[E-rundbrief] Info 935 - Boykott und Sanktionen gegen Israel

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
Mo Jul 5 01:24:53 CEST 2010


E-Rundbrief - Info 935 - Frauennetzwerk Nahost (D): Wissen Sie... was
Sie mit 729 einkaufen?. Noah Salameh (Palästina): Boykott und Sanktionen
(gegen Israel): Eine palästinensische Sicht (von Boykott,
Desinvestitionen und Sanktionen/ BDS).

Bad Ischl, 5.7.2010

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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Wissen Sie...
was Sie mit 729 einkaufen?

Es ist nicht überraschend, wenn Ihnen die Zahlenfolge 729 bislang nichts
sagt. Es handelt sich um den sogenannten „Ländercode“ am Beginn eines
Strichcodes, der Aufschluss darüber gibt, woher eine Ware stammt. Ein
Strichcode mit den Ziffern 729 verweist darauf, dass ein Produkt aus
Israel kommt. Den Strichcode 729 tragen aber auch Waren, die etwa in
Ma'ale Adumim oder in der Industriezone von Barkan hergestellt worden
sind – also in israelischen Siedlungen auf besetztem palästinensischem
Gebiet.

Die systematische Besiedlung von besetztem Gebiet stellt einen schweren
Verstoß gegen das Völkerrecht dar. Seit seiner Gründung im Jahr 2002
fordert das FrauenNetzwerkNahost daher die eindeutige Kennzeichnung von
Waren aus den völkerrechtswidrigen Siedlungen. In mehreren
Postkartenaktionen haben wir auf das Problem hingewiesen, dass
Verbraucher/innen mit ihrer Kaufentscheidung unwissentlich
Völkerrechtsverletzungen unterstützen. Unsere bisherigen Karten waren
getragen von dem Bemühen um Aufklärung und einer eindeutigen
Kennzeichnung der Waren „Made in Israel“.

http://www.frauennetzwerknahost.de/

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Boykott und Sanktionen: Eine palästinensische Sicht

von Noah Salameh

Juni 2010

Wie ihr vielleicht wisst, lebe ich unter Besatzung. Wenn ich also über
Boykotte oder Sanktionen spreche, dann spreche ich darüber als jemand,
der seine Freiheit und Rechte zurück gewinnen und in Würde und Respekt
leben will. Ich glaube, wenn wir nicht unter Besatzung lebten, müssten
wir überhaupt nicht über Sanktionen und Boykotte reden. Zunächst: Ich
glaube an den Widerstand gegen die Besatzung, und dass jede Person der
Welt, die unter Besatzung lebt, das Recht hat, dagegen Widerstand zu
leisten um seine/ ihre Freiheit zu erlangen. Wenn wir daher über
Sanktionen und Boykott sprechen, tun wir das nicht aus Hass oder
Böswilligkeit gegenüber den Israelis oder aus dem Wunsch sie zu
verletzen. Ich möchte hier das Beispiel Gandhi’s zitieren, als er
England besuchte und die britischen KapitalistInnen ihm erklärten, dass
er sie durch den Boykott britischer Güter verletze. Das zu hören
bereitete Gandhi Schmerz, aber er musste es dennoch tun, um das
britische Volk und die Regierung dazu zu bringen, ihre Position zu
ändern und dem indischen Volk die Freiheit zuzuerkennen. Ich denke,
dieselbe Situation trifft auch für PalästinenserInnen und besonders für
die Friedensbewegung in Palästina zu. Ich wiederhole: Wenn wir gegen die
Besatzung kämpfen, ist es nicht aus Hass, Groll oder einem Wunsch,
Israelis zu verletzen. Trotzdem müssen die israelischen Leute sich
bewusst werden, dass die Fortsetzung der Okkupation eines anderen Volkes
moralisch nicht akzeptabel ist, und dass sie selbst eine Position
einnehmen müssen, um Druck auf ihre Regierung auszuüben die Besatzung zu
stoppen.

Historisch ist der palästinensische Kampf seit 1948 durch das Versäumnis
von Seiten der Israelis und der internationalen Gemeinschaft
charakterisiert, den Problemen der PalästinenserInnen Aufmerksamkeit zu
schenken. Weder die Vereinten Nationen, noch die freie Welt oder die
Israelis haben mit uns mitgefühlt. Im allgemeinen wurden wir ignoriert,
lebten in Flüchtlingslagern und wurden sogar daran gehindert, uns selbst
PalästinenserInnen zu nennen. Die Palästinensische
Befreiungsorganisation (PLO) wurde 1964 als Reaktion auf die elende
Situation von PalästinenserInnen in der Diaspora gegründet. Ich glaube,
dass die PalästinenserInnen ursprünglich den bewaffneten Kampf gewählt
haben, weil sie zu jener Zeit nicht glaubten, dass es einen anderen Weg
gebe, der Welt ihre Geschichte zu erzählen. Aber der palästinensische
Kampf entwickelte sich weiter und begann die Philosophie der
Gewaltfreiheit aufzugreifen, was sich in der ersten Intifada 1987
zeigte. Wie ihr vielleicht wisst, begannen die PalästinenserInnen in der
ersten Intifada ihr Land zu bebauen und ihre Leute zu erziehen, mehr auf
palästinensische Produkte als Alternative zu israelischen Produkten zu
setzen. Sie begannen an Demonstrationen und anderen gewaltfreien
Aktivitäten teilzunehmen um Israel Widerstand zu leisten.

Um zum Hauptthema dieses Artikels zurückzukehren, so glaube ich, dass
jeder gewaltfreie Kampf in Palästina ohne eine starke Kampagne für einen
Boykott israelischer Produkte, unterstützt durch Sanktionen der
internationalen Gemeinschaft, wie das in Südafrika zur Zeit des
Apartheidsystems der Fall war, nicht effektiv sein wird. Ich führe drei
Gründe dafür an. Erstens, das Westjordanland und Gaza bilden einen
großen Markt von 5 Milliarden Dollar pro Jahr für israelische Güter. Ein
Teilziel der Besatzung ist es, diesen Markt zu erhalten und die
ökonomischen Gewinne, die Israel davon erzielt, zu bewahren, indem
Hindernisse für jede andere Investition in den palästinensischen Markt
aufgebaut und eine allgemeine Politik der Zerstörung der
palästinensischen Wirtschaft durchgeführt werden. Der zweite Grund,
warum wir Boykott und Sanktionen anwenden sollten, ist, dass in der
Geschichte keine Besatzungsmacht ein anderes Land freiwillig und ohne
Widerstand verlassen hat. Das bedeutet, dass die besetzende Nation das
Gefühl haben muss, dass sie mehr durch die Besatzung verliert als
gewinnt, und dadurch zum Weggehen motiviert wird. Der dritte Grund ist,
dass wir – aufgrund der blinden Unterstützungspolitik von Seiten der
US-Regierung, der Schwäche europäischer Regierungen bei der Durchsetzung
von UN-Resolutionen zur Palästina-Frage und der Forderung Gewalt bei der
Lösung des Konflikts zu vermeiden, - bis jetzt Sanktionen als einzige
Möglichkeit sehen, um Druck auf Israel auszuüben. Diese Art von
Sanktionen wurden gegen das südafrikanische Regime zur Zeit der
Apartheid eingesetzt. Ich beziehe mich wiederholt auf die Erfahrung in
Südafrika, weil das System, unter dem die PalästinenserInnen leben,
verglichen mit dem Apartheidsystem das gleiche oder sogar noch schlimmer
ist als das, was Bischof Desmond Tutu über Apartheid in Südafrika
geschrieben hat. Einige illustrative Beispiele dafür sind:

a) PalästinenserInnen leben seit 1945 unter den britischen
Notstandsgesetzen, während Israel moderne Gesetze eingeführt hat.

b) PalästinenserInnen haben Zugang zu einer Tasse Wasser, verglichen mit
13 Tassen, zu denen Israelis Zugang haben.

c) PalästinenserInnen fahren auf alten, schlecht in Stand gehaltenen
Straßen, während Israelis auf neuen, modernen Straßen verkehren.

d) Israelis haben Bewegungsfreiheit, PalästinenserInnen nicht.

Das sind nur einige wenige Beispiele dafür, dass wir in verschiedenen
Welten leben, obwohl wir uns auf demselben Land befinden.

Infolgedessen glauben wir, dass die einzige Möglichkeit, diese Situation
zu ändern, wenn wir nicht Krieg oder Gewalt anwenden wollen, die ist,
der israelischen Regierung Sanktionen aufzuerlegen und israelische
Produkte zu boykottieren, um so die Fortsetzung der Besatzung sehr teuer
zu machen. Ich denke, die palästinensische Friedensbwegung unterstützt
diese Strategie und bittet darum und hofft darauf, dass die Welt diese
Kampagne des Boykotts israelischer Produkte unterstützt und Sanktionen
über die israelische Regierung und das Militär verhängt, um die
Besatzung zu beenden. Ich glaube nicht, dass dies das palästinensische
Volk verletzen wird, denn PalästinenserInnen leben von einfachem Essen
und können ohne das Privileg von feinen Lebensmitteln auskommen. Sie
sind mehr als gewillt, ihren Zugang zu solchen Produkten aufzugeben um
Freiheit und Befreiung zu erreichen. Ich möchte nochmals betonen, dass
dies keine boshafte Maßnahme gegen das israelische Volk ist. Sie sind
nur normale Leute, die ihr Leben leben wollen. Ich glaube auch nicht,
dass dies Auswirkungen auf die israelische Mittelklasse hätte. Vielmehr
denke ich, dass es eine faire und gerechte Kampagne mit moralischen
Zielen ist. Ich glaube, dass jeder Mensch in Frieden und Gerechtigkeit
leben sollte, mit gleichen Rechten für alle und ohne diskriminiert zu
werden. Es handelt sich um eine Kampagne, die jede/r unterstützen sollte
um einen gerechten Frieden zu erreichen.

Im Juli 2005 lancierte die palästinensische Zivilgesellschaft den
„Aufruf zum Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen (BDS) gegen Israel,
bis es das internationale Recht und die universellen Prinzipien der
Menschenrechte erfüllt“. Der Aufruf wurde ursprünglich von 170
Organisationen unterstützt, die die drei wichtigsten Bestandteile des
palästinensischen Volkes repräsentieren: die Flüchtlinge im Exil,
PalästinenserInnen unter der Besatzung im Westjordanland und dem
Gazastreifen und die unterjochten palästinensischen BürgerInnen des
israelischen Staates. Seit damals haben viele andere Organisationen und
Individuen diesen Aufruf unterstützt, u.a. in Europa, den Vereinigten
Staaten und Israel. Mit dieser Kampagne bezweckt die palästinensische
Zivilgesellschaft, ihre Rechte auf gewaltfreie Weise zu erreichen, und
bittet die restliche Welt, ihren Kampf auf individueller Ebene (durch
Boykott israelischer Produkte), auf der Ebene internationaler Firmen
(keine Investitionen in Firmen, die die unterdrückerischen Maßnahmen der
Besatzung unterstützen) und von Staaten (Sanktionen gegen Israel
aussprechen, bis es internationales Recht erfüllt) zu unterstützen. Zum
Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels wurde bereits viel erreicht, was
in internationalen Medienberichten und auf der Website der Kampagne
(www. bdsmovement.net) nachverfolgt werden kann. In Zukunft wird diese
Entwicklung noch intensiviert. Gemeinsam mit dem täglichen Kampf der
Bevölkerung gegen die Besatzung in Bi’ilin, Na’alin und anderen Orten in
Palästina, mit den breiten Aktivitäten palästinensischer Organisationen
und dem Ausdruck internationaler Solidarität mit dem palästinensischen
Volk zeigen diese Faktoren den Weg in Richtung einer friedlichen,
gewaltfreien Lösung des Konflikts, sodass die Menschen in unserer Region
eines Tages in Frieden und Wohlstand leben und sich auf Versöhnung hin
bewegen können.

Der letzte Punkt, den ich erwähnen möchte, ist, dass wir – wenn wir uns
an euch im Westen wenden – lediglich auf den Diskurs reagieren, den ihr
uns immer über Respekt, Menschenrechte, Demokratie und Gerechtigkeit
vorgebt. Diese Werte werden vom Christentum, dem Islam, dem Judentum,
dem Buddhismus, dem Hinduismus und anderen humanistischen Philosophien
und Religionen hoch gehalten. Auch Menschenrechtserklärungen basieren
auf diesen Werten. Wir bitten euch darum, eure eigenen Werte zu
respektieren und dem Rat zu folgen, den ihr selbst täglich denen
erteilt, die Menschenrechte oder Demokratie nicht respektieren. Wie ihr
vielleicht wisst, verletzt es unsere Rechte, wenn wir ein Leben lang
unter Notstandsgesetzen leben und nicht genug oder weniger Wasser als
andere haben. Daher erfordert unsere Bitte, einen Standpunkt einzunehmen
und Sanktionen gegen die Regierung anzuwenden, die diese Rechte
verletzt, keinerlei illegale Aktion. Ich wiederhole, dass wir euch nur
bitten, eure Werte und eure Moral, dass alle gleich behandelt werden
sollen, zu respektieren, und Israel aufzufordern, unsere Menschenrechte
einzuhalten und uns als menschliche Wesen zu behandeln. Wenn dann Israel
nicht entsprechend reagiert, wie es bisher der Fall war, müsst ihr
Sanktionen anwenden, wie ihr das auch gegenüber dem südafrikanischen
Apartheidregime gemacht habt. Bitten wir um zuviel? Wir glauben nicht,
dass Israel eine Ausnahme in der Welt darstellt, und daher so behandelt
werden muss wie jedes andere Land, das Menschenrechte verletzt oder eine
andere Nation besetzt. Als friedliches Volk unterstützen und verlangen
wir das von der Weltgemeinschaft. Das wird eine große Hilfe bei der
Unterstützung der Friedensbewegung in Palästina sein, wenn sie die
Strategie der Gewaltfreiheit vertritt und um mehr Leute für einen
gewaltfreien Kampf und gewaltfreie Mittel zu gewinnen. Wir glauben
daran, dass der Boykott israelischer Produkte wesentlich für den
gewaltfreien Kampf ist und eine gewaltfreie Strategie darstellt. Unsere
Hoffnung ist, dass mehr Leute mit uns gemeinsam diese Philosophie und
Strategie unterstützen.

Noah Salameh, Direktor von CCRR, Zentrum für Konfliktlösung und
Versöhnung in
Bethlehem (palästinensischer Zweig des Versöhnungsbundes),

http://www.ccrr-pal.org/

Erschienen im Spinnrad 2/2010, Versöhnungsbund Österreich

-- 

Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
Center for Encounter and active Non-Violence
Wolfgangerstr. 26, A-4820 Bad Ischl, Austria,
fon: +43 6132 24590, Informationen/ informations,
Impressum in: http://www.begegnungszentrum.at
Spenden-Konto Nr. 0600-970305 (Blz. 20314) Sparkasse Bad Ischl,
Geschäftsstelle Pfandl
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