[E-rundbrief] Info 987 - Uri Avnery - Tsunami in Aegypten

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
Mo Feb 14 17:48:09 CET 2011


E-Rundbrief - Info 987 - Uri Avnery (Israel): Tsunami in Ägypten

Bad Ischl, 14.2.2011

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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Tsunami in Ägypten

Uri Avnery

12. Februar 2011

BIS ZUM letzten Augenblick versuchte die israelische Führung, Hosni
Mubarak an der Macht zu halten.
Es war hoffnungslos. Sogar die mächtigen Vereinigten Staaten waren
machtlos, als sie sich diesem Tsunami, einer Volksempörung,
gegenübersahen.

Am Ende kam es zum zweitbesten Ergebnis für Amerika: eine
pro-westliche Militärdiktatur. Aber wird dies wirklich das Endresultat
sein?


WENN OBAMA einer neuen Situation gegenüber steht, ist seine erste
Reaktion gewöhnlich wunderbar.

Dann hat er es sich anscheinend anders überlegt. Und drittens. Und
viertens. Das Endergebnis ist eine Wendung um 180 Grad.

Als sich die Massen auf dem Tahrir-Platz versammelten, reagierte er
genau wie jeder anständige Mensch in den USA und in der ganzen Welt.
Da gab es grenzenlose Bewunderung für diese tapferen jungen Männer und
Frauen, die der gefürchteten „Muhabarat“ (Geheimpolizei) gegenüber
standen und Demokratie und Menschenrechte forderten.

Wie sollte man sie nicht bewundern? Sie waren nicht gewalttätig; ihre
Forderungen waren vernünftig; ihre Aktionen waren spontan;
offensichtlich drückten sie die Gefühle der großen Mehrheit der
Menschen aus. Ohne eine nennenswerte Organisation, ohne Führung. Sie
sagten und taten genau das Richtige.

Solch ein Anblick ist selten in der Geschichte. Keine Sansculottes
(wie in der Französischen Revolution), die nach Blut schreien, keine
gefühlskalten Bolschewiken, die im Schatten lauern, die keine
Ayatollahs diktieren Taten im Namen Gottes.

Obama liebte es. Er versteckte seine Gefühle nicht. Er rief praktisch
den Diktator dazu auf, aufzugeben und zu verschwinden.

Wenn Obama bei diesem Kurs geblieben wäre, könnte das Ergebnis
historisch gewesen sein. Die USA, die in der arabischen Welt am
meisten gehasste Macht, hätten die arabischen Massen, den muslimischen
Raum, ja, tatsächlich einen großen Teil der sogenannten 3. Welt
elektrisiert. Es hätte der Anfang eines vollkommen neuen Zeitalters
sein können.

Ich glaube, dass Obama genau dies fühlte. Seine ersten Instinkte sind
immer richtig. In solch einer Situation zeigt sich, wer ein wirklicher
Führer ist.


ABER DANN kamen andere Überlegungen. Kleine Leute begannen ihn zu
bearbeiten. Politiker, Generäle, ‚Sicherheitsexperten’, Diplomaten,
Pundits, (Besserwisser), Lobbyisten, Geschäftsführer, all die
‚erfahrenen’ Leute – erfahren in Routineangelegenheiten – begannen,
sich einzuschalten. Und natürlich die unglaublich mächtige Israel-Lobby.

„Bist Du verrückt?“ – sagten sie ihm. Einen Diktator aufgeben, der
unser Hurensohn ist? All unseren Diktatoren in aller Welt zu sagen,
dass wir sie in ihrer Stunde der Not im Stich lassen?

Wie naiv kann man sein? Demokratie in einem arabischen Land? Dass wir
nicht lachen! Wir kennen die Araber. Man zeigt ihnen Demokratie auf
einem Silberteller, und sie sind nicht in der Lage, diese von
gebackenen Bohnen zu unterscheiden. Sie brauchen immer einen Diktator.
Speziell diese Ägypter! Frag die Engländer!

Die ganze Sache ist wirklich eine Verschwörung der Muslimbruderschaft.
Schau sie dir bei Google an! Sie sind die einzige alternative Kraft.
Entweder Mubarak oder sie. Sie sind die ägyptischen Taliban, noch
schlimmer: die ägyptischen el-Qaida. Hilf den wohlmeinenden
Demokraten, das Regime zu stürzen, und man hat einen zweiten Iran mit
einem ägyptischen Ahmadinejad an Israels Südgrenze, dem sich dann
Hisbollah und Hamas anschließen. Die Dominosteine werden anfangen, zu
fallen und mit Jordanien und Saudi Arabien beginnen

Während Obama sich all diesen Experten gegenüber sah, knickte er ein.


NATÜRLICH KANN jeder einzelne Punkt dieser Argumente leicht widerlegt
werden.

Beginnen wir mit dem Iran. Die naiven Amerikaner – heißt es – gaben
den Schah und seine in Israel trainierte Geheimpolizei auf, um
Demokratie einzuführen, aber die Revolution wurde von den Ayatollahs
übernommen. Eine grausame Diktatur wurde von einer noch grausameren
abgelöst. Dies ist es, was Binyamin Netanyahu in dieser Woche sagte,
um davor zu warnen, dass dasselbe jetzt in Ägypten geschehen würde.

Aber die wahre iranische Geschichte ist völlig anders.

1951 wurde ein patriotischer Politiker mit Namen Mohammad Mossadegh in
demokratischen Wahlen gewählt – die erste ihrer Art im Iran.
Mossadegh, weder ein Kommunist noch ein Sozialist, führte drastische
soziale Reformen ein, befreite die Bauern und arbeitete kräftig daran,
den rückständigen Iran in einen modernen, demokratischen, säkularen
Staat zu verwandeln. Um dies zu ermöglichen, verstaatlichte er die
Erdölindustrie, die einer habgierigen britischen Gesellschaft gehörte,
die dem Iran lächerliche Tantiemen zahlte. Riesige Demonstrationen in
Teheran unterstützten Mossadegh.

Die britische Reaktion war schnell und entschlossen. Winston Churchill
überzeugte Präsident Dwight Eisenhower, dass Mossadeghs Kurs zum
Kommunismus führen würde. 1953 organisierte der CIA einen
Staatsstreich, Mossadegh wurde verhaftet und bis zu seinem Tod 14
Jahre später in Isolationshaft gehalten; die Briten bekamen das Öl
zurück. Der Schah, der geflohen war, wurde wieder auf seinen Thron
gesetzt. Sein Terrorregime dauerte bis zur Khomeini-Revolution 26
Jahre später.

Ohne diese amerikanische Intervention hätte der Iran sich
wahrscheinlich in eine säkulare, liberale Demokratie entwickelt. Kein
Khomeini. Kein Achmadinejad. Kein Gerede über Atombomben.


NETAYAHUS WARNUNGEN vor der unvermeidlichen Übernahme Ägyptens durch
die fanatische Muslim-Bruderschaft, falls demokratische Wahlen
abgehalten würden, klingen logisch, aber sie gründen sich ebenfalls
auf Ignoranz.

Würden die Muslim-Bruderschaft an die Macht kommen? Sind sie
talibanartige Fanatiker?

Die Bruderschaft wurde vor 80 Jahren gegründet, lange bevor Obama und
Netanyahu geboren wurden. Sie sind im Laufe der Zeit reifer geworden –
mit einem moderaten Flügel, sehr ähnlich der moderaten, demokratisch
islamischen Partei, die die Türkei so gut regiert und die ihr Vorbild
ist. In einem demokratischen Ägypten würden sie eine legitime Partei
darstellen und am demokratischen Prozess teilnehmen.

(Dies wäre übrigens auch in Palästina geschehen, als die Hamas gewählt
wurde – wenn die Amerikaner unter israelischer Führung die
Einheitsregierung, die sie errichtet hatte, nicht gestürzt und die
Hamas auf einen anderen Kurs gebracht hätte.)

Die Mehrheit der Ägypter ist religiös, aber ihr Islam ist weit
entfernt von der radikalen Art. Es gibt keine Anzeichen, dass die
Mehrheit des Volkes, die durch die jungen Leute auf dem Tahrir-Platz
vertreten wird, ein radikales Regime tolerieren würde. Der islamische
„schwarze Mann“ ist gerade das – ein „schwarzer Mann“.


WAS hat Obama nun tatsächlich getan ? Seine Schritte waren erbärmlich
– um es milde auszudrücken.

Nachdem er sich am Anfang gegen Mubarak gewandt hatte, meinte er
plötzlich, er müsse doch an der Macht bleiben, um demokratische
Reformen einzuleiten. Da sein Vertreter, den er nach Ägypten sandte,
ein Diplomat i.R. ist, dessen augenblicklicher Arbeitgeber eine
Anwaltsfirma ist, die die Mubarakfamilie vertritt – so wie Bill
Clinton einen engagierten jüdischen Zionisten zu senden pflegte, um
zwischen engagierten jüdischen Zionisten und den Palästinensern zu
„vermitteln“.

Der verabscheute Diktator soll also die Demokratie einführen, eine
neue liberale Verfassung erlassen, genau mit den Leuten zusammen
arbeiten, die er ins Gefängnis geworfen hat und die systematisch
gefoltert wurden.

Mubaraks erbärmliche Rede am Donnerstagabend war der Strohhalm, der
dem ägyptischen Kamel den Rücken brach. Sie zeigte, dass er jeden
Kontakt mit der Realität verloren hatte oder noch schlimmer, geistig
gestört ist. Aber selbst ein verwirrter Diktator würde nicht solch
eine blöde Rede gehalten haben, wenn er nicht geglaubt hätte, dass
Amerika noch auf seiner Seite ist. Die Schreie der Empörung auf dem
Platz, während Mubaraks aufgezeichnete Rede noch ausgestrahlt wurde,
waren Ägyptens Antwort. Dazu waren keine Interpreten nötig.

Aber Amerika hatte sich schon bewegt. Sein Hauptinstrument in Ägypten
ist die Armee. Es ist die Armee, die jetzt den Schlüssel für die
nächste Zukunft hält. Als der „Oberste Militärrat“ am Donnerstag
zusammen kam - kurz vor jener skandalösen Rede - ein „Kommunique Nr.1“
veröffentlichte, war Hoffnung mit einem unguten Gefühl verbunden.

„Kommunique Nr.1“ ist in der Geschichte ein wohlbekannter Begriff. Er
bedeutet, dass eine Militärjunta die Macht übernommen hat, die
gewöhnlich Demokratie, baldige Wahlen, Wohlstand und den Himmel auf
Erden verspricht. In sehr seltenen Fällen erfüllen die Offiziere diese
Versprechen. Aber im Allgemeinen folgt eine Militärdiktatur der
schlimmsten Sorte.

Dieses Mal sagte die Erklärung gar nichts aus. Es zeigte im Fernsehen
nur, dass sie da waren – alle leitenden Generäle minus Mubarak und
seinen Handlanger Omar Suleiman.

Jetzt haben sie die Macht übernommen. Ruhig, ohne Blutvergießen. Das
2. Mal innerhalb von 60 Jahren.


ES LOHNT sich, sich an das erste Mal zu erinnern. Nach einer Periode
voller Unruhen gegen die britischen Besatzer führte eine Gruppe junger
Offiziere, (Veteranen des 1948er Israel-Arabischen Krieges), die sich
hinter einem älteren General verbargen, einen Staatsstreich aus. Der
verachtete Herrscher, König Faruk, wurde vertrieben. Er verließ mit
seiner Jacht Alexandria. Nicht ein Tropfen Blut wurde vergossen.

Die Menschen jubelten. Sie liebten die Armee und den Staatsstreich.
Aber es war eine Revolution von oben. Keine Menschenmengen befanden
sich auf dem Tahrir-Platz.

Die Armee versuchte zuerst, durch zivile Politiker zu regieren. Sie
verloren bald die Geduld mit ihnen. Ein charismatischer junger
Oberstleutnant, Gamal Abd-al-Nasser, tauchte als Führer auf, führte
umfassende Reformen ein, stellte die Ehre Ägyptens und der ganzen
arabischen Welt wieder her – und gründete die Diktatur, die gestern
ihr Leben aushauchte.

Wird die Armee diesem Beispiel folgen oder wird sie das tun, was die
türkische Armee mehrfach getan hat: die Macht ergreifen und diese in
eine gewählte zivile Regierung übergeben ?

Vieles hängt von Obama ab. Wird er den Schritt zur Demokratie
unterstützen, wie es seiner Neigung zweifellos entspricht, oder wird
er auf die „Experten“ – einschließlich der Israelis - hören, die ihn
drängen, sich auf eine Militärdiktatur zu verlassen, wie es
amerikanische Präsidenten bis jetzt getan haben.

Aber die Chance der USA und Barack Obamas persönlich, die Welt vor 19
Tagen in einem historischen Augenblick durch eine großartige Führung
zu leiten, ist versäumt worden. Die schönen Worte verpufften.

Für Israel ist es eine andere Lektion. Als die „freien Offiziere“ 1952
ihre Revolution in Ägypten durchführten, erhob sich in ganz Israel nur
eine einzige Stimme (und zwar die von Haolam Hazeh, des
Nachrichtenmagazins, das ich damals herausgab), die die israelische
Regierung dazu aufrief, sie zu unterstützen. Die Regierung tat das
Gegenteil, und eine historische Chance, Solidarität mit dem
ägyptischen Volk zu zeigen, war vertan.

Jetzt fürchte ich, dass dieser Fehler wiederholt wird. Der Tsunami
wird in Israel als eine erschreckende Naturkatastrophe gesehen, nicht
als eine wunderbare große Gelegenheit.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

http://www.uri-avnery.de/news/124/15/Tsunami-in-aegypten

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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
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