[E-rundbrief] Info 1003 - Uri Avnery: Der neue Protest

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
Sa Mai 26 15:44:57 CEST 2012


E-Rundbrief - Info 1003 - Uri Avnery (IL): Der neue Protest (in Israel 
und weltweit).

Bad Ischl, 26.5.2012

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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Der neue Protest

Uri Avnery

DER RABIN-PLATZ in Tel Aviv hat viele Demonstrationen gesehen, aber 
keine war wie die am letzten Samstag.

Sie hat nichts mit dem Ereignis zu tun, das ihm den Namen gab: Die 
riesige Rallye für Frieden , an deren Ende die Ermordung Yitzhak 
Rabins war. Diese Rallye war in jeder Hinsicht anders.

Es war ein fröhliches Ereignis. Dutzende von NGOs, viele von ihnen 
klein, einige von ihnen etwas größer, jede mit einer anderen Agenda, 
kamen zusammen, um den sozialen Protest des letzten Jahres wieder 
aufzunehmen. Aber es war keineswegs eine Fortsetzung des „israelischen 
Frühlings“ des letzten Jahres.

Der Aufstand des letzten Jahres war ganz ungeplant. Eine junge Frau, 
Daphni Leef, konnte ihre Miete nicht zahlen und stellte ein kleines 
Zelt auf den Rothshild-Boulevard, ein fünf- Minuten-Spaziergang vom 
Rabin-Platz entfernt. Sie hatte offensichtlich den richtigen Ton 
getroffen, weil innerhalb von Tagen Hunderte von Zelten auf dem 
Boulevard und überall im Land aufgebaut wurden. Er endete in einer 
sehr großen Demonstration, die „der Marsch der halben Million“ genannt 
wurde, der zur Bildung einer Regierungskommission führte, die eine 
Liste von Anregungen erstellte, um die soziale Ungerechtigkeit zu 
mildern. Nur ein kleiner Teil von ihnen wurde realisiert.

Das ganze Unternehmen nannte sich „unpolitisch“; es wies Politiker 
jeder Art zurück und weigerte sich resolut, sich mit einem nationalen 
Problem, wie z.B. Frieden ( was ist das denn?), Besatzung, Siedlungen 
und Ähnlichem zu befassen.

Alle Entscheidungen wurden von einer anonymen Führung, die sich um 
Daphni gruppierte, getroffen. Einige Namen wurden bekannt, andere 
nicht. Die Massen, die sich ihnen anschlossen, waren mit ihren 
Vorschlägen einverstanden.


NUN NICHT MEHR. Die neue Initiative dieses Jahres hat offensichtlich 
keine Führung. Es gab keine zentrale Tribüne, keinen Hauptsprecher. 
Sie ähnelt dem Londoner Hyde Park Corner, wo jeder auf einen Stuhl 
klettern und sein oder ihr Evangelium predigen kann. Jede Gruppe hat 
ihren eigenen Stand, wo ihre Flugblätter ausgehängt waren, jede hatte 
ihren eigenen Namen, ihre eigene Agenda, ihre eigenen Redner und ihre 
eigenen „Guides“ (da wir sie nicht Führer nennen sollten).

Da der Platz groß ist und die Zuhörerschaft auf einige Tausend kam, 
funktionierte es. Viele verschiedene – und einige widersprüchliche – 
Versionen sozialer Gerechtigkeit wurden befürwortet: von einer Gruppe, 
die sich „Revolution der Liebe“ nannte (jeder sollte jeden lieben) bis 
zu einer Gruppe von Anarchisten (alle Regierungen sind schlecht, auch 
Wahlen sind schlecht).

Sie stimmten nur in einem Punkt überein: sie waren alle „unpolitisch“, 
alle schraken vor den Tabuthemen (s. oben) zurück.

Gideon Levy nannte die Szene „chaotisch“ und wurde unmittelbar von den 
Protestierenden angegriffen, die ihm vorwarfen, dass ihm das 
Verständnis fehlt, (wahrscheinlich sei er zu alt, um dies zu 
verstehen). Chaos sei wunderbar. Chaos sei wirkliche Demokratie. Es 
gebe dem Volk seine Stimme zurück. Es gibt dort keine Führer, die den 
Protest stehlen und ihn für eigene Zwecke und Egos ausnützen würden. 
Es ist die Art und Weise, wie sich die neue Generation selbst ausdrückt.

ALL DIES erinnert mich an eine glückliche Periode – an die 60er-Jahre 
des letzten Jahrhunderts, als noch fast niemand dieser Demonstranten 
geboren war oder gar „in der Planungsphase“ war (wie Israelis es gerne 
ausdrücken).

Zu jener Zeit war Paris von einer Leidenschaft für soziale und 
politische Demonstrationen ergriffen. Es gab keine gemeinsame 
Ideologie, keine einigende Vision einer neuen Sozialordnung. Im 
Odeon-Theater ging Tag für Tag eine endlose und ununterbrochene 
Debatte weiter , während außerhalb Demonstranten Pflastersteine auf 
die Polizisten warfen, die sie mit bleiernen Säumen ihrer Mäntel 
schlugen. Jeder war begeistert; es war klar, eine neue Epoche der 
menschlichen Geschichte hatte begonnen.

Claude Lanzmann, der Sekretär von Jean-Paul Sartre und Liebhaber von 
Simone de Beauvoir und der später bei dem Monumentalfilm „Shoa“ Regie 
führte, beschrieb mir die Atmosphäre so: „Die Studenten verbrannten 
die Autos auf den Straßen. An den Abenden parkte ich meinen Wagen an 
entfernten Plätzen. Aber eines Tages sagte ich zu mir: Was zum Teufel 
brauch ich einen Wagen? Lasst sie ihn verbrennen!“

Aber während die Linke redete, sammelte die Rechte ihre Kräfte unter 
Charles de Gaulle, eine Million Rechte marschierte auf den Champs 
Elisées. Der Protest verlief im Sande und ließ nur ein vages Verlangen 
nach einer besseren Welt zurück.

Der Protest war nicht auf Paris beschränkt. Sein Geist infizierte 
viele andere Städte und Länder. Im unteren Manhattan herrschte die 
Jugend unangefochten. Provokative Poster wurden in den Straßen des 
„Village“ verkauft, junge Männer und Frauen trugen humorvolle 
Abzeichen an ihrer Brust.

Im Großen und Ganzen hatte die vage Bewegung vage Ergebnisse. Ohne 
eine konkrete Agenda gibt es auch keine konkreten Ergebnisse. De 
Gaulle stürzte einige Zeit später aus anderen Gründen. In den USA 
wählte das Volk Richard Nixon. Im öffentlichen Bewusstsein änderte 
sich manches, aber nach all dem revolutionären Gerede gab es keine 
Revolution.


BEI DER Samstagsrallye ging die junge Daphni Leef und ihre Kameraden 
kaum bemerkt durch die Menge wie ein Relikt aus der Vergangenheit. 
Nach nur einem Jahr schien es, als ob eine neue Generation die neue 
Generation vom Vorjahr übernehmen würde.

Es ging nicht darum, dass sie nicht in der Lage waren, sich um eine 
gemeinsame Agende zu einigen – es ging eher darum, dass sie nicht den 
Vorteil sahen oder gar die Notwendigkeit, eine gemeinsame Agenda, eine 
gemeinsame Organisation, eine gemeinsame Führung zu haben. All dies 
sind in ihren Augen schlechte Dinge, Attribute des alten, korrupten, 
diskreditierten Regimes. Weg mit ihnen!

Ich bin nicht ganz sicher, was ich darüber denken soll.

Einerseits mag ich es sehr. Neue Energien werden frei. Eine junge 
Generation, die egoistisch, apathisch und keineswegs gleichgültig 
schien, zeigt plötzlich, dass sie sich Sorgen macht.

Seit Jahren habe ich meine Hoffnung ausgedrückt, dass die jungem Leute 
etwas Neues schaffen – mit einem neuen Wortschatz, neuen Definitionen, 
neuen Slogans, neuen Führern, die sich total von den heutigen 
Parteistrukturen und Regierungskoalitionen trennten - einem Neubeginn. 
Der Beginn der zweiten israelischen Republik.

Also sollte ich glücklich sein, während ich auf einen wahr werdenden 
Traum schaue.

Und tatsächlich bin ich glücklich über diese neue Entwicklung. Israel 
benötigt notwendige soziale Reformen. Die Kluft zwischen sehr Reichen 
und sehr Armen ist unerträglich. Eine breite neue Sozialbewegung, auch 
mit großen Verschiedenheiten ist eine gute Sache.

Soziale Gerechtigkeit ist eine linke Forderung und ist es immer 
gewesen. Eine Demonstration, die schreit: „Das Volk verlangt soziale 
Gerechtigkeit“ ist links, auch wenn sie dieses Stigma meidet.

Aber die hartnäckige Weigerung, die politische Arena zu betreten und 
keine politische Agenda zu erklären, ist schlecht. Das könnte 
bedeuten, dass alles im Sande verläuft, genau wie die Bemühungen des 
letzten Jahres.

Wenn die Demonstranten darauf bestehen, sie seien unpolitisch – was 
verstehen sie darunter ? Wenn das bedeutet, sie identifizieren sich 
selbst nicht mit einer bestehenden politischen Partei, dann kann ich 
nur applaudieren. Wenn es nur ein taktischer Trick ist, um Leute aus 
allen bestehenden Lagern anzuziehen, applaudiere ich auch. Aber wenn 
es eine ernsthafte Entscheidung ist, die politische Schlacht den 
anderen zu überlassen, muss ich es verurteilen.

Soziale Gerechtigkeit ist ein klares politisches Ziel. Es bedeutet 
u.a. das Geld von einer Sache wegzunehmen und es sozialen Zwecken 
zukommen zu lassen. In Israel bedeutet es unvermeidlich, das Geld 
sowohl vom riesigen Militärbudget zu nehmen, als auch von den 
Siedlungen, von der Unterstützung, die als Bestechung an die 
Orthodoxen gezahlt wird und von den parasitären Magnaten.

Wo kann dies geschehen? Nur in der Knesset. Um dorthin zu kommen, ist 
eine politische Partei nötig. Also muss man politisch sein. Punkt.

Ein unpolitischer Protest, der die brennenden Fragen unserer 
nationalen Existenz vermeidet, ist etwas, das nichts mit der Realität 
zu tun hat.

Letztes Jahr verglich ich den sozialen Protest mit einer Meuterei an 
Bord der Titanic. Man könnte dies noch erweitern. Man stelle sich das 
wunderbare Schiff auf seiner Jungfernfahrt mit all den lebendigen 
Aktivitäten an Bord vor. Die Band bittet darum, alle altmodische Musik 
von Mozart und Schubert wegzulassen und durch harte Rockmusik zu 
ersetzen. Anarchisten verlangen, dass der Kapitän entlassen wird und 
wählen jeden Tag einen neuen Kapitän. Andere verlangen, die 
Schiffsübungen zu streichen – eine lächerliche Übung auf einem 
„unsinkbaren“ Schiff – und stattdessen sportliche Übungen anzubieten. 
Auch sollte der skandalöse Unterschied zwischen der ersten Klasse und 
den andern Passagieren gestrichen werden etc.
Alles gute Forderungen.


Aber irgendwo auf dem Weg lauert ein Eisberg.

Israel steuert auf einen Eisberg zu, auf einen größeren als einer von 
denen, die auf dem Weg der Titanic schwammen. Er ist nicht verborgen. 
Alle seine Teile sind von weitem sichtbar. Und wir segeln geradewegs 
mit Volldampf auf ihn zu. Wenn wir den Kurs nicht ändern, wird sich 
der Staat Israel selbst zerstören – er wird sich erst in ein 
Apartheidstaats-Monster vom Mittelmeer bis zum Jordan verwandeln und 
später vielleicht in einen binationalen Staat mit arabischer Mehrheit 
vom Jordan bis zum Mittelmeer. Bedeutet das, dass wir unsern Kampf für 
soziale Gerechtigkeit aufgeben müssen? Gewiss nicht. Der Kampf für 
soziale Solidarität, für bessere Erziehung, für verbesserte 
medizinische Dienste, für die Armen und Behinderten muss jeden Tag, 
jede Stunde, weitergehen .

Bedeutet das auch, dass dieser Kampf ein Teil des weiteren Kampfes 
sein muss – politisch und ideologisch – für die Zukunft Israels, für 
das Ende der Besatzung, für Frieden.


(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

http://www.uri-avnery.de/news/189/15/Der-neue-Protest

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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
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