[E-rundbrief] Info 1090 - Uri Avnery: Der neue Mandela (Marwan Barghouti)
Matthias Reichl
info at begegnungszentrum.at
Mi Apr 4 17:10:37 CEST 2012
E-Rundbrief - Info 1090 - Uri Avnery (IL): Der neue Mandela (der
Palästinenser Marwan Barghouti, politischer Gefangener in Israel).
Bad Ischl, 4.4.2012
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
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Mar 31, 2012
Der neue Mandela
MARWAN BARGHOUTI hat seine Meinung geäußert. Nach langem Schweigen
sandte er eine Botschaft aus dem Gefängnis.
Für israelische Ohren klingt diese Botschaft nicht angenehm. Aber für
die Palästinenser und für die Araber im Allgemeinen ist sie logisch.
Seine Botschaft könnte nun das neue Programm der palästinensischen
Befreiungsbewegung werden.
Der neue Mandela
Uri Avnery
MARWAN BARGHOUTI hat seine Meinung geäußert. Nach langem Schweigen
sandte er eine Botschaft aus dem Gefängnis.
Für israelische Ohren klingt diese Botschaft nicht angenehm. Aber für
die Palästinenser und für die Araber im Allgemeinen ist sie logisch.
Seine Botschaft könnte nun das neue Programm der palästinensischen
Befreiungsbewegung werden.
ICH TRAF Marwan zuerst während der Glanzzeit des
Nach-Oslo-Optimismus’. Er war als Führer einer neuen palästinensischen
Generation aufgetaucht, der einheimischen jungen Aktivisten, Männer
und Frauen, die während der 1. Intifada reif geworden waren.
Er ist ein Mann von kleiner Statur und großer Persönlichkeit. Als ich
ihn traf, war er schon ein Führer der Tansim („Organisation“), der
Jugendgruppe der Fatahbewegung.
Unser Gesprächsthema damals war die Organisation von Demonstrationen
und anderer gewaltfreier Aktionen, die sich auf enge Kooperation
zwischen den palästinensischen und israelischen Friedensgruppen
gründeten. Das Ziel war Frieden zwischen Israel und einem neuen Staat
Palästina.
Als der Oslo-Prozess mit der Ermordung von Yitzhak Rabin und Yasser
Arafat starb, wurden Marwan und seine Organisation zu Zielen auf
einander folgender israelischer Führer – Ariel Sharon, Binjamin
Netanjahu und Ehud Barak – die entschieden, der Zwei-Staaten-Agenda
ein Ende zu bereiten. In der brutalen „Defensive-Shield“-Operation
(angefangen vom damaligen Verteidigungsminister Shaul Mofaz, jetzt der
neue Führer der Kadima-Partei) wurde die palästinensische Behörde
angegriffen, ihre Ministerien zerstört und viele ihrer Aktivisten
verhaftet.
Marwan Barghouti wurde unter Anklage gestellt. Es wurde behauptet, er
sei als Führer der Tansim verantwortlich für mehrere „terroristische“
Angriffe in Israel. Seine Gerichtsverhandlung war eine Farce und
erinnerte mehr an eine römische Gladiatoren-Arena als an eine
Gerichtsverhandlung. Der Saal war voll brüllender Rechter, die sich
selbst als „Opfer des Terrorismus“ darstellten. Mitglieder von Gush
Shalom protestierten gegen diese Verhandlung innerhalb des
Gerichtsgebäudes, wurden aber nicht in die Nähe des Angeklagten gelassen.
Marwan wurde zu fünfmal lebenslänglich verurteilt. Das Bild von ihm
mit den über seinem Kopf erhobenen gefesselten Händen wurde zu einer
palästinensischen Nationalikone. Als ich seine Familie in Ramallah
besuchte, hing dieses Bild im Wohnzimmer.
IM GEFÄNGNIS wurde Marwan Barghouti sofort als Führer aller
Fatahgefangenen anerkannt. Er wird auch von den Hamasaktivisten
respektiert. Die gefangenen Führer von Fatah und Hamas
veröffentlichten mehrere Statements, die die Palästinenser zur
Einigkeit und Versöhnung aufriefen. Diese wurden außerhalb des
Gefängnisses weit verbreitet und mit Bewunderung und Respekt empfangen.
(Mitglieder aus der Großfamilie Barghouti spielen übrigens bei
palästinensischen Angelegenheiten eine größere Rolle. Sie gehören zum
ganzen Spektrum: von moderat bis extrem. Einer von ihnen ist Dr.
Mustafa Barghouti, ein Arzt, der eine moderate palästinensische Partei
mit vielen Kontakten ins Ausland leitet und den ich regelmäßig bei
Demonstrationen in Bilin oder anderswo traf. Einmal scherzte ich, dass
wir immer weinen, wenn wir uns begegnen – wegen des Tränengases. Die
Familie hat ihre Wurzeln in einer Gruppe von Dörfern nördlich von
Jerusalem.)
HEUTE WIRD Marwan Barghouti als zukünftiger Führer von Fatah und als
Präsident der Palästinensischen Behörde nach Mahmoud Abbas angesehen.
Er ist einer der sehr wenigen Persönlichkeiten, der alle
Palästinenser, Fatah wie auch Hamas, vereinigen könnte.
Nach der Gefangennahme des israelischen Soldaten Gilad Shalit, als der
Gefangenen-austausch diskutiert wurde, setzte Hamas Marwan Bargouti an
die erste Stelle der Liste der palästinensischen Gefangenen, deren
Entlassung gefordert wurde. Dies war eine sehr ungewöhnliche Geste, da
Marwan zu der rivalisierenden – und geschmähten – Fraktion gehörte.
Die israelische Regierung strich Marwan sofort von der Liste und blieb
unnachgiebig. Als Shalit schließlich entlassen wurde, blieb Marwan im
Gefängnis. Offensichtlich wurde er als gefährlicher angesehen als
Hunderte von Hamas-Terroristen mit „Blut an ihren Händen“.
Warum?
Zyniker würden sagen: weil er Frieden wünscht. Weil er an der
Zwei-Staaten-Lösung festhält.
Weil er das palästinensische Volk zu diesem Zwecke einigen könnte.
Alles gute Gründe dafür, dass Netanjahu ihn im Gefängnis festhält.
WAS SAGTE Marwan seinem Volk in dieser Woche?
Klar, seine Haltung ist verhärtet. So hat sich vermutlich auch die
Haltung des palästinen-sischen Volkes im Ganzen verhärtet.
Er ruft zu einer 3. Intifada auf, einem gewaltlosen Massenaufstand im
Geist des arabischen Frühlings.
Sein Manifest ist eine klare Ablehnung der Politik von Mahmoud Abbas,
der eine eingeschränkte, aber sehr bedeutende Zusammenarbeit mit den
israelischen Besatzungs-behörden pflegt. Marwan ruft zu einem völligen
Bruch aller Arten von Zusammenarbeit auf, sei es auf wirtschaftlichen,
militärischen oder anderen Gebieten.
Ein Hauptpunkt dieser Zusammenarbeit ist die tägliche Kollaboration
der von Amerikanern ausgebildeten palästinensischen Sicherheitsdienste
mit den israelischen Besatzungskräften.
Diese Vereinbarung hat gewalttätige palästinensische Angriffe in den
besetzten Gebieten und in Israel selbst wirksam gestoppt. Dies
garantiert praktisch die Sicherheit der wachsenden israelischen
Siedlungen in der Westbank.
Marwan ruft auch zu einem totalen Boykott Israels, israelischer
Institutionen und Produkte in den palästinensischen Gebieten und in
aller Welt auf. Die israelischen Produkte sollten in den Läden der
Westbank verschwinden, palästinensische Produkte sollten gefördert werden.
Gleichzeitig befürwortet Marwan ein offizielles Ende der
Scharlatanerie, die „Friedensverhandlungen“ heißt. Dieser Terminus
wird übrigens in Israel nicht mehr gehört. Zunächst wurde er durch
„Friedensprozess“ ersetzt, dann durch „politischer Prozess“ und
zuletzt durch „politische Sache“. Das einfache Wort „Frieden“ ist
unter den Rechten und den meisten Linken zu einem Tabu-Wort geworden.
Es ist politisches Gift.
Marwan schlägt vor, das Nicht-Vorhanden-sein von Friedensverhandlungen
offiziell zu machen. Keine internationalen Gespräche über die
„Wiederbelebung des Friedensprozesses“, kein Herumhasten lächerlicher
Leute wie Tony Blair, keine nichtssagenden Ankündigungen von Hillary
Clinton und Catherine Ashton, keine leeren Erklärungen des
„Quartetts“. Da die israelische Regierung klar die Zwei-Staaten-Lösung
aufgegeben hat – falls sie sie wirklich jemals akzeptiert hat – den
Vorwand aber aufrecht erhält, fügt diese Heuchelei dem
palästinensischen Kampf nur Schaden zu.
Anstelle dieser Heuchelei schlägt Marwan vor, die Schlacht in der UNO
zu erneuern. Zunächst noch einmal den Sicherheitsrat anzurufen, um
Palästina als einen Mitgliedsstaat anzuerkennen und so die USA
herauszufordern, ihr einsames Veto praktisch offen gegen die ganze
Welt zu setzen. Nach der erwarteten Zurückweisung des
palästinensischen Antrages durch die UN -Vollversammlung als Ergebnis
des Veto, wo die große Mehrheit zugunsten Palästinas stimmen würde.
Obwohl dies nicht verpflichtend ist, würde dies demonstrieren, dass
die Freiheit Palästinas die überwältigende Unterstützung der Familie
der Nationen hätte und so Israel (und die USA) sogar noch mehr
isolieren würde.
Parallel zu diesem Aktionskurs besteht Marwan auf palästinensischer
Einheit und nützt seine beträchtliche moralische Kraft aus, um Fatah
und Hamas unter Druck zu setzen.
ZUSAMMENFASSEND hat Marwan Barghouti alle Hoffnung aufgegeben, die
palästinen-sische Freiheit durch Zusammenarbeit mit Israel zu
erreichen oder selbst mit Israels Oppositionskräften. Die israelische
Friedensbewegung wird nicht mehr erwähnt. „Normalisierung“ ist zu
einem Schimpfwort geworden.
All diese Ideen sind nicht neu. Aber wenn dies vom palästinensischen
Gefangenen Nr. 1 kommt, dem wichtigsten Kandidaten für die Nachfolge
von Mahmoud Abbas, dem Helden der palästinensischen Massen, so
bedeutet dies ein Wandel zu einem militanteren Kurs, in der Substanz
und im Ton.
Marwan bleibt friedensorientiert – wie er es bei einem der seltenen
Auftritte vor Gericht kürzlich deutlich gemacht hat: er rief den
israelischen Journalisten zu, dass er weiter die Zwei-Staaten-Lösung
unterstütze. Er bleibe auch bei gewaltloser Aktion, nachdem er zu der
Schlussfolgerung gekommen sei, dass die gewalttätigen Angriffe der
vergangenen Jahre der palästinensischen Sache nur geschadet habe,
statt sie zu fördern.
Er möchte zu einem Stopp des allmählichen und unfreiwilligen
Abgleitens der palästinensischen Behörde in eine Vichy-artige
Kollaboration aufrufen, während die Ausdehnung des israelischen
Siedlungsunternehmens ungestört weitergeht.
NICHT ZUFÄLLIG veröffentlichte Marwan sein Manifest am Vorabend des
„Tags des Bodens“, dem weltweiten Tag des Protestes gegen die Besatzung.
Der „Tag des Bodens“ ist der Jahrestag eines Ereignisses, das 1976 als
Protest gegen die Entscheidung der israelischen Regierung stattfand,
große arabische Ländereien in Galiläa und andern Teilen Israels zu
enteignen. Die israelische Armee und Polizei schossen auf die
Demonstranten und töteten sechs von ihnen. (Am Tag danach legten zwei
meiner Freunde und ich Kränze auf die Gräber der Opfer – eine
Handlung, die mir einen Ausbruch von Hass und Diffamierung von
israelischer Seite einbrachte, wie ich es selten erfahren habe. )
Der Tag des Bodens war ein Wendepunkt für Israels arabische Bürger,
und später wurde es ein Symbol für alle Araber überall. In diesem Jahr
drohte die Netanjahu-Regierung, auf jeden zu schießen, der sich nur
unsern Grenzen nähert. Es könnte ein Auslöser für die 3. Intifada
sein, die von Marwan verlangt wird.
Seit einiger Zeit ist die Welt gegenüber Palästina selbstzufrieden
geworden. Alles scheint ruhig. Netanyahu ist es gelungen, die
Aufmerksamkeit der Welt von Palästina auf den Iran zu lenken. Aber in
diesem Land steht nichts still. Während es so aussieht, als geschähe
nichts, wachsen die Siedlungen unaufhörlich. Und so wächst der Groll
der Palästinenser, die dies mit eigenen Augen sehen.
Marwan Bargouthis Manifest drückt das beinah einmütige Gefühl der
Palästinenser in der Westbank und anderswo aus. Wie Nelson Mandela in
der Apartheid Südafrika kann der Mann im Gefängnis bedeutender sein
als die Führer außerhalb.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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