[E-rundbrief] Info 838 - Solidarische Oekonomie Brasilien

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
Mo Jun 15 21:34:26 CEST 2009


E-Rundbrief - Info 838 - Claudio Nascimento (SENAES, Brasilien): Die
Solidarische Ökonomie ist eine konkrete Utopie. Gespräch mit Leo Gabriel
(Südwind, Wien) am 26.10.2008.

Bad Ischl, 15.6.2009

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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„Die Solidarische Ökonomie ist eine konkrete Utopie“

Ein Gespräch mit Claudio Nascimento

dem Koordinator im brasilianischen Staatssekretariat für Solidarische
Ökonomie (SENAES) und namhaften Vordenker für neue Formen von Politik
und Wirtschaft.

Claudio Nascimento ist Koordinator des im Arbeitsministerium
angesiedelten Staatssekretariats für Solidarische Ökonomie (SENAES), das
nach der Amtsübernahme des Präsidenten Luis Inácio "Lula" da Silva
eingerichtet wurde. Im langen Lebensweg des in Recife und Warschau
graduierten Historikers und Pädagogen spiegelt sich nicht nur die
Zeitgeschichte Brasiliens, sondern auch der Entwicklungsprozess der
lateinamerikanischen Linken wider.

Auf der Flucht vor der brasilianischen Militärdiktatur ging er ins Exil
nach Polen, um dort die vom jugoslawischen Modell inspirierten
Selbstverwaltungsmodelle zu studieren. Nach seiner Rückkehr im Jahre
1970 baute er im Rahmen der brasilianischen Gewerkschaftszentrale CUT
die erste brasilianische Arbeiteruniversität auf und gründete 1980 das
bis heute bestehende Institut für Solidarische Ökonomie INCA. Zusammen
mit dem berühmten Pädagogen Paulo Freire und Marcos Arruda, dem
namhaften Theoretiker der Solidarische Ökonomie, rief er die
internationale "Allianz für eine pluralistische Welt" ins Leben. Diese
trieb bereits während der 1990er Jahre eine "Globalisierung von unten",
basierend auf dem Konzept der Weltbürgerschaft, voran.

Das Gespräch führte Leo Gabriel im Anschluss an das 4. Österreichische
Sozialforum (ASF), das vom 24. - 26. Oktober in Sankt Peter in der Au
(Niederösterreich) stattfand.

Südwind: Wie ist das, was wir heute Solidarische Ökonomie nennen, in
Brasilien überhaupt entstanden?

Claudio Nascimento: Ich habe gerade ein Buch über meinen Weg zur
Solidarischen Ökonomie geschrieben, die in der heutigen Form erst in den
1990er Jahren entstanden ist. Sie basiert aber auf viel älteren
Erfahrungen, wie etwa denen der ländlichen Kooperativen in der Zeit der
Militärdiktatur, aber auch auf verschiedenen Erfahrungen der
Arbeiterselbstverwaltung, die es in den Städten gegeben hat.

Es sind also einzelne Projekte, von denen die Solidarische Ökonomie
ausgegangen ist?

Ja, aber der Terminus bezieht sich eigentlich auf den Zusammenschluss
dieser Einzelprojekte, weshalb wir in Brasilien in den 1990er Jahren ein
Foro Nacional de Economia Solidaria (Nationales Forum der Solidarischen
Ökonomie) geschaffen haben. Der Solidarwirtschaft liegt eben das Konzept
der Vernetzung implizit zugrunde.

Wer oder was wird denn da miteinander vernetzt?

Einerseits sind es die selbstverwalteten Produktionsbetriebe,
andererseits aber auch die sozialen Bewegungen oder Gewerkschaften. Die
Solidarische Ökonomie ist eben nicht nur ein rein ökonomisches Konzept,
sondern setzt die Existenz von sozialen Bewegungen voraus. Beide sollten
auch vom Staat unterstützt werden, wenngleich das nicht überall möglich
ist.

Bei der Solidarischen Ökonomie handelt es sich um ein integrales
Konzept, durch das der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus
erfolgen soll. Letztendlich müssen wir den Staat verändern, wie das in
der Pariser Kommune oder in der Bewegung Emiliano Zapatas in der
mexikanischen Revolution der Fall war.

Ist die Solidarische Ökonomie also eine Ideologie?

Nein. Die Ideologie kommt später, dazu brauchen wir einen
Erziehungsprozess, der lange dauern kann. Sie entsteht mit der Praxis
der Gemeinden, in denen es Versammlungen gibt - wie in Peru zu Zeiten
von Velasco Alvarado oder im Chile von Salvador Allende. Das Wichtige
dabei ist die Herausbildung eines sozialen Eigentums - wie heute in
Venezuela, wo sich ein soziales Eigentum gebildet hat, das weder ein
staatliches noch ein privates Eigentum ist.

Wie passt das mit dem Kampf der indigenen Völker um ihre Autonomie oder
mit dem Kampf um den Sozialismus, der den Klassikern zufolge ja eine
Machtergreifung durch die Arbeiterklasse zur Voraussetzung hat, zusammen?

Wir erleben heute eine Krise der Entwicklungsmodelle, die zum
Zusammenbruch des Realsozialismus in der Sowjetunion, aber auch zu einer
Krise innerhalb der Sozialdemokratie geführt hat. Aber es gibt auch eine
Krise der Demokratie, auf die schon Marx hingewiesen hat; er hat aber
seinen Ansatz auf die asiatische Produktionsweise beschränkt. Das
soziale Eigentum als Begriff findet sich aber auch bei Carlos Mariátegui
[Anm. d. Red.: Peruanischer Journalist und Linksintellektueller, Gründer
und bis zu seinem Tod 1930 Vorsitzender der KP Perus] in seinen "Sieben
Essays über die peruanische Realität", in denen er sich die indigenen
Völker zum Vorbild nahm, die weder Staats- noch Privateigentum kennen.

Wie sieht nun ein Staat aus, in dem die Wirtschaft nach den Prinzipien
der Solidarischen Ökonomie funktioniert? Ist sie überhaupt auf einer
Geldwirtschaft aufgebaut?

Es handelt sich dabei darum, eine konkrete Utopie zu verwirklichen. Die
Solidarische Ökonomie braucht öffentliche Investitionen, man braucht
also Geld. Deshalb haben wir in Brasilien so genannte "Volksbanken"
entwickelt, in denen die lokalen Gelder verwaltet werden. Mit diesen
Geldern kann man in Brasilien sogar im Supermarkt bezahlen - wie in
Katalonien während des spanischen Bürgerkriegs.

Was ist also der Vorteil im Vergleich zur kapitalistischen Ökonomie?
Sind dort die Preise tatsächlich niedriger, gibt es weniger Arbeitslose
und größeren Wohlstand?

In der Solidarischen Ökonomie gibt es keine Gehälter - die Produkte
werden verkauft und der Gewinn wird aufgeteilt; das kann manchmal besser
und manchmal schlechter sein.

Rein quantitativ gesehen: Gibt es viele solcher Projekte in Brasilien?

In Brasilien gibt es tausende Erfahrungen, ich habe eine Forschung
darüber gemacht, es gibt sie überall, im armen Nordosten ebenso wie im
reichen Süden. Im Nordosten gibt es Agroindustrien, aber auch
zehntausende kleine Betriebe. Insgesamt sind bereits Millionen Menschen
in die Solidarische Ökonomie integriert.

Welche Chancen gibt es angesichts der gegenwärtigen Finanzkrise, einen
qualitativen Sprung in Richtung Solidarische Ökonomie zu machen?

Wir wissen nicht, welches Ausmaß die Strukturkrise haben wird, die sich
in jedem Land anders gestaltet. In Brasilien sagt man, dass die härteste
Zeit 2009 beginnen wird. Die Regierung wird das Budget kürzen müssen und
es wird weniger Investitionen geben. Das bedeutet, wir haben dann
Millionen Arme, die kein Fleisch mehr essen können, die kein Geld haben
werden, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Das wird die Probe aufs
Exempel für die Solidarische Ökonomie sein.

Glauben Sie, dass es in Europa möglich ist, eine Solidarwirtschaft
aufzubauen, oder ist es hier viel schwerer, sie umzusetzen?

Ich war 2004 in Frankreich, um die Solidarwirtschaft zu diskutieren,
aber die Gewerkschaften beteiligten sich nicht. Dort gibt es auch
Erfahrungen mit der Selbstverwaltung. Wir müssen einfach mehr tun. Das
Problem in Europa scheint mir zu sein, dass durch die Krise die
politische Rechte an Stärke gewinnt. Das ist der Unterschied zu
Brasilien, wo wir im Rahmen des Weltsozialforums in Belém einen großen
Schritt vorwärts machen werden. Aber trotzdem gilt der Spruch Pascals:
der Kampf ist eine Herausforderung; und Mariátegui hat einmal gesagt:
Ich kämpfe, daher bin ich.

Leo Gabriel hat zum WSF und zur Solidarökonomie in Brasilien eine
30-minütige TV-Dokumentation gestaltet. Sein Interview mit Walden Bello,
dem philippinischen Globalisierungsgegner, Alternativnobelpreisträger
und Parlamentarier zu ähnlichen Themen ist unter „Begegnungswege“ in
http://cba.fro.at zu hören.

Die vollständigen Texte - auch weitere zum Thema "Solidarische
Wirtschaft" - findet ihr im „Südwind Magazin“ 2/2009,
www.suedwind-magazin.at

-- 

Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
Center for Encounter and active Non-Violence
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