[E-rundbrief] Info 850 - Boff zur Papstenzyklika

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
Do Jul 30 12:01:44 CEST 2009


E-Rundbrief - Info 850 - Leonardo Boff (Brasilien): Dem Papst täte ein
bisschen Marxismus gut. (Kommentar zur neuen Enzyklika von Benedikt XVI
“Caritas in Veritate”).

Bad Ischl, 30.7.2009

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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Dem Papst täte ein bisschen Marxismus gut

Juli 22nd, 2009

Von Leonardo Boff

Die neue Enzyklika von Benedikt XVI “Caritas in Veritate” vom 9. Juli
2009 ist eine Stellungnahme der Kirche zu den aktuellen Krisen. Das
Gesamt der Krisen, die die Menschheit und das ganze System des Lebens
bedrohen, erforderte einen prophetischen Text, der die Dringlichkeit
deutlich machen würde. Das, was wir erhalten haben, ist etwas anderes;
es handelt sich um eine lange und detaillierte Reflexion über das ganze
Spektrum aktueller Probleme, die von der ökonomischen Krise bis zum
Terrorismus reichen, von der Biotechnologie über die Umweltkrise bis zu
Vorstellungen über eine Weltregierung für die Globalisierung. Das Genus
dieses Textes ist nicht prophetisch. Dies würde auch eine konkrete
Analyse einer konkreten Situation voraussetzen, die es ermöglichen
würde, ein Urteil über die Probleme, die auf der Hand liegen, in Form
von Anklage-Verheißung abzugeben. Aber es liegt nicht in der Natur
dieses Papstes, Prophet zu sein. Er ist ein Doktor und Magister. Er legt
den offiziellen Diskurs des Lehramtes dar, dessen Perspektive nicht die
“von unten” ist, vom realen und konfliktreichen Leben aus, sondern “von
oben”, von der orthodoxen Doktrin her, die die Gegensätze verwischt und
die Konflikte klein redet. Der vorherrschende Tenor ist nicht die
Analyse, sondern die Ethik, das, was sein muss.

Da er nicht die äußerst komplexe aktuelle Realität analysiert, verbleibt
der lehramtliche Diskurs im Prinzipiellen, bleibt er ausgeglichen und
zeichnet er sich durch seine Unbestimmtheit aus. Der Subtext des Textes,
also das, was bei allem Gesagten ungesagt bleibt, nimmt eine
theoretische Unschuld in Anspruch, die jedoch unbewusst der funktionalen
Ideologie der herrschenden Gesellschaft zuarbeitet. Man bemerkt das
allein schon daran, wie das zentrale Thema - die Entwicklung - zur
Sprache gebracht wird. Dieses Thema muss angesichts der ökologischen
Grenzen dieser Erde sehr kritisch bearbeitet werden. Davon sagt die
Enzyklika aber nichts. Ihre Vision ist, dass das globale System sich im
Grunde als korrekt erweist. Danach stossen wir auf Dysfunktionen, nicht
auf Gegensätze. Eine solche Diagnose legt dann als Therapie nahe, was
mit der der G20 vergleichbar ist: Berichtigungen statt Veränderungen,
Verbesserungen statt Paradigmenwechsel, Reform statt Befreiung. Es ist
der Imperativ des Magisters, nicht der des Propheten, es geht um
“Korrektur”, nicht um “Bekehrung”.

Bei der Lektüre des langen und schweren Textes kam mir schließlich der
Gedanke, wie schön es wäre, wenn der jetzige Papst ein wenig vom
Marxismus kennen würde. Dieser geht von den Unterdrückten aus und ihm
kommt das Verdienst zu, die gegenwärtigen Oppositionen im aktuellen
System zu entlarven, die Machtkonflikte zu Tage zu fördern und die
hemmungslose Gier der Markt-, Konkurrenz- und Konsumismusgesellschaft,
die unkooperativ und ungerecht ist, anzuklagen. Handelt es sich hierbei
doch um eine soziale und strukturelle Sünde, die Millionen auf dem Altar
der Produktion für einen unbegrenzten Konsum opfert. Dies müsste der
Papst prophetisch anklagen. Aber er tut es nicht.

Der Text des Lehramtes, gleichwie auf dem Olymp außer- und oberhalb der
aktuellen konfliktreichen Situation angesiedelt, ist keineswegs so
weltanschaulich “neutral”, wie er es vorgibt. Er ist ein Diskurs, der
das herrschende System reproduziert, das alle leiden macht, besonders
die Armen. Da geht es nicht um die Frage, ob Benedikt XVI dies will oder
nicht will, sondern um die strukturelle Logik des lehramtlichen
Diskurses. Auf eine genaue kritische Analyse zu verzichten, kostet den
hohen Preis einer theoretischen und praktischen Unwirksamkeit. Der Papst
erneuert nicht, er repetiert.

Indem er nicht vom symbolischen Kapital der Transformation und der
Hoffnung, die in der christlichen Botschaft enthalten ist, ausgeht,
verpasst er eine große Gelegenheit, sich in einem dramatischen Moment
der Geschichte an die Menschheit zu wenden. Dieser Papst legt keinen
Wert auf den neuen Himmel und die neue Erde, die durch menschliche
Praxis antizipiert werden können, er kennt nur dieses dekadente und für
sich selbst unhaltbare Leben (sein kultureller Pessimismus) sowie das
ewige Leben und den Himmel, die kommen werden. Er rückt so von der
großen biblischen Botschaft, ihren revolutionären politische
Konsequenzen und ihrer Behauptung ab, dass die endgültige Utopie des
Reiches der Gerechtigkeit, der Liebe und der Freiheit nur wirklich sein
wird in dem Maße, wie sie diese Güter unter uns, in den Grenzen von Raum
und Zeit, gestaltet und vorwegnimmt.

Lässt man die rückwärtsgewandten fideistischen Vorstellungen einmal
beseite (”allein durch die christliche Liebe ist eine integrative
Entwicklung möglich”), kommt die Enzyklika, wenn sie den lehramtlichen
Ton schließlich “vergisst”, kurioserweise auf ganz vernünftige Sachen zu
sprechen, wie z.B. die Reform der UN, die neue internationale
ökonomische und finanzwirtschaftliche Architektur, das Konzept des
Gemeinwohls und die beziehungsreiche Inklusion der Menschheitsfamilie.
Wir können Nietzsche paraphrasieren: “Wie viel kritische Analyse kann
sich das Lehramt der Kirche zu eigen machen?”

Quelle: Servicios Koinonia; übersetzt von: Norbert Mette

http://www.itpol.de/?p=332


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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
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