[E-rundbrief] Info 1344 - M. Gohary: Rede zu Gaza 2014
Matthias Reichl
info at begegnungszentrum.at
Mo Jul 28 11:50:02 CEST 2014
E-Rundbrief - Info 1344 - Magdi Gohary (D): Rede auf der Münchner
Kundgebung Gaza 2014 am 26.7.2014.
Bad Ischl, 28.7.2014
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
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Rede auf der Münchner Kundgebung
Gaza 2014,
26. Juli 2014
Magdi Gohary
Was für ein Ritual.
Fast in zweijährigem Rhythmus bombardiert Israel den
Gaza-Streifen, das größte Freiluftgefängnis der Welt mit seinen fast
zwei Millionen gefangen gehaltenen Palästinensern,
Israel führt militärische Landoperationen durch und zerstört einen
Großteil der Infrastruktur der Region.
Hamas-Raketen fliegen Richtung Israel.
Es gibt Tote und Verletzte auf beiden Seiten in einem Verhältnis
von 1:20.
Was für ein Ritual
Die Welt ist entsetzt. Westliche Regierungen - und die Medien -
beeilen sich gebetsmühlenartig zu bekunden
dass Israel das Recht auf Selbstverteidigung hat,
dass beide Seiten mit den Kampfhandlungen aufhören sollten
und dass der sog. "Nahostfriedensprozess" fortgesetzt werden muss
Und es gehört zum Ritual
Wir empören uns, die Intellektuellen unter uns tauschen Artikel und
Interviews über die Hintergründe und über die Doppelmoral in der Welt
aus. Andere verbreiten Fotos von zerstückelten und verbrannten
Kinderleichen, von zerstörten Häusern und von fliehenden Familien.
Manche sitzen vor dem Fernseher und weinen vor Wut. Dabei möchte ich
nicht verhehlen, dass sich viele von uns freuen, wenn der Widerstand
in Gaza, dem arroganten und überheblichen Militär Israels die eine
oder andere Schlappe zufügt.
Was für ein Ritual
Wir organisieren Demonstrationen und Kundgebungen und sind oft
empört, dass nicht soviel "echte" Deutsche mitmarschieren. Manche von
uns skandieren Parolen, die für Zündstoff in den Medien sorgen. Manche
der Muslime unter uns finden in der Takbir, d.h. "Allahu Akbar", Gott
ist groß, einen Trost für unsere scheinbare Ohnmacht. Darf man nicht
wenigstens auf eine himmlische Gerechtigkeit hoffen, wenn Netanjahu,
Obama, Sisi und Merkel uns keine irdische erlauben?
Die Säkularen zeigen sich dabei etwas irritiert, aber was soll es,
man muss was für Gaza tun.
Manche treten in exotischen salafistischen Gewändern auf, als ob
wir Talibanis in Afghanistan wären und drängen an die Spitze, um das
Bild des Zuges zu prägen.
Das alles müssen wir aber, solange es friedlich zugeht, einfach
aushalten.
Dieses Mal gibt es aber eine kleine Steigerung. Durch eine vom
"Zentralrat der Juden in Deutschland" und dem Botschafter Israels ins
Rollen gebrachte Antisemitismus-Debatte möchte man in Deutschland die
Protestwelle in Schach halten und Teile der Teilnehmer am liebsten
gerichtlich verfolgen.
Ich bin auch überzeugt davon, dass der eine oder andere Journalist
der jetzt zuhört, primär da ist, um die einen oder anderen
"antisemitischen" Äußerungen zu entdecken.
Die Politik zögerte und wartete ab. Schließlich möchte man, Gaza
hin Gaza her, in den verdienten Sommerurlaub fahren. Als der Druck
aber stärker wurde, musste unser "Freiheitspräsident" Gauck ein
"klärendes" Wort sprechen.
Und da die Fußball-WM vorbei ist, widmen unsere freien Medien dem
Geschehen, d.h. dem Gazakrieg und dem Konflikt in der Ukraine ihre
Aufmerksamkeit im Verhältnis 1:1, wobei die Schuldigen schnell
ausgemacht wurden. Hier die Hamas und ihre Raketen und da Russlands
Putin und seine Separatisten.
Was für ein Ritual
Zwischen einem Gazakrieg und dem anderen (1,5 - 3 Jahre!) bleibt
alles beim Alten. Gaza bleibt blockiert und die Welt geht zur
Tagesordnung über.
Die arabischen Ölstaaten werden und bauen gnädig Gaza teilweise
wieder auf, und die EU stellt den NGOs in Gaza ein paar Millionen
Euros zur Verfügung.
Soll das so weiter gehen?
Genügt das, was wir hier tun?
Ich bin der festen Überzeugung, dass die Situation sich erst dann
verändern wird, wenn das Kräfteverhältnis im Nahen Osten und im
Weltmaßstab sich ebenfalls ändert.
Wir dürfen in Deutschland frei demonstrieren und unsere Meinung
frei sagen. In Kairo, Amman, Algier, Riad und in Kuwait dürfen die
Menschen, die noch empörter, verzweifelter und wütender sind als wir,
nicht demonstrieren.
Die Hilfsgüter, die von Menschen in Ägypten für Gaza mühsam
gesammelt wurden, dürfen die Menschen nicht erreichen.
Noch nie in der modernen arabischen Geschichte war die Kluft
zwischen Herrscher und Beherrschtem so groß wie heute und zwar egal ob
die Herrscher Könige, Präsidenten oder putschende Offiziere sind.
Heute scheuen sich die ägyptischen Putschisten nicht davor, an der
Abschnürung Gazas aktiv teilzunehmen. Der Putschgeneral Sisi sagte am
23. Juli (vor genau 3 Tagen!) in einer Rede an der Nation: "Ägypten
hat u. a. mehr als 100.000 Menschen für Palästina geopfert". Damit
will er, angesichts der Entwicklung in Gaza und seiner unrühmlichen
Rolle dabei, den Menschen in Ägypten sagen, es sei genug. Er möchte
einen Keil zwischen die beiden Völker schieben. Diese von Sisi
aufgebaute Legende ist aber historisch falsch. Ja, Ägypten hat 100.000
Menschen in den vielen Kriegen mit Israel verloren. Aber
nicht nur aus Solidarität mit den Palästinensern, sondern auch
hauptsächlich aus Gründen der nationalen Sicherheit Ägyptens.
Die sogenannte Ägyptische Friedensinitiative ist eine Farce und
eine Schande noch dazu. Sisi wollte mit Netanjahu über das Schicksal
des Gaza-Streifens ohne die Beteiligung der Palästinenser entscheiden.
Das ist Gott sei Dank voll in die Hose gegangen.
Die arabische Welt, ja der gesamte Nahe Osten ist in Bewegung
geraten, und ein Stillstand ist noch lange nicht in Sicht. Und keiner
kann die Ergebnisse voraussagen. Im Irak, in Syrien, in Libyen, im
Jemen herrscht Gewalt. In Ägypten ist die Konterrevolution am Zuge.
Alles im Nahen Osten ist in Fluss geraten.
Eins ist aber sicher, der Neue Nahe Osten wird mit dem Alten nicht
mehr vergleichbar sein.
Überall wächst eine neue Generation, die nicht gewillt ist, so zu
leben wie bisher.
Eine Dritte Intifada in der Westbank in Palästina steht
möglicherweise vor der Tür und ..und.. und
Der Konflikt um Palästina ist nur ein Teil des Ganzen und die
Palästina-Solidaritätsbewegung und die deutsche Friedensbewegung sind
gut beraten, wenn sie den Umbrüchen in der Region höchste
Aufmerksamkeit widmen.
Auch die Welt ändert sich schneller als wir denken. Der Einfluss
der USA in der Welt im allgemeinen und im Nahen Osten im besonderen
ist merklich zurückgegangen. Diese Entwicklung ist von großer
politischer Tragweite für die Region.
Neue Mächte treten auf die Weltbühne wie Indien, Brasilien und
Südafrika, von China und Russland ganz zu schweigen. Diese neuen
Mächte - neben den neuen Regionalmächten in der Region Iran und
Türkei - haben heute schon kein Verständnis dafür, dass die USA und
Europa Ihre eigene unrühmliche Geschichte in Palästina reparieren wollen.
Und wir.
Nochmal zu uns.
Wir sollen und müssen Politik machen.
Wir sollen und müssen uns einmischen.
Deutsche Staatsbürger mit "Migrationshintergrund" sind vollwertige
Bürgerinnen und Bürger.
Sie sollen Ihre Macht als Bürger und als Wähler entdecken und ausüben.
Der Politikbetrieb soll und wird diese Menschen ernst nehmen müssen.
Die Medien können nicht eine Linie fahren, die den Interessen
dieser Menschen zuwiderläuft.
Ich sehe von hier die zahlreichen jungen Menschen unter Euch. Eure
Eltern haben oft sich vor dem Gang zur Ausländerbehörde gefürchtet.
Heute seid Ihr viel selbstbewusster. Mischt Euch in die Innen- und
Außenpolitik, in die Energiepolitik, in die Wirtschafts- und
Sozialpolitik und in allen Gesellschaftsfragen ein und bestimmt mit.
Reißt die Ghettomauern nieder - auch die im Kopf.
Und wenn Deutschland Waffen und Rüstungsgüter in die Länder Eurer
Eltern liefert, um die für dieses System kompatiblen
Herrschaftsstrukturen aufrecht zu erhalten, sagt entschieden nein.
Wehrt Euch.
Wenn die deutsche Bundesregierung Israel mit Geld und Waffen
versorgt, sagt nein.
Wenn Produkte aus den besetzten Gebieten hier vermarktet werden,
was völkerrechtswidrig ist, dann boykottiert sie. Stellt Euch vor die
Läden und klärt die Kunden darüber auf.
Sagt, wir dulden nicht, dass die Kultur in unseren Herkunftsländern
zerstört und unsere Verwandten im Krieg getötet werden.
Stellt unsere Politiker und Parlamentarier zur Rede.
Besucht die Zeitungsredaktionen und die Funkhäuser und empört Euch
über deren Zynismus und Einseitigkeit in der Berichterstattung.
Sagt Ihnen. Ihr verletzt uns und ihr tretet unsere Würde mit Füssen.
Einer von Euch, der Deutsch-Iraner Navid Kermani, hat anlässlich
des 50. Jahrestags des Grundgesetzes die, für mich persönlich, beste
und wunderbarste Rede gehalten, die je vor dem deutschen Bundestag
gehört worden ist. "Die Würde des Menschen ist unantastbar".
Mit diesem Satz beginnt der Text der deutschen Verfassung und auch
seine Rede.
Füllt diesen Satz durch euer Engagement mit Leben. Denn ihr seid in
Deutschland angekommen.
Die westlichen Mächte haben genügend Probleme und Konflikte in der
Welt geschürt und durch Waffen und Kapital aufrechterhalten. Die Spur
führt von Kaschmir über Palästina bis tief nach Afrika hinein. Die
Gurus der "veröffentlichen" Meinung, die Kommentatoren hören aber
nicht auf, uns täglich mit dem Satz zu belehren: wir dulden nicht dass
diese Konflikte hier bei uns ausgetragen werden.
Wie zynisch, ja wie unanständig.
Wir müssen unsere Stimme immer laut erheben, wenn es um Recht
kontra Unrecht geht. Wenn es um der Menschlichkeit geht und zwar
überall auf der Welt.
Ich möchte mit einem Spruch von Emil Habibi, dem großen
palästinensischen Schriftsteller und Freiheitskämpfer, zum Schluss kommen:
"Wir sind das einzige Volk auf Erden, von dem seine Besatzer
Sicherheit verlangen.
Und Israel ist das einzige Land, das Sicherheit vom seinen Opfern
erwartet".
Schluss mit der israelischen Besatzung in Palästina
Schluss mit der Blockade des Gaza-Streifens
Für einen Nahen Osten, wo keine Mutter, egal ob sie
Palästinenserin oder Israelin oder Kurdin oder Syrerin oder Ägypterin
ist, jemals um ihr getötetes Kind zu weinen braucht.
Danke für die Aufmerksamkeit!
Magdi Gohary
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[M.G. stammt aus Agypten, und lebt und arbeitet seit Jahrzehnten in
München, wo er auch seit vielen Jahren politisch aktiv ist.]
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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
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