[E-rundbrief] Info 1268 - Th. Gebauer: Enteignung - Oeffentlichkeit und Privatsphaere

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
Di Nov 12 21:19:29 CET 2013


E-Rundbrief - Info 1268 - Thomas Gebauer (medico international, D): 
Enteignung - Über den Verlust von Öffentlichkeit und Privatsphäre.

Bad Ischl, 12.11.2013

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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Enteignung - Über den Verlust von Öffentlichkeit und Privatsphäre

Von Thomas Gebauer

Die katastrophale Tendenz der Gegenwart hat viele Facetten. Sie zeigt 
sich vielerorts in Ereignissen, die oftmals nur von lokaler Bedeutung 
zu sein scheinen. Im Herzen Istanbuls beispielsweise, wo ein 
traditionsreicher und bei den Menschen beliebter Park einem 
Einkaufszentrum Platz machen soll; in brasilianischen Fußballstadien, 
wo die populäre Fan-Kultur nun teuren Business-Seats weichen musste; 
im deutschen Gesundheitswesen, wo gesetzliche Krankenkassen chronisch 
Kranke systematisch vergraulen, um "teure Risiken" loszuwerden; in 
Barcelona, wo im Zuge der Umwandlung des alten Fischereihafens Port 
Vell in eine abgesicherte Marina für Superreiche nun die Bewohner der 
angrenzenden Wohnvierteln von Vertreibung bedroht sind; oder in 
Venedig, wo der von Touristen aus aller Welt geschätzte Markusplatz 
künftig nur noch einer zahlungskräftigen Klientel vorbehalten sein 
wird. Acht Euro und mehr kostet ein Espresso in den dortigen Cafés 
bereits: der Markt gebe es her, so die Kaffeehausbetreiber, man müsse 
sich nur noch von der irrigen Idee verabschieden, dass solche Plätze 
allen zugänglich sein müssen.

Mit großem Tempo schreitet die Enteignung der Öffentlichkeit voran und 
werden heute Orte, Institutionen und Werte, die früher das Gemeinwohl 
gestanden haben, dem öffentlichen Leben entzogen, privatisiert oder 
dem Produktionsprozess untergeordnet. Die Enteignung des Öffentlichen 
ist aber nur die eine Seite der Medaille; die andere ist die 
Enteignung des Privaten.

Seit den Enthüllungen von Edward Snowden ist für alle zur Gewissheit 
geworden, was letztlich schon lange bekannt war: dass in der heutigen 
Zeit von Privatsphäre in einem emphatischen Sinne nicht eigentlich 
mehr die Rede sein kann. Ohne Frage ist das Ausmaß des Abfischens, der 
Speicherung und der Auswertung von persönlichen Daten, das nun bekannt 
geworden ist, ein Skandal. Ausgerechnet die USA, die vielen noch immer 
als Inbegriff von Liberalität und Privatheit galten, haben sich zu 
einer endemischem Überwachungsgesellschaft entwickelt. Dabei macht die 
NSA-Affäre auch deutlich, dass technische Entwicklungen, die zur 
repressiven Kontrolle von Menschen genutzt werden können, irgendwann 
auch tatsächlich dazu genutzt werden. Mit den Möglichkeiten, die das 
World Wide Web inzwischen bietet, ist eine neue höchst prekäre 
"Öffentlichkeit" entstanden, die prinzipiell alle, die im Netz 
unterwegs sind, zum Objekt von Ausspähung und Überwachung macht.

"Wir haben nichts zu verbergen", so versuchen sich viele Nutzer zu 
beruhigen. Sie übersehen dabei, wie viel sie zu geben haben. Denn 
Kontrolle und Disziplinierung sind nur die eine Seite von Überwachung 
und Datenerfassung. Die andere ist eine gleichermaßen beängstigende: 
Die Standardisierung und Lenkung von menschlichem Verhalten, um es dem 
herrschenden Wirtschaftsgeschehen profitabel verfügbar zu machen. 
Dabei verwandelt sich die Sphäre des Privaten in eine Sphäre des 
Konsums, die, so Adorno, als bloßer "Anhang des materiellen 
Produktionsprozesses, ohne Autonomie und ohne eigene Substanz, 
mitgeschleift wird". Weltweit tätige IT-Firmen speichern persönliche 
Daten, oft in Kooperation mit der NSA: sie spähen private Vorlieben 
aus, beobachten individuelles Kaufverhalten und erstellen 
Konsumentenprofile - alles mit dem Ziel, die Effizienz von Produktion 
und Konsum zu steigern. Auf bemerkenswerte Weise korrespondiert die 
Begrenzung von Öffentlichkeit mit der Entgrenzung des Privaten. 
Privates wird "öffentlich", Öffentliches "privat". Es gehört keine 
sonderliche Phantasie dazu, um sich vorzustellen, wie künftig weniger 
betuchte Besucher Venedigs per Smartphone zu "Plätzen" gelotst werden, 
wo es zu erschwinglichen Preisen das gibt, was sie gewöhnlich 
konsumieren. Und wer einmal eine der großen Malls in den USA besucht 
hat, weiß, dass es längst die Einkaufszentren sind, wo Familien ihre 
Freizeit verbringen, Jugendliche sich verabreden, aber kein mobiler 
Eisverkäufer mehr seinen Stand aufschlagen kann, sondern weltweit 
operierende Ketten weltweit standardisiertes Fast Food anbieten.

Die Welt der "Bytes and Bites" ermöglicht nicht nur eine effiziente 
politische Kontrolle des menschlichen Lebens, sondern auch dessen 
Unterwerfung unter das Diktat von Ökonomie. Mit den neuen Technologien 
ist der Ökonomisierung des Lebens heute kaum noch Grenzen gesetzt. 
Längst geht es nicht mehr nur um die Ausbeutung menschlicher 
Arbeitskraft, sondern um die Kapitalisierung aller Bereiche 
menschlicher Existenz: der Ernährung, der Bildung, der 
Freizeitgestaltung, des solidarischen Miteinanders. Kostenpflichtige 
Online-Dating Angebote drängen sich in die Gefühlswelt. Soziale Medien 
profitieren vom Bedürfnis nach Freundschaft und Anerkennung. Und 
"shared economy", auf der diesjährigen CeBIT als Geschäftsmodel der 
Zukunft gepriesen, zielt darauf, selbst noch aus der Bereitschaft zu 
Nachbarschaftshilfe und zum Teilen Profit zu schlagen. Unerbittlich 
frisst sich das ökonomische Kalkül durch die Körper, die Affekte, die 
Institutionen, das Sozialgefüge, die Welt.

Primäres Ziel ist nicht die Gestaltung menschlicher Lebenswelten, 
sondern deren Kolonisierung zum Zwecke des Profits. Freizeit, 
Freundschaften, gegenseitige Unterstützung - all das gibt es künftig 
immer weniger als solches und selbstbestimmt, sondern nur noch 
vermittelt über den Konsum. Das gilt leider auch für das Helfen. 
Kürzlich schrieb Peter Buffett, der Sohn der milliardenschweren 
Finanzspekulanten Warron Buffett in der New York Times, dass all das 
Bemühen, die Armut über Mikrokredite zu bekämpfen, nur dazu geführt 
hat, selbst noch diejenigen, die nichts haben, in das herrschende 
System aus Schulden und Zinszahlungen hineinzuziehen. Einen 
"Charitable-Industrial Complex" sieht Buffett am Werk, der - 
angetrieben von einem "philanthropischen Kolonialismus" - darauf 
zielt, auch die Armen zu miteinander konkurrierenden Geschäftsleuten 
zu machen. Der Eintritt in die Welt der Waren und Dienstleistungen 
geht einher mit dem Verlust eines solidarischen Miteinanders. Die Idee 
der Assoziation freier Individuen löst sich auf in der Gegnerschaft 
von Schuldsklaven, die untereinander in Konkurrenz treten müssen, um 
den Zinsforderungen entsprechen zu können.

Die Vorstellung eines allgemeinen Rechts auf Privatsphäre, eines Recht 
auf freie Entfaltung der Persönlichkeit entstand in seiner heutigen 
Form in den Aufständen gegen den Feudalismus, der zuvor dafür gesorgt 
hatte, dass sich nur eine kleine Elite dieses Recht sichern konnte. 
Seitdem ringen Gesellschaften um das richtige Maß zwischen 
individueller Freiheit und Gemeinwohl, zwischen den Interessen der 
Einzelnen und denen der Gesellschaft. Es zeichnet demokratisch 
verfasste Gemeinwesen aus, dass sie darum bemüht sind, das 
Spannungsverhältnis zwischen Privatem und Öffentlichem offen zu 
halten. Mit der gegenwärtigen Enteignung von beiden kommt dieser 
Prozess zu einem Ende; zum Schaden von Demokratie, die in ihren 
Grundfesten ausgehebelt wird; zum Wohle einer kleinen Elite, die sich 
auch künftig beides leisten kann, den Luxus öffentlicher Plätze und 
eines privaten Lebens, in das niemand Einblicke hat.

Es ist gut, dass diese Entwicklung nicht unwidersprochen bleibt. Das 
Aufbegehren gegen die Zerstörung des Gezi Parks in Istanbul, die 
sozialen Massenproteste in Brasilien, die Verteidigung des Rechts auf 
Stadt und Nachbarschaft in Barcelona, der Widerstand gegen die 
Privatisierung öffentlicher Gesundheitsdienste in aller Welt, die 
Proteste gegen "Prism", aber natürlich auch und gerade der Widerstand 
gegen die autoritären Regime in der arabischen Welt, - all das ist 
Ausdruck eines unstillbaren Drängens auf demokratische Verhältnisse, 
in denen Freiheit und Gemeinwesen nicht zu euphemistischem 
Umschreibungen für Rendite und Kontrolle verkommen sind.

Thomas Gebauer ist Geschäftsführer von medico international

Quelle: medico international - medico-rundschreiben 03/2013.
http://www.medico.de/

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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
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