[E-rundbrief] Info 1205 - Schmutziger Grossputz in Rios Favelas
Matthias Reichl
info at begegnungszentrum.at
Sa Apr 20 21:45:01 CEST 2013
E-Rundbrief - Info 1205 - Peter Gruendler (A): Schmutziger Großputz in
Rio. Im Vorfeld von Fußball-WM 2014 und Olympiade 2016. Vertreibung
und Zerstörung in den Favelas.
Bad Ischl, 20.4.2013
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
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Schmutziger Großputz in Rio
Peter Gründler
Rio de Janeiro hat schon lange mit den Vorbereitungen für die
Fußball-WM 2014 und die Olympischen Sommerspiele 2016 begonnen.
Darunter zu leiden haben die Bewohner der Armensiedlungen – und ein
Protestcamp indigener Brasilianer.
Bei kulturellen oder sportlichen Großereignissen spielt man gerne
heile Welt. In Salzburg werden Bettler und Obdachlose zur
Festspielzeit aus dem Stadtzentrum vertrieben, in Brasilien sollen es
Hunderttausende Bewohner urbaner Armenviertel, der Favelas, sein. Wo
immer sie der Zurschaustellung von Wohlstand, Ordnung und
touristischer Schönheit im Wege stehen, sollen die Favelas weichen.
Und damit der selbstgeschaffene Lebensraum ihrer Bewohner.
Diese informellen Siedlungen sind keine Slums, also verelendete
Stadtbereiche, sondern durch Zuzug z.B von Eisenbahnarbeitern
entstanden, ursprünglich nach der Abschaffung der Sklaverei Ende des
19. Jahrhunderts. Freie Flächen wurden anfangs mit Bretterverschlägen,
später auch mit beständigeren Ziegelbauten in Beschlag genommen. Die
Städte konnten oder wollten keine Inklusion betreiben, Arbeit gab es
für die meisten Bewohner auch nicht, und so wurden die Favelas sich
selbst überlassen. Es entstanden eigene Sozial- und Wirtschaftsgefüge,
oft auch unter der Beteiligung lokaler Drogenkartelle.
Das mediale Bild, das wir heute geliefert bekommen, läßt sich mit vier
Wörtern zusammenfassen: Armut, Müll, Drogen, Verbrechen. Wenn man nur
oberflächlich hinschaut oder begleitet "Favalas schauen" geht, mag das
auf den ersten Blick auch so aussehen. Gerade erst ist das
"Zeit-Magazin" darauf hereingefallen und untertitelt: "Wer hat das
Sagen in den Favelas – die Drogenbosse oder bald endlich die Polizei,
der bislang niemand vertraute?" Solche "Law and Order"-Berichte sollen
unser Bild einer schönen heilen Welt festigen. Tatsächlich leben aber
"nur" 2% der Bewohner von illegalen Tätigkeiten, die Mordrate in Rio
liegt heute unter jener von New Orleans oder Baltimore.
"Wir geben diesen Menschen ihre Würde zurück"
Immer wieder gab es Bestrebungen zur Auflösung - abwechselnd durch als
"Umsiedlung" verniedlichte Vertreibungen und durch Versuche der
Inklusion wie beim seitens der Stadtverwaltung als sehr erfolgreich
bezeichneten Programm "Favela-Bairros" zur Umwandlung der Favelas in
"reguläre Bezirke". Derzeit ist wieder so eine Welle im Gange, und
diesmal enthält sie beide Elemente. Denn eines ist den
Stadtverwaltungen Brasiliens am wichtigsten: Schnell soll es gehen,
und gründlich soll es sein.
2007 erhielt Brasilien den Zuschlag für die Ausrichtung der Fußball-WM
2014. Zwei Jahre später wurde Rio de Janeiro auch noch mit der
Austragung der Olympischen Sommerspiele 2016 betraut. Für beides ist
das Maracaná-Stadion im Norden Rios ein wichtiges Zentrum: 2014 findet
das Finale der Fußball-WM dort statt, 2016 die Fußball- und in
unmittelbarer Nähe auch etliche andere Bewerbe der Olympischen Spiele.
Pech, dass sich im Norden auch zahlreiche Favelas befinden. Pech in
erster Linie für deren Bewohner.
Denn seit 2009 beginnt man gerade im Norden, Erneuerungsprogramme
zunehmend dadurch umzusetzen, dass Favelas geschleift, ihren Bewohnern
viel zu niedrige Abfindungen gezahlt und sie in viel zu teure
Sozialbauten abgesiedelt werden. "Wir geben diesen Menschen ihre Würde
zurück" sagt die Stadtverwaltung über das
"Wachstumsbeschleunigungsprogramm" PAC für die Nordzone von Rio. Die
dort lebenden Menschen sehen es als Vertreibung. Denn weder wird ihnen
leistbarer Ersatz geboten noch in irgendeiner Weise Rücksicht auf die
Bewohner der Favelas genommen. Trotzdem gibt man ihnen nur vier Wochen
Zeit für die Räumung, dann wird brutal eingegriffen.
Da hilft nur noch Hubschraubereinsatz
Die Situation eskalierte dermaßen, dass Amnesty International im April
2011 Beobachter entsandte. Kaum waren die wieder weg, kam Mangueira,
das Viertel, das jetzt das "Zeit-Magazin" als Beispiel für die
gelungene "Befriedung" hernimmt, an die Reihe: Im Juni 2011 rückte die
Staatsgewalt in Form von 750 schwerbewaffneten Sondereinsatzbeamten,
14 Armeepanzern und 5 Hubschraubern der Luftwaffe ein. Und dann kommen
die Abbruchkomandos und Bagger. 17 Favelas sollen bis Mitte 2011
bereits auf diese Weise "befriedet" worden sein. Das widerständige
"Volkskomitee für die WM 2014" spricht von bisher 170.000 Vertriebenen
in Brasilien, allein in Rio 30.000. Anderen Schätzungen zufolge sollen
bis zur WM landesweit ca. 1,5 Millionen Menschen auf diese Weise
vertrieben und ihr Zuhause vernichtet werden.
Je näher der WM-Termin kommt und je mehr man sich dem Maracaná-Stadion
nähert, desto hektischer und brutaler werden diese Aktionen. Zuletzt
traf es die Gebäude und das Gelände des in unmittelbarer Nachbarschaft
liegenden ehemaligen Indigenen-Museums Aldeia Marcaná (abgesiedelt
1977), das 2006 von verschiedenen indigenen Gruppen als "Symbol des
kulturellen Widerstands" besetzt wurde. "Wir sind hier, um daran zu
erinnern, dass wir unsere eigene Kultur haben, die wir von niemandem
kopiert haben", sagt Doitrió Tukano, Führer der Tukano-Indigenen.
Die um das ehemalige Museum entstandene Hüttensiedlung soll nun ebenso
wie das Gebäude aus dem 19. Jahrhundert einem Parkplatz bzw. einem
kommerziellen Sportzentrum weichen. Ende Oktober 2012 erklärten die
Behörden, dass das ehemalige Museum abgerissen werden soll, um die
Verkehrswege um das Stadion ausbauen zu können. Laut dem Gouverneur
von Rio de Janeiro hat die FIFA den Abriss gefordert – was diese aber
bestreitet. Nach Protesten ruderte die Regierung zurück und wollte
sich vorgeblich für die Erhaltung des Museumsgebäudes einsetzen.
Einige Dutzend der Besetzer harrten aus. Mittlerweile erhielten sie
auch Unterstützung durch nicht-indigene Protestgruppen. Am 22. März
dieses Jahres stürmten ca. 200 Polizisten einer Sondereinsatztruppe
das Gelände, wobei vor allem die Unterstützer brutal mit
Schockgranaten, Tränengas und Pfefferspray angegriffen wurden. Seitens
der Führer indigener Gruppen und von Menschenrechtsorganisationen kam
scharfer Protest. "Dass zu Gewalt gegriffen wurde, zeigt die
Einstellung der Behörden gegenüber Menschen, die Sportgroßereignissen
im Weg stehen", sagt Christopher Gaffney, Professor für Urbanistik an
der in einer Satellitenstadt Rios gelegenen staatlichen Universität
Fluminense. Noch geht der Protest weiter, die internationale
Aufmerksamkeit wächst.
Heile Welt um jeden Preis
Menschenrechte, Demokratie und friedliche Einigung steht nicht auf dem
Programm der Regierung, wenn es um die Selbstdarstellung Brasiliens
und vor allem Rio de Janeiros für den Rest der Welt geht. Symbolische
Aussage der zunehmend brutalen Maßnahmen: Die für die
Großveranstaltungen angesetzten Megaprojekte sollen um jeden Preis
durchgezogen werden. Schließlich stehen Milliardeneinnahmen auch durch
weitere Belebung des Tourismus in Aussicht.
Dem ärmsten Viertel der Bewohner kommen die aber nicht zugute. Im
Gegenteil, diese Menschen werden noch weiter ins Abseits gestellt und
ihr Lebensmittelpunkt, ihre Heimat vernichtet. Die scheinbar heile
Welt, die wir zu sehen bekommen werden -- sie wird allzu teuer erkauft
sein.
Weitere Infos in englisch: http://rioonwatch.org
Aus: akin-Pressedienst, 10.4.2013
http://akin.mediaweb.at
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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
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