[E-rundbrief] Info 986 - Uri Avnery - Aufstand in Aegypten

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
Di Feb 8 12:41:29 CET 2011


E-Rundbrief - Info 986 - Uri Avnery (Israel): Eine Villa im Dschungel. 
(Solidarität mit dem gewaltfreien Aufstand in Ägypten.)

Bad Ischl, 8.2.2011

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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Der Frieden zwischen Israel und Palästina ist möglich !!

Feb 5, 2011

Eine Villa im Dschungel

WIR SIND inmitten eines geologischen Geschehens. Ein Erdbeben von
historischen Dimensionen verändert die Landschaft unserer Region.
Berge werden zu Tälern, Inseln tauchen aus dem Meer auf, Vulkane
bedecken das Land mit Lava.

Die Menschen fürchten sich vor der Veränderung. Wenn dies geschieht,
neigen sie dazu, dies zu leugnen, zu ignorieren, geben vor, dass
nichts wirklich Bedeutendes geschieht.

Die Israelis sind hier keine Ausnahme. Während im benachbarten Ägypten
erderschütternde Dinge geschehen, war Israel mit einem Skandal in den
oberen Rängen der Armee beschäftigt. Der Verteidigungsminister
verabscheut den amtierenden Stabschef und macht daraus kein Geheimnis.
Der mutmaßlich neue Chef wurde als Lügner enthüllt, und seine
Ernennung wurde zurückgezogen. Das waren die Schlagzeilen.

Aber was jetzt in Ägypten geschieht, wird unser Leben verändern.


Eine Villa im Dschungel

Uri Avnery

WIR SIND inmitten eines geologischen Geschehens. Ein Erdbeben von
historischen Dimensionen verändert die Landschaft unserer Region.
Berge werden zu Tälern, Inseln tauchen aus dem Meer auf, Vulkane
bedecken das Land mit Lava.

Die Menschen fürchten sich vor der Veränderung. Wenn dies geschieht,
neigen sie dazu, dies zu leugnen, zu ignorieren, geben vor, dass
nichts wirklich Bedeutendes geschieht.

Die Israelis sind hier keine Ausnahme. Während im benachbarten Ägypten
erderschütternde Dinge geschehen, war Israel mit einem Skandal in den
oberen Rängen der Armee beschäftigt. Der Verteidigungsminister
verabscheut den amtierenden Stabschef und macht daraus kein Geheimnis.
Der mutmaßlich neue Chef wurde als Lügner enthüllt, und seine
Ernennung wurde zurückgezogen. Das waren die Schlagzeilen.

Aber was jetzt in Ägypten geschieht, wird unser Leben verändern.

WIE GEWÖHNLICH sah es keiner voraus. Der viel gefeierte Mossad war
total überrascht, genau wie der CIA und all die anderen gefeierten
Dienste dieser Art.

Doch sollte es überhaupt keine Überraschung gewesen sein – abgesehen
von der unglaublichen Wucht des Ausbruchs. In den letzten Jahren haben
wir viele Male hier erwähnt, dass in der ganzen arabischen Welt eine
Menge junger Leute heranwächst, die eine tiefe Verachtung für ihre
Führer hat, und dass es früher oder später zu einem Aufstand kommen
werde. Dies waren keine Prophezeiungen, sondern eher eine nüchterne
Analyse von Wahrscheinlichkeiten.

  Der Aufstand in Ägypten wurde durch wirtschaftliche Faktoren
bestimmt: die wachsenden Lebenskosten, die Armut, die
Arbeitslosigkeit, die Hoffnungslosigkeit der gebildeten jungen Leute.
Aber lassen wir kein Missverständnis aufkommen: die zu Grunde
liegenden Ursachen liegen viel tiefer. Sie können mit einem Wort
zusammengefasst werden: Palästina.

In der arabischen Kultur ist nichts bedeutsamer als die Ehre. Die
Menschen können Not ertragen, aber keine Demütigungen.

Was jeder junge Araber von Marokko bis Oman täglich sah, war , dass
seine Führer sich demütigten, indem sie die palästinensischen Brüder
im Stich ließen, um Gunst und Geld von Amerika zu erhalten. Sie
kollaborierten mit der israelischen Besatzung und katzbuckelten vor
den neuen Kolonialherren. Dies war für junge Leute zu tiefst
demütigend, die mit den Errungenschaften der arabischen Kultur
vergangener Zeiten und dem Ruhm früherer Kalifen aufgewachsen sind.

Nirgendwo war der Ehrverlust offensichtlicher als in Ägypten, das
offen mit der israelischen Führung kollaboriert, in dem es die
schändliche Blockade über den Gazastreifen verhängt und so 1,5
Millionen Araber der Unterernährung und Schlimmerem preisgibt. Es war
niemals nur eine israelische Blockade, sondern eine
israelisch-ägyptische, die mit 1,5 Milliarden US-Dollar pro Jahr
geschmiert wurde.

Ich habe viele Male – laut – darüber nachgedacht, wie ich mich als
15-jähriger Junge in Alexandria, Amman oder Aleppo fühlen würde, wenn
ich meine Führer sehe, wie sie sich wie unterwürfige Sklaven der
Amerikaner und Israelis benehmen, während sie ihre eigenen Untertanen
unterdrücken und ausplündern. In diesem Alter schloss ich mich einer
terroristischen Organisation an. Warum sollte ein arabischer Junge
anders sein?

Ein Diktator kann toleriert werden, wenn er die nationale Würde
reflektiert. Aber ein Diktator, der nationale Schande ausdrückt, ist
ein Baum ohne Wurzeln – ein starker Wind wird ihn zu Fall bringen.

Für mich gab es nur die Frage, wo es in der arabischen Welt anfangen
würde. Ägypten – wie auch Tunesien – standen unten auf der Liste. Doch
genau hier in Ägypten findet die große arabische Revolution statt.

DIES IST ein Wunder für sich selbst. Wenn Tunesien ein kleines Wunder
war, so ist dies ein großes.

Ich liebe das ägyptische Volk. Es stimmt zwar, dass man nicht 88
Millionen Individuen wirklich lieben kann, aber man kann sicher ein
Volk mehr als ein anderes lieben. In dieser Hinsicht ist es einem
erlaubt, zu verallgemeinern.

Die Ägypter, die man auf den Straßen trifft, in den Häusern der
intellektuellen Elite und in den Gassen der Ärmsten der Armen sind
eine unglaublich geduldige Gesellschaft. Sie sind mit einem
unverwüstlichen Gespür für Humor ausgestattet. Sie sind auch
unheimlich stolz auf ihr Land und seine 8000 jährige Geschichte.

Für einen Israeli, der an seine aggressiven Landsleute gewöhnt ist,
ist das fast vollkommene Fehlen von Aggressivität bei den Ägyptern
erstaunlich. Ich erinnere mich noch lebhaft an eine besondere Szene:
ich saß in einem Taxi in Kairo, als dieses mit einem anderen
zusammenstieß. Beide Fahrer stiegen aus und verfluchten einander mit
schrecklichen Ausdrücken. Und dann hielten beide plötzlich inne und
brachen in ein Gelächter aus.

Wenn ein Europäer nach Ägypten kommt, mag er dieses oder hasst es. In
dem Augenblick, in dem du auf ägyptischem Boden landest, verliert die
Zeit ihren tyrannischen Druck. Alles wird gelassen, alles ist
durcheinander, doch in wunderbarer Weise löst sich alles von alleine
auf. Geduld ist grenzenlos. Dies mag einen Diktator täuschen. Weil die
Geduld plötzlich ein Ende haben kann.

Es ist wie ein defekter Deich an einem Fluss. Das Wasser steigt kaum
wahrnehmbar und geräuschlos hinter dem Deich – aber wenn es einen
kritischen Punkt erreicht, bricht der Deich und überschwemmt alles.

MEINE EIGENE erste Begegnung mit Ägypten war wie ein Rausch. Nach
Anwar Sadats beispiellosem Besuch in Jerusalem eilte ich nach Kairo.
Ich hatte kein Visum. Ich werde niemals den Moment vergessen, in dem
ich meinen israelischen Pass dem korpulenten Beamten am Flughafen
reichte. Er blätterte ihn durch und wurde immer verwirrter – und dann
hob er seinen Kopf mit einem breiten Lächeln und sagte „Marhaba!“,
„Herzlich Willkommen!“ Zu diesem Zeitpunkt waren wir die einzigen drei
Israelis in der riesigen Stadt, und wir wurden wie Könige gefeiert.
Beinahe erwarteten wir, jeden Augenblick auf die Schultern der Leute
gehoben zu werden. Frieden lag in der Luft, und die Menschenmassen
Ägyptens liebten dies.

Es dauerte nur ein paar Monate, bis sich dies zu tiefst veränderte.
Sadat hoffte - und glaubte ehrlich – dass er auch den Palästinensern
Befreiung gebracht hat. Unter intensivem Druck von Seiten Menachem
Begins und Jimmy Carters stimmte er einer vagen Formulierung zu. Bald
danach merkte er, dass Begin nicht im Traume daran dachte, sein
Versprechen zu erfüllen. Für Begin war das Friedensabkommen mit
Ägypten ein separater Frieden, der es ihm möglich machte, den Krieg
gegen die Palästinenser zu intensivieren.

Die Ägypter vergaben dies niemals – das begann bei der kulturellen
Elite und sickerte bis zu den Volksmassen durch. Sie fühlten sich
betrogen. Die Palästinenser mögen nicht sehr geliebt sein, aber einen
armen Verwandten zu verraten, ist nach arabischer Tradition eine
Schande. Nachdem die Ägypter gesehen hatten, wie Hosni Mubarak mit
diesem Verrat kollaborierte, verachteten sie ihn. Diese Verachtung lag
allem zugrunde, was in dieser Woche geschehen ist. Die Millionen, die
„Mubarak, geh weg!“ schrieen, schrieen - bewusst oder unbewusst - auch
aus dieser Verachtung.

BEI JEDER Revolution gibt es einen „Jeltzin-Moment“ . Die Panzer
werden in die Hauptstadt geschickt, um die Diktatur wieder
herzustellen. Im kritischen Augenblick standen sich die Volksmassen
und das Militär gegenüber. Wenn die Soldaten sich zu schießen weigern,
ist das Spiel zu Ende. Jeltzin kletterte auf einen Panzer, ElBaradei
wandte sich an die Massen auf dem Tahrir-Platz. Das ist der
Augenblick, in dem ein vorsichtiger Diktator ins Ausland flieht, wie
es der Schah tat und jetzt der tunesische Boss.

Dann gibt es noch den „Berliner Moment“, wenn ein Regime ins Wanken
gerät und keiner der Mächtigen weiß, was er tun soll, und nur die
anonymen Massen genau zu wissen scheinen, was sie wollen: sie wollten,
dass die Mauer fällt.

Und es gibt noch den „Ceaucesco Moment“. Der Diktator steht auf dem
Balkon und wendet sich an die Menge, als plötzlich von unten ein
Schrei ertönt „Nieder mit dem Tyrannen!“ und anschwillt. Einen Moment
lang ist der Diktator sprachlos, bewegt seine Lippen geräuschlos, dann
verschwindet er. Dies geschah Mubarak, der noch eine lächerliche Rede
hielt und umsonst versuchte, sich gegen die Flut zu stemmen.

WENN MUBARAK die Realität nicht mehr sieht, so trifft dies auch auf
Binyamin Netanyahu zu. Er und seine Kollegen sind unfähig, die
schicksalhafte Bedeutung dieser Ereignisse für Israel zu begreifen.

Wenn Ägypten sich bewegt, wird die arabische Welt folgen. Was in der
nächsten Zukunft in Ägypten geschieht – Demokratie oder eine
Militärdiktatur – so ist das nur die Sache einer (kurzen) Zeit, bevor
die Diktatoren in der ganzen arabischen Welt fallen und die Massen
eine neue Realität ohne Generäle schaffen.

Alles, was die israelische Führung in den letzten 44 Jahren der
Besatzung oder der 63 Jahre seiner Existenz getan hat, ist obsolet
geworden. Wir stehen vor einer neuen Realität. Wir können sie
ignorieren – und darauf bestehen, dass wir „eine Villa im Dschungel“
sind, wie Ehud Barak es einmal bekanntermaßen sagte – oder einen
passenden Platz in der neuen Realität finden.

Frieden mit den Palästinensern ist nicht länger Luxus. Es ist eine
absolute Notwendigkeit. Frieden jetzt, und zwar Frieden schnell.
Frieden mit den Palästinensern und dann Frieden mit den demokratischen
Massen in der ganzen arabischen Welt, Frieden mit den vernünftigen
islamischen Kräften (wie Hamas und den Muslimbrüdern, die sich sehr
von der Al-Qaida unterscheiden), Frieden mit den Führern, die im
Begriff sind, in Ägypten und überall aufzutauchen.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)


-- 

Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
Center for Encounter and active Non-Violence
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