt. Der nationale Krieg wird zu einem
Religionskrieg.
Bad Ischl, 5.9.2014
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
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Uri Avnery: Gott will es!
Von Uri Avnery
SEIT SECHS Jahrzehnten warnen meine Freunde und ich unser Volk: Wenn
wir nicht mit den nationalistischen arabischen Kräften Frieden
schließen, werden wir es mit islamischen arabischen Kräften zu tun
bekommen.
Der israelisch-palästinensische Konflikt wird zu einem
jüdisch-muslimischen Konflikt. Der nationale Krieg wird zu einem
Religionskrieg.
Nationale Konflikte sind im Grunde rational. In ihnen geht es um
Gebiete. Gewöhnlich können sie durch Kompromisse gelöst werden.
Religiöse Konflikte sind irrational. Jede Seite glaubt an eine
absolute Wahrheit und sieht infolgedessen alle anderen als Ungläubige,
als Feinde des einzig wahren Gottes.
Wahre Gläubige, die glauben, dass sie für Gott kämpfen und dass sie
ihre Befehle direkt vom Himmel bekommen, können keine Kompromisse
schließen. "Gott will es" schrien die Kreuzfahrer und schlachteten
Muslime und Juden ab. "Allah ist der Größte", schreien fanatische
Muslime und enthaupten ihre Feinde. "Wer von allen Göttern ist wie
du!", schrien die Makkabäer und vernichteten alle Mitjuden, die
griechische Sitten angenommen hatten.
DIE ZIONISTISCHE Bewegung wurde nach dem Sieg der europäischen
Aufklärung von säkularisierten Juden geschaffen. Fast alle Gründer
waren überzeugte Atheisten. Viele waren dazu bereit, religiöse Symbole
zur Dekoration zu benutzen, aber sie wurden von allen großen
religiösen Weisen ihrer Zeit rundweg verdammt.
Tatsächlich war das zionistische Unternehmen vor der Schaffung des
Staates Israel bemerkenswert frei von religiösen Dogmen. Selbst heute
sprechen extreme Zionisten vom "Nationalstaat des jüdischen Volkes"
und nicht vom "Religionsstaat des jüdischen Glaubens". Sogar für die
"Nationalreligiösen", die Vorläufer der heutigen Siedler und
Halbfaschisten, war Religion dem nationalen Ziel untergeordnet: die
Schaffung eines nationalen jüdischen Staates im ganzen Land zwischen
dem Mittelmeer und dem Jordan.
Dieser nationale Angriff traf natürlich auf den entschlossenen
Widerstand der arabischen Nationalbewegung. Nach anfänglichem Zögern
wendeten sich die arabischen nationalen Führer dagegen. Dieser
Widerstand hatte sehr wenig mit Religion zu tun. Es stimmt, eine Zeit
lang wurde der palästinensische Widerstand vom Großmufti von Jerusalem
Haj Amin al-Husseini geleitet, aber nicht wegen seiner religiösen
Stellung, sondern weil er das Oberhaupt von Jerusalems
aristokratischster Großfamilie war.
Die arabische Nationalbewegung war immer entschieden säkular. Einige
ihrer hervorragendsten Führer waren Christen. Die panarabische
Baathpartei (Auferstehungspartei), die sowohl in Syrien als auch im
Irak die Herrschaft übernahm, war von Christen gegründet worden.
Damals war der größte Held der arabischen Massen Gamal Abd-al-Nasser.
Zwar war er formell Moslem, aber er war ziemlich areligiös. Der Führer
der PLO Jasser Arafat war privat ein frommer Moslem, jedoch blieb die
PLO unter seiner Führung eine säkulare Körperschaft mit vielen
christlichen Zutaten. Er sprach über die Befreiung von "Moscheen und
Kirchen" in Ostjerusalem. Eine Zeit lang war das offizielle Ziel der
PLO die Schaffung eines "demokratischen und nicht an eine besondere
Religion gebundenen" Staates.
WAS IST DA also geschehen? Wie kam es dazu, dass sich eine
Nationalbewegung in eine gewaltanwendende fanatische religiöse
Bewegung verwandelt hat?
Die aus einer Nonne zur Historikerin gewordene Karen Armstrong hat
darauf hingewiesen, dass in allen drei monotheistischen Religionen
fast gleichzeitig dasselbe geschehen ist. In den USA spielen jetzt die
evangelikalen Christen eine wichtige Rolle in der Politik, und zwar in
enger Zusammenarbeit mit dem rechtsgerichteten jüdischen
Establishment. In der gesamten muslimischen Welt gewinnen
fundamentalistische Bewegungen an Stärke. Und in Israel spielt ein
messianisch-jüdischer Fundamentalismus eine immer größere Rolle.
Wenn sich dasselbe in derartig unterschiedlichen Ländern und
Religionen abspielt, muss es eine gemeinsame Ursache dafür geben.
Welche ist das?
Man kann die Frage natürlich leicht mit dem nebulösen deutschen
Begriff Zeitgeist beantworten, aber der erklärt tatsächlich sehr wenig.
In der muslimischen Welt hat der Bankrott des liberalen, säkularen
Nationalismus geistliche Leere, wirtschaftlichen Zusammenbruch und
nationale Demütigung geschaffen. Das glänzende Versprechen des
Nasserismus endete unter Hosny Mubarak in elender Stagnation. Den
Baath-Diktatoren in Bagdad und Damaskus gelang es nicht, moderne
Staaten zu schaffen. Die Militärs in Algerien und in der Türkei haben
auch nicht viel mehr zuwege gebracht. Nachdem ölgierige westliche
Mächte den demokratisch gewählten iranischen Führer Mohammad Mossadegh
gestürzt hatten, konnte der glücklose Schah die Lücke nicht füllen.
Und ständig war da der demütigende Anblick Israels, das aus einem
verachteten kleinen ausländischen Implantat zu einer überragenden
Militär- und Wirtschaftsmacht herangewachsen war und das arabische
Staaten immer wieder scheinbar mühelos verprügelte.
Nach jedem neuen Krieg fragten sich Muslime: Was stimmt da nicht? Wenn
der Nationalismus ebenso im Frieden wie im Krieg erfolglos war, wenn
es weder Kapitalismus noch Sozialismus gelungen ist, eine gesunde
Wirtschaft zu schaffen, wenn es weder dem europäische Humanismus noch
dem sowjetische Kommunismus gelungen ist, die geistliche Leere zu
füllen, wo gibt es dann noch eine Lösung?
Die donnernde Erwiderung kommt aus den Tiefen der Massen: "Der Islam
ist die Antwort!"
DIE LOGIK hätte verlangt, dass die israelische Erwiderung
entgegengesetzt gewesen wäre.
Israel ist eine Erfolgsgeschichte. Es hat nicht nur eine mächtige
Militärmaschine und glaubhaftes atomares Potential, sondern es ist
technisch mächtig und seine Wirtschaftsbasis ist vergleichsweise gesund.
Aber jetzt gibt der eng mit dem extremen Nationalismus verbundene
messianische Fundamentalismus den Kurs an.
Am Vorabend des neuesten Krieges gab der Befehlshaber der
Giv’ati-Brigade seinen Offizieren den Tagesbefehl bekannt. Viele waren
schockiert.
Die Giv’ati-Brigade war im Krieg von 1948 eine hervorragende
Kampftruppe gewesen (ich war einer der ersten Kämpfer und habe darüber
zwei Bücher geschrieben). Wir waren sehr stolz auf die Zusammensetzung
der Brigade. Die Kämpfer waren eine Mischung aus Söhnen der
weltstädtischen Tel-Aviver Elite und jungen Männern aus den umgebenden
Slums. Diese Mischung war ganz besonders erfolgreich und bewährte sich
im Kampf.
Der Brigade-Kommandeur war ein früherer deutscher kommunistischer
Untergrundkämpfer gegen die Nazis. Er bekehrte sich zum Zionismus und
trat in einen stark links-gerichteten Kibbuz ein. Ähnlich gesinnt
waren die meisten seiner Stabsoffiziere. Ich kann mich an keinen
einzigen Soldaten in der Brigade erinnern, der eine Kippa getragen hätte.
Man stelle sich unseren Schock vor, als der gegenwärtige
Brigadekommandeur zu einem heiligen Krieg zur Erfüllung von Gottes
Willen aufrief. Oberst Ofer Winter hatte in seiner Jugend eine
religiöse Militärschule besucht und am Vorabend des Kampfes sagte er
zu seinen Soldaten:
"Die Geschichte hat uns auserwählt, die Angriffsspitze gegen den
terroristischen Feind in Gaza zu sein, den Feind, der den Gott von
Israels Schlachten beschimpft und verflucht … Ich erhebe meine Augen
zum Himmel und rufe gemeinsam mit euch: ‚Höre, Israel, der Herr ist
unser Gott, der Herr allein.’ Oh Herr, Gott Israels, gib uns Erfolg
auf unserem Weg, da wir für Israel gegen einen Feind kämpfen, der
deinen Namen verflucht!"
Das offizielle Ziel der israelischen Armee in diesem Feldzug war es,
die Grenze zu schützen und den Abschuss von Raketen auf israelische
Städte und Dörfer zu beenden. Aber das war nicht das Ziel des
Obersten. Er schickte seine Soldaten, für den Gott Israels im Kampf
gegen die zu sterben (drei starben tatsächlich), die seinen Namen
verfluchen.
Wenn dieser Offizier der einzige religiöse Fanatiker in der Armee
wäre, wäre das schon schlimm genug. Aber die Armee ist voller Kippa
tragender Offiziere, die mit religiösem Eifer durchtränkt worden sind
und die ihre Soldaten nun ihrerseits mit demselben Geist durchtränken.
Die zionistisch-religiöse Partei und ihre fanatischen Rabbiner, von
denen viele ausgesprochen faschistisch sind, arbeiten seit Jahren
daran, das Offizierscorps der Armee systematisch zu unterwandern. Es
ist ein Prozess der natürlichen Auslese: Offiziere, die keine Lust
haben, als Kolonialherren in den besetzten Gebieten aufzutreten,
verlassen die Armee und werden High-Tech-Unternehmer, während
messianische Fanatiker in ihre Stellungen geschleust werden.
Der Oberst ist übrigens weder zurechtgewiesen noch auf irgendeine
Weise geschädigt worden. Im Gegenteil, er ist während des Krieges als
vorbildlicher Kampfführer belobigt worden.
DAS ALLES führt zu ISIS, dem islamischen Staat von Irak und al-Sham
(Großsyrien). Vor Kurzem hat er seinen Namen in "Islamischer Staat"
geändert. Diese Veränderung bedeutet, dass die früheren Staaten, die
nach dem Ersten Weltkrieg von den westlichen Kolonialherren geschaffen
worden sind, abgeschafft sind. Es wird einen einzigen islamischen
Staat geben und der umfasst alle früheren und gegenwärtigen
islamischen Territorien, darunter auch Palästina (mitsamt Israel).
Das ist ein neues und furchteinflößendes Phänomen. Natürlich gibt es
viele islamistische Parteien und Organisationen in der muslimischen
Welt - von der die Türkei regierenden Partei über die ägyptische
Muslimbruderschaft bis hin zur palästinensischen Hamas. Aber fast alle
beschränken ihren Kampf auf ihre Nationalländer: Türkei, Syrien,
Palästina, Jemen. Sie wollen in ihren Ländern die Macht übernehmen und
sie regieren. Selbst Osama bin Laden wünschte sich am meisten, in
seiner saudi-arabischen Heimat die Macht zu übernehmen.
ISIS ist etwas ganz anderes. Er will alle Staaten zerstören, besonders
die muslimischen Staaten, die von den westlichen Imperialisten aus dem
islamischen Land herausgeschnitten worden sind. Mit zum religiösen
Symbol erhobener furchtbarer Grausamkeit macht er sich auf den Weg,
zuerst die muslimische Welt und dann den ganzen Globus zu erobern.
Dieses Ziel mag angesichts der Tatsache, dass die ganze Unternehmung
aus ein paar tausend Kämpfern besteht, lächerlich erscheinen. Aber
diese kleine Truppe hat schon einen großen Teil Syriens und des Irak
erobert. Er drückt die Sehnsucht der Muslime aus, den alten Ruhm
wiederherzustellen, ihren Hass auf alle (darunter auch wir), die den
Islam gedemütigt haben, und einen Durst nach geistlichen Werten. Man
muss unwillkürlich an die Anfänge der Nazibewegung denken, ihren
Groll, ihren Rachedurst, ihre Anziehungskraft für alle Armen und
Gedemütigten.
Es kann sein, dass ISIS nur ein paar Jahre braucht, um eine riesige
Macht zu werden, die alle Länder der Region bedroht.
BEDROHT ISIS auch Israel? Natürlich tut er das. Wenn seine dynamische
Kraft anhält, wird er das Assad-Regime stürzen und die israelische
Grenze erreichen, wo weitere islamische Rebellen in dieser Woche schon
die ersten Salven abgeschossen haben.
Bei einer solchen Bedrohung, die im Norden lauert, scheint es
lächerlich, gegen eine winzige islamisch-patriotische Truppe in Gaza
zu kämpfen, selbst wenn sie den Namen des Herrn verflucht.
Vielleicht ist nur noch sehr wenig Zeit, um mit der arabischen
Nationalbewegung Frieden zu schließen und besonders mit dem
palästinensischen Volk - mit der PLO ebenso wie mit der Hamas - und
sich zum Kampf gegen den Islamischen Staat zu verbinden.
Die Alternative ist furchterregend.
Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler
http://www.avnery-news.co.il/english/index.html
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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
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