[E-rundbrief] Info 971 - Johan Galtung: Danke WikiLeaks!

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
Di Dez 14 12:28:00 CET 2010


E-Rundbrief - Info 971 - Johan Galtung (Transcend): Danke 
WikiLeaks! (Kritik an der etablierten staatlichen Diplomatie.)

Bad Ischl, 14.12.2010

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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DANKE WIKILEAKS!

Johan Galtung (*)

SCHWERTE/Deutschland, (IPS) – Die Welle von veröffentlichten
Enthüllungen durch WikiLeaks sind eine einzige Anklage nicht
nur gegen die Diplomatie der USA, sondern gegen die gesamte
etablierte Diplomatie. Was ist das für eine lächerliche
Sprache, die in diesen geheimen Dokumenten und Depeschen zu
lesen ist? Stets zentriert auf Einzelpersonen als Akteure –
meistens Angehörige der Eliten aus elitären Ländern.  So
ganz eine Sprache, die aus Boulevard Medien stammen könnte.
Das alles gehört eigentlich in die Kategorie „unausgegorener
Tratsch und Klatsch“, als eine Sorte von Macht-„Analysen“
aus ritualisierten Halbstarken Milieus.

Wo bleibt da die Analyse der Kultur und der Strukturen,
etwas viel Wichtigeres als die einzelner Personen, die da
kommen und gehen? In keinem der Dokumente sieht man etwas
davon. Offenbar sind diese Diplomaten unfähig zu etwas
anderem. Wo sind die zukunftsweisenden Ideen? Wo sind die
Ideen, wie man die Herausforderungen des Klimawandels, in
Kooperation zum gemeinsamen Nutzen umsetzen könnte? Wo sind
z. B. Ansätze zur Trinkwassergewinnung über Solarenergie an
den Grenzen zwischen Israel, Libanon und Palästina? Oder
Vorschläge für eine konstruktive Kooperation zwischen den
USA und dem Iran zum Ausbau alternativer Energiequellen in
der Region?

Um in einer anarchistischen Welt die Interessen zwischen
einzelnen Nationen auszugleichen, haben Staaten ein System
geschaffen, das offenbar versagt hat. Es zeigt sich an den
zahlreichen Kriegen, die es hervorgebracht hat. Das System
zerfällt augenscheinlich immer mehr – genauso wie zuvor der
Kolonialismus geschwächt und zerbrochen ist und eigentlich
nur noch im US-Imperialismus überlebt hat, der nun ebenfalls
immer schwächer wird – so wie es WikiLeaks sehr deutlich
veranschaulicht hat.

Im Gegensatz dazu haben nun die nationalistischen Tendenzen
Aufwind. Eine Nation ist eine Gruppe von Personen mit einer
gemeinsamen Sprache und einer Kultur (einschließlich
Religion), dazu gehört auch eine Geschichte, eine Vision für
eine gemeinsame Zukunft und ein Bekenntnis zur „Heimat“. Es
gibt auf der Welt ungefähr 2.000 Nationen und nur 200
Staaten. Das bedeutet, dass die Mehrzahl der Staaten, viele
Nationen beherbergen, normalerweise angeführt von einer
Leitnation. Der nun stark zunehmende Nationalismus bietet
ganz sicher auch keine gute Lösungen für die Weltprobleme.

Wir brauchen und verdienen etwas Besseres, nichts Perfektes,
aber Besseres. Wir können nicht weiter Globalisierung auf
der Grundlage der gegenwärtig vorherrschenden Absurditäten
und Irrationalitäten betreiben. Trotzdem ist irgendeine Art
Globalisierung unbedingt notwendig, schon alleine wegen der
neuen Transport- und Kommunikationsweisen.

Der verstorbene Physiker und Philosoph Carl Friedrich von
Weizsäcker hat den Begriff „Welt-Innenpolitik“ geprägt – er
hatte die Vision einer globalen Kultur und eines
Weltstaates. Zu seiner eigenen Nachhaltigkeit würde ein
solches System nämlich notwendigerweise eine lebensfähige
natürliche Umwelt schützen und vier menschliche
Grundbedürfnisse zu befriedigen trachten: Überleben,
Wohlstand, Identität und Freiheit.

Da Gewalt eine Folge von ungelösten Konflikten ist, liegt
der Schlüssel zum Überleben in der Lösung dieser Konflikte.

Um den Wohlstand der Menschen zu garantieren, müssen die
materiellen Grundbedürfnisse befriedigt werden – Ernährung,
Wohnen, Bekleidung, Gesundheit und Bildung. Menschen
brauchen ein Einkommen zum Leben. Die Ressourcen dazu stehen
zur Verfügung, das einzige Problem ist, dass sie gegenwärtig
extrem ungleich verteilt sind.

Eine globale Identität verlangt nach Einheit in der
Vielfalt. Sie steht für Offenheit und Respekt gegenüber der
reichen Vielfalt kultureller Ausdrucksweisen. Gleichzeitig
impliziert sie die Anerkennung eines gemeinsamen Zieles: des
Menschen Glück. Das bedeutet ebenfalls, dass alle
Weltsichten respektiert werden, die umgekehrt auch die
anderen respektieren. Es wäre einfach falsch, die Kultur
einer Nation allen anderen aufzudrängen. Das wäre auch nicht
nachhaltig, sondern würde ständig Widerstand hervorrufen.

Freiheit bedeutet, die Wahl zu haben, das eigene Glück in
den vorhandenen Kulturen und Strukturen zu finden. Freiheit
fördert und regt die unbegrenzte Kreativität der Gattung
Mensch an und zwar über die Reflexion gelebter kultureller
Vielfalt.

Der Artikel 28 der Universellen Erklärung der Menschenrechte
garantiert das Recht auf Leben in heimischen und weltweiten
Strukturen, welche die Verwirklichung der Menschenrechte
ermöglichen. Das heißt, dass Konfliktlösung sowohl
Menschenrecht als auch Menschenpflicht ist. Das gilt auch
für die Wirtschaft, die die Befriedigung materieller
Grundbedürfnisse garantieren soll. Gegenwärtig verschlingt
die Rettung der bankrotten Banken etwa 90 Prozent der
Mittel, die Regierungen aus Steuermitteln zur Verfügung
stellen. Nur 10 Prozent gehen in die Wirtschaftsförderung
zur Befriedigung der Grundbedürfnisse der Bevölkerung.
Dieses Missverhältnis gehört dringend umgekehrt.

Eine weitere Schlussfolgerung, die sich aus dem Artikel 28
ergibt, ist die Entfaltung von gegenseitigem Respekt,
Neugierde und Lernen in Dialogforen der Zivilisationen. Das
impliziert die Schaffung eines Weltbundes. Denn eine Art
Weltstaat würde einfach versuchen eine Leitzivilisation über
alle zu stülpen. Das ist aber schlicht unakzeptabel. Eine
lockere Welt-Konföderation würde keine Einheit schaffen.
Daher erscheint als beste Lösung ein Weltbund.

Mit welchen Personen könnte man nun eine Kultur auf der
Basis menschlicher Grundbedürfnisse in einem Weltbund
umsetzen? Dank WikiLeaks dürfte nun eines ganz klar geworden
sein: Es könnte wohl kaum mit denen gelingen, die
gegenwärtig die Diplomatenklasse repräsentieren. Die
Diplomatie Washingtons ist enthüllt worden, obwohl die
meisten Ausrichtungen bereits schon bekannt und vorhersehbar
waren. Sie sind Bestandteil der imperialen Politik, die von
diesem Land sogar in den sogenannten alliierten und
befreundeten Ländern vorangetrieben wird - im
Selbstverständnis, die „unentbehrliche Nation“ zu sein.
Enthüllt wurde auch die vorherrschende Paranoia, überall
Verschwörungen, Widerspenstigkeit und fehlende Kooperation
bei der Durchsetzung der eigenen „nationalen Interessen“ zu
sehen, und zwar auf Kosten anderer Länder oder einer eigenen
Innenpolitik mit globaler Ausrichtung.

Diese Diplomaten gehören zur Ära eines Staatensystems, das
wir überwinden müssen. Wir müssen also einige
wiederaufbereiten und aussortieren und viele Tausende neue
Beamte ausbilden, die in der Lage sind, einer globalen
Innenpolitik zu dienen und sich von der Lächerlichkeit einer
Welt zu distanzieren, die aus Geheimnissen und
Vertraulichkeiten besteht und die mit uns, mit den Menschen
und der Natur herumspielt. Die Diplomaten haben kein Recht
ihre Inkompetenz hinter den Schleier von Staatsgeheimnissen
zu verstecken. Demokratie bedeutet Transparenz und keine
feudale Spiele.

Danke WikiLeaks! Hoffentlich setzen sich die Enthüllungen
als "Weekly"Leaks fort. Wir brauchen sie. (ENDE/trad
fnf/mjr/COPYRIGHT IPS)

(*) Johan Galtung, Professor für Friedensforschung; Autor
von „A Theory of Conflict“ www.transcend.org/tup

(Inklusive Portrait-Foto des Autors - kann nachgeliefert werden)

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