[E-rundbrief] Info 1032 - Avnery Uri - Soziale Protest-Zelt-Staedte in Israel
Matthias Reichl
info at begegnungszentrum.at
Mo Aug 8 17:03:46 CEST 2011
E-Rundbrief - Info 1032 - Uri Avnery (Israel): „Wie fein sind Deine
Zelte“. (Soziale Protest-Zelt-Staedte in Israel).
Bad Ischl, 8.8.2011
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
================================================
„Wie fein sind Deine Zelte“
Uri Avnery
6.8.2011
ALS ERSTES eine Warnung.
Zeltstädte entstehen überall in Israel. Eine soziale Protestbewegung
kommt in Gang. Irgendwann in naher Zukunft kann sie die rechte
Regierung gefährden.
Zu diesem Zeitpunkt wird es eine Versuchung geben – vielleicht eine
unwiderstehliche Versuchung – die „Grenzen brenzlig werden zu lassen“.
einen niedlichen kleinen Krieg zu beginnen. Die Jugend Israels
aufzurufen, die selben jungen Leute, jungen Männer und Frauen, die
jetzt in den Zelten leben, um das Vaterland zu verteidigen.
Nichts ist leichter als das. Eine kleine Provokation, ein Zug Soldaten
überquert die Grenze, „um das Abfeuern von Granaten zu verhindern“,
ein Schusswechsel, eine Salve Raketen – und siehe da, ein Krieg. Ende
des Protestes.
Im September, nur wenige Wochen von jetzt an, beabsichtigen die
Palästinenser, sich an die UN zu wenden, um einen Antrag zu stellen,
den Staat Palästina anzuerkennen. Unsere Politiker und Generäle leiern
unisono, dies werde eine Krise verursachen - die Palästinenser in den
besetzten Gebieten können sich protestierend gegen die Besatzung
erheben, gewalttätige Demonstrationen können folgen, die Armee wird
gezwungen sein zu schießen – und siehe da, ein Krieg. Ende des Protestes.
VOR DREI Wochen wurde ich eines Morgens von einer holländischen
Journalistin interviewt. Am Ende fragte sie mich: Sie beschreiben eine
schreckliche Situation. Die extrem Rechten kontrollieren die Knesset
und diese erlässt abscheuliche, anti-demokratische Gesetze. Die
Menschen sind gleichgültig und apathisch. Es gibt keine Opposition,
über die man reden könnte. Und trotzdem strahlen Sie Optimismus aus.
Wie kommt das?
Ich antwortete, ich hätte Vertrauen zum israelischen Volk. Im
Gegensatz zum äußeren Erscheinungsbild sind wir ein vernünftiges Volk.
Irgendwann, irgendwo wird sich eine neue Bewegung erheben und die
Situation verändern. Es kann in einer Woche, in einem Monat oder in
einem Jahr geschehen. Aber sie wird kommen.
Am selben Tag, nur ein paar Stunden später sagte eine junge Frau mit
Namen Daphni Liff und einem unwahrscheinlichen Männerhut über ihrem
Haar zu sich selbst: „Genug!“
Sie war von ihrer Vermieterin rausgeworfen worden, weil sie sich die
Miete nicht leisten konnte. Sie stellte ein Zelt im
Rothshild-Boulevard auf, einer langen mit Bäumen bepflanzten
Durchfahrtsstraße im Zentrum Tel Avivs. Die Botschaft verbreitete sich
durch Facebook, und innerhalb einer Stunde wurden Dutzende von Zelten
errichtet. Innerhalb einer Woche waren es schon 400 Zelte, die sich in
einer Doppelreihe länger als eine Meile lang erstreckten.
Ähnliche Zeltstädte wuchsen in Jerusalem, Haifa und einem Dutzend
kleineren Städten hoch. Am Samstag schlossen sich Zehntausende einem
Protestmarsch in Tel Aviv und anderswo an. Am letzten Samstag waren es
mehr als 150 000.
Inzwischen sind sie zum Mittelpunkt des israelischen Lebens geworden.
Die Rothshild-Zeltstadt hat ein eigenes Leben angenommen – eine
Kreuzung zwischen Tahrirplatz und Woodstock mit ein wenig Hyde
Park-Ecke mittendrin.
Die Stimmung ist unbeschreiblich optimistisch; Massen von Leuten
kommen sie besuchen und gehen voller Enthusiasmus und Hoffnung heim.
Jeder hat das Gefühl, dass irgend etwas Bedeutendes geschieht.
Als ich die Zelte sah, erinnerte mich das an die Worte Bileams, der
vom König Moab gesandt wurde, um die Kinder Israels in der Wüste zu
verfluchen (4.Moses 24) und stattdessen rief er aus: „ Wie fein sind
Deine Zelte, oh Jakob, und deine Wohnungen, Israel!“
ALL DIES begann in einer kleinen fernen Stadt in Tunesien, als ein
Markthändler ohne Lizenz auf dem Markt von einer Polizistin verhaftet
wurde. Anscheinend gab die Frau bei der folgenden Auseinandersetzung
dem Mann eine Ohrfeige – eine schreckliche Demütigung für einen
tunesischen Mann. Er zündete sich an. Was dann folgte, ist Geschichte:
die Revolution in Tunesien, Regimewechsel in Ägypten, Aufstände im
ganzen Nahen Osten.
Die israelische Regierung sah dem mit wachsender Sorge zu – aber sie
konnte sich nicht vorstellen, dass dies auch eine Wirkung auf Israel
haben könnte. Von der israelischen Gesellschaft mit ihrer üblichen
Verachtung gegenüber Arabern konnte kaum erwartet werden, dass sie dem
Beispiel folgen würde.
Aber sie folgte dem Beispiel. Die Leute auf den Straßen sprachen mit
zunehmender Bewunderung von den arabischen Revolten. Sie zeigten, dass
wenn Leute gemeinsam handeln, sie es auch wagen, sich gegen die Führer
zu stellen, die bei weitem ängstlicher sind als unser herumwurstelnder
Binyamin Netanyahu.
Einige der populärsten Poster auf den Zelten waren „Rothshild Ecke
Tahrir“ und mit hebräischem Reim „Tahrir – nicht nur Kahir“ (Kahir ist
die hebräische Version von al-Kahira, der arabische Name für Stadt.)
und auch „Mubarak, Assad, Netanyahu.“
Am Tahrir-Platz war der wichtigste Slogan: „Das Volk will das Regime
stürzen“. Absichtlich sehr ähnlich heißt der wichtigste Slogan in den
Zeltstädten: „Das Volk wünscht soziale Gerechtigkeit!“
WER SIND diese Leute? Was wollen sie?
Es begann mit einer Forderung nach „erschwinglichen Wohnungen“. Die
Mieten in Tel Aviv, Jerusalem und anderswo sind extrem hoch, auf Grund
der jahrelangen Vernachlässigung durch die Regierung. Doch bald
erweiterte sich der Protest auf anderes: die hohen Preise von
Nahrungsmitteln und Benzin, die niedrigen Löhne. Die lächerlich
niedrigen Gehälter von Ärzten und Lehrern; die Verschlechterung der
Dienste im Bildungs- und Gesundheitswesen.
Es gibt ein allgemeines Gefühl, dass 18 Magnaten alles kontrollieren,
einschließlich der Politiker. (Politiker, die es wagen, sich in den
Zeltstädten zu zeigen, werden weggejagt.) Sie könnten einen Amerikaner
zitieren, der sagte: „Demokratie muss mehr sein als zwei Wölfe und ein
Schaf, die abstimmen, was sie zum Mittagessen haben werden.“
Eine Auswahl von Slogans gibt einen Eindruck:
Wir wünschen einen Sozialstaat.
Kampf um die Wohnung.
Gerechtigkeit, nicht Barmherzigkeit.
Wenn die Regierung gegen das Volk ist, dann ist das Volk gegen die
Regierung.
Bibi, dies ist nicht der US-Kongress, du wirst uns nicht mit leeren
Worten kaufen.
Wenn ihr euch nicht unserm Krieg anschließt, dann werden wir nicht in
euren Kriegen kämpfen.
Gib uns unsern Staat zurück.
Drei Partner mit drei Gehältern können drei Räume nicht bezahlen.
Sei praktisch, verlange das Unmögliche.
Die Antwort auf Privatisierung: Revolution.
Wir waren in Ägypten Sklaven - in Israel sind wir Bibis Sklaven. –
Ich habe keine andere Heimat.
Bibi, geh heim, wir werden dir das Benzin zahlen.
Stürzt den Schweine-Kapitalismus.
WAS FEHLT in dieser Reihe von Slogans? Natürlich die Besatzung, die
Siedlungen, die riesigen Ausgaben für das Militär.
Dies geschieht mit Absicht. Die Organisatoren, anonyme junge Männer
und Frauen – hauptsächlich Frauen – sind sehr entschlossen, nicht als
„Linke“ gebrandmarkt zu werden. Sie wissen, wenn die Besatzung genannt
wird, würde dies Netanyahu eine leichte Waffe liefern, die
Zeltbewohner spalten und die Proteste scheitern lassen.
Wir in der Friedensbewegung wissen und respektieren dies. Wir alle
üben strenge Zurückhaltung, damit Netanyahu es nicht gelingt, die
Bewegung an den Rand zu drücken und sie als Plot herauszupicken, die
die rechte Regierung stürzen will.
Wie ich in einem Artikel in Haaretz schrieb: es ist nicht nötig, die
Demonstranten zu stoßen. Zu gegebener Zeit werden sie selbst zu der
Schlussfolgerung kommen, dass das Geld für die größeren Reformen, die
sie fordern, nur durch den Baustopp der Siedlungen kommen kann und
einer Kürzung des riesigen Militärbudgets von Hunderten von Milliarden
– und dass dies nur im Frieden möglich ist. (Um ihnen zu helfen,
veröffentlichten wir ein großes Inserat, das sagte: „ Es ist ganz
einfach – Geld für die Siedlungen ODER Geld für Wohnungen,
Gesundheits- und Bildungsdienste“)
Voltaire sagte: „Die Kunst der Regierung besteht darin, soviel wie
möglich Geld von der einen Klasse Bürger zu nehmen und dieses der
anderen zu geben.“ Diese Regierung nimmt das Geld von anständigen
Bürgern und gibt es den Siedlern.
WER SIND diese begeisterten Demonstranten, die anscheinend von
nirgendwoher kamen?
Sie sind die junge Generation der Mittelklasse, die arbeiten gehen und
ein durchschnittliches Gehalt mit nach Hause bringen, das aber nicht
bis zum Monatsende reicht. Mütter, die nicht arbeiten gehen können,
weil sie ihre Babys nirgendwo unterbringen können.
Universitätsstudenten, die keinen Raum in einem Dormitorium haben und
sich kein Zimmer in der Stadt leisten können. Und besonders junge
Leute, die heiraten wollen und sich keine Wohnung kaufen können, nicht
einmal mit Hilfe ihrer Eltern. (An einem Zelt konnte man lesen: „Sogar
dieses Zelt wurde von unsern Eltern bezahlt“.)
All dies bei einer blühenden Wirtschaft, der die Pein der weltweiten
wirtschaftlichen Krise erspart blieb und die sich rühmt, eine
beneidenswerte Arbeitslosenrate von nur 5% zu haben.
Wenn man sie bedrängen würde, würden die meisten Demonstranten sich
selbst als „Sozial-Demokraten“ bezeichnen. Sie sind das ganze
Gegenteil der Tea-Party in den USA: Sie wünschen einen Wohlfahrtstaat,
sie geben der Privatisierung die Schuld für ihre Nöte, sie wollen,
dass die Regierung sich einmischt und handelt. Ob sie es zugeben
wollen oder nicht, das Wesentliche ihrer Forderungen und ihrer Haltung
ist klassisch links. (der Terminus wurde in der Französischen
Revolution geschaffen, weil die Anhänger dieser Ideale auf der linken
Seite des Präsidenten der Nationalversammlung saßen.) sie sind das
Wesen dessen, was man mit Links meint – (Obgleich die Termini „Linke“
und „Rechte“ in Israel bis jetzt weitgehend mit Fragen von Krieg und
Frieden identifiziert worden sind.)
WOHIN WERDEN wir von hier aus gehen?
Niemand kann es sagen. Als Tschu Enlai nach der Auswirkung der
Französischen Revolution gefragt wurde, sagte er das berühmte Wort:
„Es ist zu früh, darüber etwas zu sagen.“ Hier sind wir Zeugen eines
Ereignisses, das noch im Gange ist, vielleicht gar erst beginnt.
Es hat schon einen riesigen Wandel geschaffen. Seit Wochen haben die
Öffentlichkeit und die Medien aufgehört, über Grenzen, die iranische
Bombe und die Sicherheitssituation zu sprechen. Stattdessen wird jetzt
fast nur über die soziale Situation, den geringen Lohn, die
Ungerechtigkeit der indirekten Steuern, die Krise im Wohnungsbau
gesprochen.
Unter Druck hat die strukturlose Führung des Protestes eine Liste von
konkreten Forderungen zusammengestellt. Unter anderem: das Bauen von
Miethäusern durch die Regierung, Steuern von den Reichen und von
Körperschaften, kostenlose Erziehung ab dem Alter von drei Monaten,
Erhöhung des Gehaltes von Ärzten, Polizisten und Feuerwehrleuten,
Schulklassen sollten nicht mehr als 21 Schüler haben, Monopole die von
wenigen Magnaten kontrolliert werden, sollten gebrochen werden usw.
Also wohin geht es von hier? Es gibt viele Möglichkeiten, gute und
schlechte.
Netanyahu kann versuchen, mit einigen kleineren Konzessionen den
Protest zu bestechen – einige Milliarden hier, einige Milliarden dort.
Dies wird die Demonstranten vor die Wahl des kleinen indischen Jungen
im berühmten Film stellen, der ein Millionär werden wollte: das Geld,
das er schon gewonnen hatte, nehmen oder alles riskieren und noch eine
andere Frage beantworten.
Oder: die Bewegung fährt fort und gewinnt an Fahrt und erzwingt
größere Veränderungen, um die Bürde zu verändern: statt indirekte
direkte Steuern.
Einige verrückte Optimisten (wie ich) mögen sogar vom Auftauchen einer
neuen authentischen politischen Partei träumen, die die klaffende
Leere auf der linken Seite des politischen Spektrums füllt.
ICH BEGANN mit einer Warnung, und ich sollte mit einer anderen enden:
Diese Bewegung hat riesige Hoffnungen geweckt. Wenn sie fehl schlägt,
wird sie eine Atmosphäre der Mutlosigkeit und Verzweiflung
hinterlassen – eine Stimmung, die jene, die es können , hinaustreiben,
um woanders ein besseres Leben zu versuchen.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
http://www.uri-avnery.de/news/149/17/Wie-fein-sind-deine-Zelte
--
Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
Center for Encounter and active Non-Violence
Wolfgangerstr. 26, A-4820 Bad Ischl, Austria,
fon: +43 6132 24590, Informationen/ informations,
Impressum in: http://www.begegnungszentrum.at
Spenden-Konto Nr. 0600-970305 (Blz. 20314) Sparkasse Salzkammergut,
Geschäftsstelle Pfandl
IBAN: AT922031400600970305 BIC: SKBIAT21XXX
--
Ausgezeichnet mit dem (österr.) "Journalismus-Preis von unten 2010"
Honoured by the (Austrian) "Journalism-Award from below 2010"
Mehr Informationen über die Mailingliste E-rundbrief