[E-rundbrief] Info - 963 - Uri Avnery: Edelmann und Pferd (USA - Israel)

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
So Nov 7 22:02:55 CET 2010


E-Rundbrief - Info 963 - Uri Avnery (Israel): Der Edelmann 
und das Pferd. (Obama gegen Netanyahu).

Bad Ischl, 7.11.2010

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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Der Edelmann und das Pferd

Uri Avnery, 6.11.10

„HALB UND HALB,“ habe der  verstorbene Ministerpräsident 
Levi Eshkol geantwortet, als er gefragt worden sei, ob er 
Tee oder Kaffee wünschte.

Dieser Scherz sollte seine zögerliche Haltung am Vorabend 
des Sechs-Tage-Krieges parodieren. (Übrigens: geheime 
Dokumente, die in dieser Woche veröffentlicht wurden, zeigen 
Eshkol in einem sehr anderen Licht.)

Die amerikanische Öffentlichkeit ähnelt jetzt dem Mann in 
dem Witz. Sie sandte nach Washington eine große Gruppe von 
Tea Party-Typen, aber die Kaffeetrinker im Weißen Haus haben 
noch immer  die Kontrolle darüber.

Die israelische Führung weiß nicht, wie sie mit den 
Ergebnissen dieser Wahl umgehen soll. Sind sie gut für die 
Juden oder schlecht für die Juden?


DER GROSSE Gewinner der amerikanischen Wahlen ist niemand 
anders als Binyamin Netanyahu.

Seine Politik ist ähnlich der seines politischen Mentor, 
Yitzhak Shamir. Sie gründet sich auf den Juden, dem gesagt 
worden war, er müsse dem Pferd eines polnischen Edelmannes 
innerhalb eines Jahres das Lesen und Schreiben beibringen – 
sonst würden die Bewohner des ganzen Schtetl ermordet 
werden. „Ein Jahr ist eine lange Zeit,“ versuchte er, seine 
weinende Frau zu beruhigen, „Innerhalb eines Jahres wird 
entweder das Pferd oder der Edelmann gestorben sein.“

Shamirs Spiel war es, alles  aufzuschieben, jede Gelegenheit 
zu versäumen, um den Frieden näher zu bringen, Zeit zu gewinnen.

Wenn der Druck auf Israel stärker wird, muss man ausweichen, 
blockieren, täuschen. Früher oder später wird der Edelmann 
oder das Pferd sterben – und mit etwas Glück gar beide. Die 
Situation wird sich ändern, der Druck wird weniger, 
diejenigen, die den Druck ausüben, werden verschwinden. Eine 
Krisis irgendwo anders auf der Welt wird das Interesse von 
uns ablenken. Wir werden noch ein Jahr oder zwei gewinnen, 
und dann werden wir weitersehen.

Dies ist auch Netanyahus Strategie. Jeden Schritt in 
Richtung Frieden verhindern, da Frieden die Evakuierung  der 
Siedlungen und die Errichtung eines palästinensischen 
Staates bedeutet.

Seit zwei Jahren ist es ihm gelungen, jede Bemühung Barack 
Obamas zu vereiteln, ihn zu zwingen, einen wirklichen 
Friedensprozess zu beginnen. Er besiegte ihn bei jeder Runde 
– ein ums andere Mal. Jetzt hat Obama einen scharfen 
Rückschlag bei sich zu Hause erlitten. Und nun hat ein neues 
Kapitel begonnen.


ABER DER Edelmann ist nicht gestorben und das Pferd auch 
nicht. Wie wird Obama jetzt Netanyahu behandeln?

In Jerusalem gibt es zwei sich widersprechende Antworten auf 
diese Frage.

Die erste Beurteilung ist, dass es  von Obama nichts mehr zu 
befürchten gibt. Das Pferd ist zwar nicht gestorben, aber es 
hinkt sehr.

Ein großes Fragezeichen  schwebt nun über Obamas Zukunft. Er 
könnte ein Präsident mit nur einer Amtsperiode werden. Von 
jetzt an könnte er gezwungen sein, seine ganze Zeit und 
Kraft dem zu widmen, wieder gewählt zu werden. In solch 
einer Situation kann er es sich nicht leisten, die AIPAC zu 
provozieren und das Risiko eingehen,  die Stimmen  – und das 
Geld  -- der Juden zu verlieren.

Nach dieser  Beurteilung muss Obama, wenn das 
Abgeordnetenhaus in den Händen seiner Opponenten ist, sehr 
sorgfältig sein. Bei internen Angelegenheiten, die die 
Wahlen entscheiden, wird er nicht in der Lage sein, 
irgendetwas ohne einen Kompromiss mit den  wieder erstarkten 
Republikanern zu beginnen. Diese werden von Politikern 
angeführt, die unterwürfige Lakaien Israels sind.

Kurz gesagt: von dort ist nichts zu befürchten. Obama kann 
gegenüber den Palästinensern Gesten machen und sogar seine 
Muskeln spielen lassen, aber bei wirklich jedem echten Test 
mit Netanyahu und  der AIPAC wird er der erste sein, der 
kapituliert.

Das sichert Netanyahu Ruhe zu. Alles wird eingefroren 
bleiben, außer dem Siedlungsbau. Der wird weitergehen. Und 
in zwei Jahren mit einem neuen Präsidenten im Weißen Haus 
werden wir sehen, was zu tun ist. Ein neuer Edelmann, ein 
neues Pferd..


DIE GEGENTEILIGE Beurteilung ist für Netanyahu weniger rosig.

Zweifellos ist Obama wütend auf Netanyahu, und seine Wut mag 
jetzt in wirkliche Abscheu umgeschlagen sein. In den letzten 
Tagen vor dieser Wahl verweigerte Netanyahu Obama auch noch 
den kleinen Sieg, der sein Image noch im letzten Augenblick 
aufgebessert hätte. Obama bat – nein, bettelte – um nichts 
anderes als um das Einfrieren des Siedlungsbaus um zwei 
weitere Monate: nur um ein großes Spektakel  der 
Wiederaufnahme des Friedensprozesses möglich zu machen. 
Netanyahu wies den Wunsch verächtlich zurück, obwohl er von 
einem Angebot einer riesigen politischen Bestechung 
begleitet war.

Obama ist ein Mann, der seine Emotionen voll unter Kontrolle 
hat. Er wird weiter Netanyahu zulächeln, ihm vielleicht 
sogar einen Klaps auf den Rücken geben. Aber ein Feind im 
Weißen Haus ist ein gefährlicher Feind und ein verletzter 
Feind ist sogar noch gefährlicher. Ein verletzter oder nicht 
verletzter amerikanischer Präsident ist  immer noch die 
mächtigste Person auf der Welt.

Die kommende Präsidentenwahl wirft zwar schon einen  langen 
Schatten über Washington. Aber der Anfang der ernsten 
Wahlkampagne ist noch ein Jahr entfernt, und dieses Jahr 
könnte die Gelegenheit für eine entschlossene amerikanische 
Friedensinitiative werden. Der geschlagene Präsident mag 
seinen Wählern einen eindrucksvollen Erfolg in der 
internationalen Arena zeigen, und ein  historisches 
Friedensabkommen zwischen Israel und Palästina würde solch 
einen Erfolg darstellen.

Und selbst wenn dies nicht passiert, wird nach dem November 
2012 für Netanyahu eine ernsthaftere Gefahr lauern. Obama 
kann wieder gewählt werden. Einige seiner Vorgänger – Ronald 
Reagan und Bill Clinton - erlitten bei ihren ersten 
Zwischenwahlen  schwere Niederlagen und  hatten kein 
Problem, wieder gewählt zu werden.

Falls Obama für eine zweite Amtszeit wieder gewählt wird, 
könnte er ein sehr gefährlicher Gegner werden . Da er danach 
nicht noch einmal gewählt werden kann, wird ihm der Druck 
der Israel Lobby gleichgültig sein. Er wird über seinen 
Platz in der Geschichte nachdenken. Und zweifellos würde das 
Erreichen eines Friedens zwischen Israel und Palästina ein 
historischer Erfolg sein.

Außerdem kann die Tea-Party  so schnell verschwinden, wie 
sie gekommen ist. So etwas geschieht in den USA alle paar 
Jahrzehnte: eine Welle von Wahnsinn schwappt wie ein Tsunami 
über das Land und verschwindet, als hätte es ihn nicht 
gegeben. Man erinnere sich an  Joe McCarthy. Wenn die Welle 
bis 2012 weitergeht und Obama  sich jemandem wie Sarah Palin 
gegenübersieht, könnte er sich nichts Besseres wünschen

Und der Congress: so weit es Israel betrifft, gibt es da 
keinen Unterschied. Die Senatoren und Kongressabgeordneten 
tanzen nach der Pfeife der Israel-Lobby. In dieser Hinsicht 
gibt es keinen Unterschied zwischen Demokraten und 
Republikanern. Das „überschreitet Parteigrenzen“, wie einer 
der Lobbyführer vor kurzem prahlte.
Kurz gesagt: nach dieser Beurteilung ist ein Zusammenstoß 
zwischen Obama und Netanyahu unvermeidlich. Es wird sich 
innerhalb von höchstens  zwei oder drei Jahren zuspitzen. 
Der Edelmann wird nicht sterben, auch nicht das Pferd. Die 
Frage ist nur, ob der Jude dies überleben wird.


DIESER PERSÖNLICHE Zusammenprall verbirgt einen  viel 
fundamentaleren.
Es gibt eine Menge Geschwätz über die Partnerschaft der 
beiden Länder. Über die gemeinsamen Mythen der Pioniere, 
Kampf gegen die Einheimischen, Eroberung einer neuen Heimat, 
einer Nation von Immigranten. Über „gemeinsame Werte“.

All das erinnert mich an Shimon Peres Geschwätz in den 
50er-Jahren über die gemeinsamen Werte, die Frankreich an 
Israel banden. Die gemeinsamen Werte lösten sich in dem 
Augenblick auf, als Frankreich mit den algerischen Rebellen 
Frieden schloss. Die französischen Interessen veränderten 
sich übernacht. Wie Charles de Gaulle sagte: „Frankreich hat 
keine Freunde. Frankreich hat nur Interessen.“

Auch die USA haben Interessen und ihre Freundschaften sind 
vorübergehend. Im Außenministerium und im Pentagon wissen 
die Experten, dass die gegenwärtige israelische Politik im 
Gegensatz zu den grundsätzlichen amerikanischen 
Nationalinteressen liegen. Dieses Wissen findet seinen 
Ausdruck in einer wachsenden Anzahl von Büchern früherer 
ranghoher Offizieller und Akademiker als auch in den Reden 
bedeutender Militärs. Vor kurzem fand es seinen Ausdruck in 
einem  außergewöhnlichen Leitartikel in der New York Times, 
nachdem die Redakteure dieses Land besucht hatten. Und dies 
in einer Zeitung, die Antisemiten die Jew York Times nennen.

Die USA sind in zwei teure Kriege in muslimischen Ländern 
(im Irak und Afghanistan ) verwickelt und in einer schweren 
Krise mit einem dritten muslimischen Land (Iran). Im ganzen 
„ausgedehnten Nahen Osten“ befinden sich ihre Verbündeten im 
Abstieg, während ihre Opponenten  im Aufstieg begriffen sind.

Die Opponenten sind ein gemischter Haufen: der Iran ist ein 
religiös schiitisches Land. Die Türkei ist eine sunnitisch 
säkulare Republik; Syrien ist ein sunnitisches Land, das von 
einer kleinen alawitischen Sekte beherrscht wird, deren 
islamische Identität von Sunniten wie von Schiiten 
angezweifelt wird. Die Hisbollah ist fanatisch schiitisch, 
die Hamas ist fanatisch sunnitisch. Da gibt es nicht viel, 
das allen gemeinsam ist - außer ihrer Opposition zum status 
quo in der Region.

Fast alle Experten glauben, dass die unbegrenzte 
amerikanische Unterstützung Israels der Hauptgrund  für die 
islamische anti-amerikanische Welle ist. Die meisten 
sprechen nicht offen darüber, weil die  Furcht vor der 
Israel Lobby das ganze amerikanisch politische Establishment 
durchzieht. Aber selbst die erschreckendste Lobby kann nicht 
auf Dauer der unerbittlichen Logik nationaler Interessen 
widerstehen.


ETWAS WAHNSINNIGES liegt in dieser Situation: unsere 
Regierung eilt leichtsinnig auf einen Konflikt mit dem 
einzig verbliebenen Verbündeten, den wir in der Welt haben, 
zu. Kein anderer potentieller Verbündeter kann am Horizont 
entdeckt werden.

Dies ist allein schon eine bedrohliche Tatsache, weil die 
amerikanische Großmacht langsam aber stetig auf allen 
Gebieten abnimmt – wirtschaftlich, politisch, militärisch 
und kulturell. Dies ist ein  langwieriger Prozess, der viele 
Jahre dauern kann, aber Israel sollte für neue Machtzentren 
bereit sein.

Die Netanyahu-Regierung macht genau das  Gegenteil: sie 
fordert die ganze Welt heraus und handelt konsequent daran, 
Israel zu isolieren.

Anders als die Geschichte vom Juden, dem Edelmann und  dem 
Pferd ist dies hier kein Scherz.

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser  autorisiert)


Gush Shalom Inserat am 5.11.2010

Die Fa. Caterpillar hat
Die Lieferung von D-9 Bulldozern
An die IDF eingestellt.

Die holländische Polizei
Hat die Büros einer Gesellschaft
Die am Bau jüdischer Siedlungen
Beteiligt ist, durchsucht.

Der britische Außenminister
Hat sich mit Demonstranten
In Bilin und Sheik Jarrash
(Ost-Jerusalem)
getroffen.

Die Botschaft ist klar.
Wann wird sie von uns
Begriffen?


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POB 3322   Tel Aviv  61033
www.gush-shalom.org
info at gush-shalom.org



-- 

Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
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