[E-rundbrief] Info 887 - Vanunu in Haft

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
Sa Jan 9 16:55:40 CET 2010


E-Rundbrief - Info 887 - Daniel Ellsberg (USA): Mordechai Vanunu wieder
in Haft. Das "Verbrechen" dieses (israelischen) Helden hat uns sicherer
gemacht.

Bad Ischl, 9.1.2010

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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Mordechai Vanunu wieder in Haft

Das "Verbrechen" dieses Helden hat uns sicherer gemacht

Von Daniel Ellsberg,

  03.01.2010 - Los Angeles Times / ZNet

Mordechai Vanunu - mein Freund, mein Held, mein Bruder - wurde in Israel
erneut verhaftet. Er stehe "unter Verdacht", das "Verbrechen" begangen
zu haben, "sich mit Ausländern zu treffen".

Ich selbst bin Komplize dieses "Verbrechens", da ich zweimal mit der
ausdrücklichen und offenen Absicht nach Israel gereist bin, Vanunu zu
treffen und dessen Handlungsweise ausdrücklich zu unterstützen, für die
er 18 Jahre im Gefängnis verbracht hat. Sein jetziges "Verbrechen"
bestehe darin, wiederholt und offen gegen die Konditionen, durch die
seine Bewegungsfreiheit, seine Redefreiheit und seine Bekanntschaften
eingeschränkt werden, gepfiffen zu haben. Die Beschränkung seiner
Menschenrechte ist etwas, was direkt vom Britischen Mandat übernommen
wurde: Koloniale Regeln, die einen klaren Verstoß gegen die Universelle
Erklärung der Menschenrechte darstellen. Solche Restriktionen haben
keinen Platz in einem Land, das Respekt für die Herrschaft des Rechts
und für die fundamentalen Menschenrechte heischt. Vanunus Verhaftung und
Inhaftierung sind empörend. Dies muss sofort aufhören.

Was ich von Mordechai und seinem Verhalten halte, habe ich 2004 in einem
Leitartikel für die Los Angeles Times zum Ausdruck gebracht. Ich könnte
es heute nicht besser sagen. Der Artikel erschien am Tag seiner
Freilassung aus dem Gefängnis. Ich kann nur hinzufügen, dass ich stolz
wäre, der "amerikanische Vanunu" zu sein. Allerdings hat man in meinem
Fall ein mögliches Urteil wegen Verrats von Staatsgeheimnissen (115
Jahre Gefängnis)1 vermieden. Man warf mir lediglich die Enthüllung
staatlichen Fehlverhaltens vor. Dieses verblasst, verglichen mit dem
Fehlverhalten der Israelis, als sie Vanunu angriffen, ihn unter Drogen
setzten, kidnappten, bis sie ihn vor Gericht bringen konnten. Von den 11
Jahren Einzelhaft, die er erleiden musste, ganz zu schweigen.

Folgender Artikel von mir erschien am 21. April 2004 in der Los Angeles
Times:

Mordechai Vanunu ist der größte Held des Atomzeitalters. Er setzte
alles, was er besaß, bewusst aufs Spiel, um sein Land und die Welt vor
dem wahren Ausmaß der atomaren Bedrohung, unter der wir stehen, zu
warnen. Er musste voll bezahlen und etwas ertragen, das in vielerlei
Hinsicht schlimmer war als der Tod. Er bezahlte den Preis für einen
heroischen Akt: Er tat genau das, was er tun sollte, und was andere auch
tun sollten.

Vanunu beging sein "Verbrechen" 1986: Er übergab der London Sunday
Times2 eine Reihe von Fotos, die er in der israelischen Atomwaffenfabrik
bei Dimona aufgenommen hatte. Er war dort als Techniker tätig.

Für diese Aktion - die enthüllte, dass das (nukleare) Programm und die
(nuklearen) Bestände der Israelis viel umfangreicher waren, als von der
CIA und anderen angenommen -, wurde Vanunu im Flughafen von Rom durch
Agenten des israelischen Mossad gekidnappt und heimlich (nach Israel)
zurückgebracht. In einem nicht öffentlichen Verfahren wurde er zu 18
Jahren Gefängnis verurteilt.

Die ersten 11 1/2 Jahre musste er in Einzelhaft verbringen. Seine Zelle
war 6 auf 9 Fuß groß. Einzelhaft unter solch unvergleichlichen
Bedingungen wurde von Amnesty International als "grausam, inhuman und
degradierend" bezeichnet.

Heute wird Vanunu entlassen - nachdem er seine volle Strafzeit
abgesessen hat. Doch er ist weiter "unfrei" - durch Restriktionen gegen
seine Bewegungsfreiheit und seine Kontakte: Er darf Israel nicht
verlassen und muss sich in einer bestimmten Stadt aufhalten. Er darf
nicht mit Ausländern kommunizieren - nicht von Angesicht zu Angesicht,
nicht per Fax oder E-Mail. (Diese Restriktionen sind als reine Strafe
anzusehen, da alle Geheiminformationen, über die er verfügt haben mag,
mittlerweile fast zwei Jahrzehnte alt sind).

Die Ironie des Ganzen ist, dass keinem Land mehr an einer präventiven
Nonproliferation gelegen sein dürfte als Israel - vor allem im
Nahen/Mittleren Osten. Doch Israels geheime Atompolitik (bis heute gibt
Israel nicht zu, über Atomwaffen zu verfügen) ist kurzsichtig und
selbstzerstörerisch. Sie fördert die nukleare Proliferation, anstatt sie
zu blockieren, denn diese Politik ermutigt die Nachbarstaaten dazu,
eigene, vergleichbare Atomwaffen zu entwickeln.

Ohne demokratischen Druck und die Mobilisierung der Öffentlichkeit - was
wiederum öffentliches Bewusstsein und Diskussionen voraussetzen würde -,
wird sich nichts ändern. Genau das aber wollte Mordechai Vanunu anregen.

Weder in Israel - noch in den USA, in Russland, England, Frankreich,
China, Indien oder Pakistan - wurde die Entscheidung, eine Atommacht zu
werden, auf demokratischem Wege getroffen, nicht einmal mit Wissen des
gesamten jeweiligen Kabinetts. Wäre es zu einer öffentlichen Debatte
gekommen, so hätte wahrscheinlich keines dieser Länder seine eigene
Bevölkerung oder den Rest der Welt davon überzeugen können, dass es
einen legitimen Grund für den Besitz von Hunderten (nuklearen)
Gefechtsköpfen gibt, wie sie Israel angeblich besitzt (und die über jede
plausible, notwendige Abschreckung weit hinausgehen). Wir brauchen -
dringend - mehr Menschen wie Vanunu. Das gilt nicht nur für Israel
sondern für alle (erklärten oder nicht erklärten) Atommächte. Oder wer
würde nicht erkennen, welchen Wert ein heldenhafter pakistanischer,
indischer, irakischer, iranischer oder nordkoreanischer Vanunu (mit
vergleichbaren Enthüllungen) für die Weltsicherheit hätte?

Die Welt braucht Geheimnisverrat dieser Art - nicht nur durch Bürger
solcher Länder, die heute von Atomwaffenstaaten voreilig als
"Schurkenstaaten" bezeichnet werden. Jeder Atomwaffenstaat verfolgt eine
heimliche Politik, geheime Ziele, Programme und Pläne, die im
Widerspruch zu seinen Verpflichtungen aus dem Atomwaffensperrvertrag
stehen und der ‘Prinzipienerklärung’ (Declaration of Principles), die
1995 auf der ‘Konferenz zur Erneuerung des Atomwaffensperrvertrages’
erklärt wurde. Jeder Offizielle, dem solche Verstöße bekannt werden,
könnte und sollte sich überlegen, so zu handeln, wie es Vanunu getan hat.

Auch ich hätte zu Beginn der 60er Jahren so handeln sollen - auf
Grundlage dessen, was ich über atomare Geheimpläne und -praktiken der
USA wusste. Damals war ich beratend für das Verteidigungsministerium
tätig. Man hatte mich vom Rand Corp. ausgeliehen, weil es Probleme mit
dem Kommando und der Kontrolle über die Atomwaffen gab. Ich war es, der
den ‘Leitfaden des Verteidigungsministeriums für den Joint Chiefs of
Staff (Generalstab)’ verfasste, der Teil der allgemeinen
Atomkriegsplanungen war. Die extremen Gefahren unserer Praxis
beziehungsweise Planungen waren mir bewusst.3

Heute habe ich das Gefühl, versagt zu haben, weil ich diese Dokumente
geheim gehalten habe und die katastrophal rücksichtslose Haltung nur auf
sicherem Wege zur Kenntnis brachte. Das war falsch. Aber damals hatte
ich noch nicht Vanunus Beispiel vor Augen, das mich hätte leiten können.

Dann endlich bekam ich ein Beispiel vor Augen geführt - in Form der
jungen Amerikaner, die lieber ins Gefängnis gingen, als sich an einem
Krieg zu beteiligen, der hoffnungslos und unmoralisch war, wie ich
selber wusste. Dies inspirierte mich 1971 dazu, hochgeheime
Präsidentenlügen über den Vietnamkrieg an 19 Zeitungen weiterzuleiten.
Ich bereue nur, dass ich es nicht schon früher getan habe - bevor die
Bomben zu fallen begannen.

Vanunu hätte längst aus seiner Einzelhaft und seiner Haft entlassen
werden sollen - nicht, weil er "genug gelitten hat", sondern, weil er
das Richtige, das Mutige getan hat. Er tat es, obwohl für ihn absehbar
war, dass man versuchen würde, ihn zum Schweigen zu bringen und ihn zu
bestrafen.

Die empörenden, illegalen Restriktionen, denen er unterworfen werden
soll, sobald er - nach 18 Jahren - das Gefängnis verlässt, sollten
überall Proteste und Widerstand hervorrufen - nicht nur, weil diese
Einschränkungen gegen fundamentale Menschenrechte verstoßen, sondern
auch, weil die Welt die Stimme dieses Mannes hören muss.

Der Kult und die Geheimhaltungskultur, die in allen Atomwaffenstaaten
vorherrschen, bedrohen die Menschheit und werden deren Überleben weiter
gefährden. Vanunu hat diese gefährliche, falsche Geheimhaltung
herausgefordert. Wir sollten seinem Beispiel - weltweit - folgen.4
Daniel Ellsberg ist ein US-amerikanischer Ökonom und ehemaliger
Whistleblower des Pentagons. Durch die Veröffentlichung der von ihm an
die Öffentlichkeit gebrachten Pentagon-Papiere deckte er einen Skandal
im Umfeld des Vietnamkrieges auf.

Quelle: ZNet Deutschland vom 03.01.2010. Originalartikel: Nuclear Hero’s
‘Crime’ Was Making US Safer . Übersetzt von: Andrea Noll.

Fußnoten
1. Anmerkung d. Übersetzerin: Daniel Ellsberg - ein ehemaliger
Offizieller des US-Außenministeriums und des Verteidigungsministeriums -
leitete 1971 die ‘Pentagon Papers’ an die Presse weiter und sorgte so
für deren Veröffentlichung: http://de.wikipedia.org/wiki/Daniel_Ellsberg .
2. Anmerkung d. Übersetzerin: Zu Mordechai Vanunu:
http://de.wikipedia.org/wiki/Mordechai_Vanunu .
3. Siehe U.S. Nuclear War Planning for a Hundred Holocausts by Daniel
Ellsberg on September 13, 2009,
www.ellsberg.net/archive/us-nuclear-war-planning-for-a-hundred-holocausts#more-248

4. Siehe: Hiroshima Day: America Has Been Asleep at the Wheel for 64
Years by Daniel Ellsberg on August 6, 2009,
www.ellsberg.net/archive/hiroshima-day-america-has-been-asleep-at-the-wheel-for-64-years

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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
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