[E-rundbrief] Info 824 - Dorothee Soelles Engagement

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
Di Apr 28 09:14:12 CEST 2009


E-Rundbrief - Info 824 - Dorothee Sölle: Hunger nach Sinn; Die Weiße 
Rose des Widerstands blüht auch heute (Rede vor dem Amtsgericht in 
Schwäbisch Gmünd am 24. April 1986 zu ihrem Protest gegen die 
Stationierung von US-Atomraketen).

Bad Ischl, 28.4.2009

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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Hunger nach Sinn

	Ich werde manchmal gefragt,
	warum ich denn "immer noch" für Gerechtigkeit,
	Friede und die gute Schöpfung eintrete.
	"Immer noch?" frage ich zurück,
	wir fangen doch gerade erst an,
	aus der Verbundenheit mit dem Leben heraus,
	zu kämpfen, zu lachen, zu weinen.
	Wir können uns doch nicht auf das geistige Niveau
	des Kapitalismus zurückschrauben
	und ständig "Sinn" mit "Erfolg" verwechseln.

	Das ist eine lebensgefährliche Verwechslung,
	wenn wir das Leben zurückrechtstutzen
	auf das Machbare und das,
	was sich konsumieren lässt.
	Meine Tradition hat uns wirklich mehr versprochen!
	Ein Leben vor dem Tod, gerechtes Handeln
	und die Verbundenheit mit allem, was lebt,
	die Wölfe neben den Lämmern und Gott nicht oben
	und nicht später, sondern jetzt und hier.
	Bei uns, in uns.

				(Dorothee Sölle)


DOROTHEE SÖLLE: DIE WEIßE ROSE DES WIDERSTANDS BLÜHT AUCH HEUTE

Am 27. April war der Todestag von Dorothee Sölle, deren Texte uns sehr
fehlen - gerade heute in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise.

Das Lebenshaus Schwäbische Alp hat aus diesem Anlass das obenstehende
Gedicht und den folgenden Text veröffentlicht:
http://www.lebenshaus-alb.de/magazin/005709.html

Informationen über Dorothee Sölle findet man / frau auch unter:
http://www.dorothee-soelle.de/

Mit solidarischen Grüßen

Matthias Reichl


Dorothee Sölle: Die Weiße Rose des Widerstands blüht auch heute

Am 27. April 2009 jährt sich zum sechsten Mal der Todestag von Dorothee
Sölle. Sie war als Theologin und Schriftstellerin nicht nur mit Worten
engagiert, sondern auch durch konkretes Handeln. Wir erinnern
nachfolgend an Dorothee Sölle mit einer Rede vor dem Amtsgericht in
Schwäbisch Gmünd, die sie dort am 24. April 1986 zu ihrer Verteidigung
hielt. Angeklagt war sie für ihre Teilnahme an einer an einer
Blockadeaktion am 6.8.1985 auf der Zufahrtsstraße zum US-Militärdepot in
Mutlangen, in dem damals Pershing-II-Atomraketen stationiert waren.

Von Dorothee Sölle - Rede vor dem Amtsgericht in Schwäbisch Gmünd am 24.
April 1986

Herr Richter, Herr Staatsanwalt, liebe Freunde des Friedens,

am Hiroshimatag, dem 6. August vorigen Jahres, saßen wir, etwa 15
Personen, in Mutlangen vor der Militäranlage, in der heute neue und
größere Hiroshimas vorbereitet werden. Wir behinderten für ein paar
Stunden die Vorbereitung des Verbrechens und das Training der
Beteiligten. Heute stehe ich deswegen hier vor Gericht: meine Absicht
wird "verwerflich" genannt, mein gewaltloses Sitzen wird aufgrund einer
Sprachmanipulation, die auch in der an Verdrehungen nicht armen
deutschen Rechtsgeschichte einmalig ist, "Gewalt" genannt. Dass mich das
erwartete, wusste ich vorher. Was ich nicht wusste, war, dass ich vor
einem Richter stehe, der schon vor diesem Prozess in der Verhandlung vom
23. März 1986 öffentlich erklärte: "Jens und Greinacher sind verurteilt,
Sölle steht zur Verurteilung an", und sich dann, als Unruhe im Saal
entstand, dazu herabließ, "Verhandlung" statt "Verurteilung" zu sagen,
es sei, so der Herr Richter, "ein Freudscher" gewesen. Dieser Vorfall
ist eidesstattlich bezeugt. Meine Anwältin und ich haben erwogen, dieser
verbalen und unterbewussten Vorverurteilung wegen den Herrn Richter
wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen. Wir haben dann davon
Abstand genommen, weil wir uns nicht viel davon erhoffen.

Auch ein anderer Vertreter dieses Gerichts ist vermutlich "befangen",
nämlich vorverurteilend, auch in anderen Fällen wurde hier im Sinne
einer Fließbandproduktion ohne Ansehen der Motive oder der
Lebenssituation der Person verurteilt, und es scheint mir gerecht zu
sagen, dass der Prozess eine Farce ist, in der weder die Wahrheit
ermittelt noch Recht gesprochen werden darf. Das Gericht erscheint als
der verlängerte Arm der Staatsmacht, die, um einen theologischen
Ausdruck zu gebrauchen, dem "Projekt des Todes" dient: sie führt die
Kriegsvorbereitung mit Präzision und Brutalität durch. Mehr Bomben, mehr
Giftgas, mehr Forschung für SDI auf der einen Seite und mehr Sozialabbau
und Verhungernde in den armen Ländern auf der anderen Seite - das ist
das große Projekt des Todes, das hier im Amtsgericht zu Schwäbisch Gmünd
nun auch juristisch gerechtfertigt und beschützt werden soll. Das
Projekt des Todes ist der Militarismus, der Krebs, der unser Land
überwuchert und erstickt, dessen Metastasen in alle Lebensbereiche
eindringen: in Medizin und Städteplanung, in Straßenbau und
Industrieproduktion, in Erziehung und Kultur, in die Theologie und auch
in das Rechtswesen.

Der Militarismus, d.h. die Vorherrschaft militärischen Denkens,
sogenannter Sicherheitsfragen über alle anderen Lebensbereiche, nimmt
den Bürgern ihre Erholungsgebiete und Schrebergärten weg, so wie er den
Jugendlichen die Freiheit zu lernen und zu denken beschneidet; wenn sie
Glück haben, dürfen sie Tolstoj und Tucholsky, Mahatma Gandhi oder Jesus
noch lesen - aber anwenden, leben dürfen sie die Bergpredigt nicht.

Sollte das Rechtswesen wirklich frei von diesem Krebs sein? Ich denke
auf der völkerrechtlichen Ebene an die Weigerung der USA, den
Internationalen Gerichtshof in Den Haag in Sachen Nicaragua auch nur
anzuhören, und ich denke auf der nationalen Ebene an unser Grundgesetz,
das in § 26, Absatz 1 sagt: "Handlungen, die geeignet sind und in der
Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu
stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten,
sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen".

Vor genau zehn Tagen, noch bevor die Amerikaner anfingen, Tripolis und
Bengasi zu bombardieren, fuhren hier die Konvois mit Atomsprengköpfen
und allem Zubehör, mit Computern zum Steuern ausgerüstet, wieder los und
stehen abschussbereit, um das Bombardement gegen die Zivilbevölkerung in
Libyen abzusichern. Das ist ein deutliches Signal an die Sowjetunion:
falls sie versuchen würde, Libyen zu unterstützen, käme es zum
Ersteinsatz, von deutschem Boden aus.
Und das Gericht sieht es als seine Aufgabe an, diese Waffen und die
dahinterstehende Politik zu beschützen, es klagt nicht diejenigen an,
die das friedliche Zusammenleben der Völker stören, oder diejenigen, die
ihrer Aufgabe, Schaden vom deutschen Volk abzuwehren, nicht nachkommen;
es beschuldigt und kriminalisiert vielmehr die Minderheit des Gewissens,
Menschen, die waffenlos und ohne jede Gewalt vor den Vernichtungsanlagen
sitzen.

In diesen Prozessen gegen die Friedensbewegung wird versucht, die
Wahrheit über das, was uns bedroht und andere schon heute umbringt, zu
verschweigen. Die bisherigen Urteile dieses Gerichts zeigen, wie man die
Motivation vom Täter trennt und die Gründe des Handelns ignoriert. Damit
trennen sie die Rechtsprechung von der Wahrheitsfindung, das Recht darf
mit der Wahrheit nicht in Berührung kommen. Warum steht das eigentliche
Verbrechen, die Aufrüstung, die Zerstörung des Lebens, die die Aufrüster
täglich betreiben, hier nicht zur Debatte? Warum versucht man uns, die
dieses Verbrechen sichtbar machen, zu kriminalisieren? Warum gibt es in
Ihrem Kopf, Herr Richter, keinen Platz für etwas, das zwar nicht erlaubt
ist - wie Blockieren, Behindern -, aber deswegen noch lange kein
Verbrechen? Warum verstehen Sie die Gewaltfreiheit nicht? Sind Sie so
besetzt von der Gewalt, der Sie sich unterworfen haben, dass Sie
außerhalb der Gewalt kein Handeln mehr sehen?

Ich möchte Sie hier erinnern an die großen Traditionen gewaltfreien
Handelns, die in unserem Land so unbekannt sind, dass unsere Gerichte
sie umlügen müssen in Verwerflichkeit und angebliche Gewalt.

Als ich am Hiroshimatag vor den Massenvernichtungsanlagen saß, dachte
ich an eine einfache Frau, eine Textilarbeiterin aus Montgomery,
Alabama, die eines Tages im Dezember 1955, als sie mit dem Bus nach
Hause fuhr, zur Gesetzesbrecherin wurde. Sie - die schwarze Frau -
setzte sich auf einen der Plätze im Bus, der bei Bedarf für Weiße
freigemacht werden musste. Hinten, wo die Schwarzen hingehörten, war
kein Platz mehr. Und weil sie müde war, ging sie nach vorn. Vom
Busfahrer aufgefordert aufzustehen, blieb sie sitzen. Drei andere
Schwarze erhoben sich und machten Platz. Rosa Parks aber, so hieß die
Frau, blieb auch nach der zweiten Aufforderung sitzen und wurde von der
herbeigeholten Polizei verhaftet. Nach diesem Ereignis organisierten die
Schwarzen einen Busstreik, der 382 Tage dauerte, an dem ein junger
Pfarrer namens Martin Luther King mitarbeitete.

Wir alle suchen heute einen Weg, der aus dem Kreislauf von Gewalt und
Unterwerfung, Unrecht und seiner Duldung, Verbrechen und seiner
Komplizenschaft herausführt. Die Situation war für Rosa Parks
unerträglich geworden. Ich stelle mir vor, dass sie geschwollene Füße
hatte und einfach nicht noch eine dreiviertel Stunde stehen konnte. Rosa
Parks hatte als Sekretärin einer schwarzen Organisation gearbeitet. Die
legalen Mittel, gegen die Benachteiligungen und Demütigungen der
Schwarzen zu kämpfen, waren erschöpft. Es hatte alles nichts genützt. So
geht es auch uns, die wir die Aufrüstung für ein Verbrechen halten.
Was können wir, die wir immer noch eine Minderheit sind, tun, um den
Wahnsinn aufzuhalten? Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Hoffnung auf
Wahlen und auf die langsame Veränderung der Parlamente sich mit der
Friedenshoffnung nicht verbindet. Welche anderen Mittel stehen denn zur
Verfügung, um gegen das Verbrechen anzugehen? Welche Rolle spielen denn
die bewussten Minderheiten, zu denen wir gehören?

Als geistiger Vater des bürgerlichen Ungehorsams gilt der Amerikaner
Henry Thoreau. Er lebte in der Zeit der Sklaverei und hat sich Gedanken
darüber gemacht, was Demokraten tun können, wenn die Mehrheit in ihrem
Land immer noch für die Sklaverei ist, die ja für viele eine
vorteilhafte und bequeme Einrichtung war; wenn also nur eine bewusste
Minderheit die Sklaverei als das Verbrechen begreift, das sie ist. Was
soll die Minderheit tun? Ist es genug, auf die nächste Wahl zu warten?
Thoreau hielt diese Duldung des Unrechts für eines freien Menschen
unwürdig und forderte zum passiven Widerstand, zur Nicht-Kooperation,
zum zivilen Ungehorsam auf.

Bei der Frage des Widerstands bewusster Minderheiten gegen Mehrheiten
geht es demnach also wesentlich um die Frage, ob es
gesellschaftspolitische Entscheidungen gibt, über die - auch in freien
Wahlen - nicht abgestimmt werden darf. Thoreau und seine vielen
Nachfolger haben diese Frage immer dann bejaht, wenn es um die Würde des
Menschen, die auch nach unserem Grundgesetz unantastbar sein muss, geht.
Und um die Würde des Menschen geht es ganz zentral in der Frage der
Sklaverei wie auch in der Frage der Kriegsvorbereitung.

Viele amerikanische Christen in der Friedensbewegung vergleichen denn
auch unsere heutige Situation mit der der Sklaverei: noch erpressen wir
andere mit der atomaren Sklaverei, noch erpressen wir andere mit der
atomaren Vernichtung alles Lebens, noch lassen wir uns unter der Logik
des Wahnsinns versklaven. Wir leben heute in einer Übergangszeit; noch
glaubt die Mehrheit an den Krieg als den letzten Ausweg, und nur eine
bewusste Minderheit begreift die Aufrüstung als ein Verbrechen. Wie kann
diese Minderheit des Gewissens die Mehrheit auf ihre Seite ziehen, so
dass allmählich alle begreifen, dass Aufrüstung keines unserer Probleme
löst, sondern unser aller Leben auf diesem kleinen Erdball bedroht? Wann
werden wir die Sklaverei los, wann wird uns der Krieg ebenso unmöglich
sein wie die Sklaverei, wann werden wir aufhören, ihn zu planen und
vorzubereiten?

Thoreau war ein sehr demokratischer Denker. Er glaubte nicht, dass die
amerikanische Regierung Tausende wie Kriegsgefangene ins Gefängnis
stecken würde; er meinte, die moralische Kraft der Minderheit sei
stärker als die Bequemlichkeit der Mehrheit; er dachte, eine
demokratische Regierung sei nicht nur dem formalen Recht, sondern der
Gerechtigkeit und dem Auftrag, Frieden zu schaffen, verpflichtet. Er
rief die bewusste Minderheit zum sichtbaren Widerstand, zur Verletzung
von Regeln und Polizeigeboten, zur Illegalität auf. Er glaubte, dass
eine Regierung sich auf Dauer nicht ohne die bewusste moralische
Minderheit eines Volkes halten kann.

Gandhi hat über sich selber aus der Zeit, ehe er zur Gewaltfreiheit kam,
einen nachdenklichen Satz gesagt: "Als Feigling hielt ich mich an die
Gewalt." Ich glaube, das ist die normale Situation von uns allen: als
Feiglinge halten wir uns an Gewalt, und zwar im doppelten Sinn: Wir
glauben an die Gewalt, und wir unterwerfen uns ihr. Wir denken, dass nur
die Gewalt uns schützen kann, die Prügelgewalt, die Strafgewalt, die
Militärgewalt, die Atomgewalt. Als Feiglinge unterwerfen wir uns der
Gewalt und denken, man kann doch nichts machen. Ich glaube, dass
Millionen Menschen genau dieselben Gedanken und Gefühle wie wir haben
über die Hochrüstung, über die kriegstreiberischen Reden der Reagan und
Weinberger, über den Staat, der als Großterrorist in Libyen bombt. Sie
haben genauso Angst vor der Militarisierung unseres Landes und vor den
Führern, die die Megatoten einplanen. Aber sie haben sich der Gewalt
unterworfen, sie leben in Resignation. Was können wir schon tun? Wir
sind abhängig von den Amerikanern; der kleine Mann hat nichts zu sagen.
Das ist es, was Gandhi meinte, als er sagte: Als Feigling hielt ich mich
an die Gewalt - ich vertraute ihr, und ich unterwarf mich ihr.

Wir blockieren die Massenvernichtungsbasen, weil wir uns der Gewalt
nicht mehr unterwerfen wollen. Gewaltfrei handeln, ist ein Akt der
Freiheit, der Freiheit, den Kreislauf der Gewalt zu unterbrechen. Einer
der freiesten Menschen, die ich kenne, ist der gewaltfreie Pazifist
Daniel Berrigan . Er ist frei, vor Gericht zu reden oder zu schweigen;
frei, einem Befehl Folge zu leisten oder sich zu widersetzen; frei, mit
anderen zusammen atomare Sprengköpfe unschädlich zu machen, und frei,
ins Gefängnis zu gehen. Er ist nicht zerbrochen worden in langen Zeiten
im Gefängnis; er hat sein Lachen behalten, seine Geduld, seine Versuche,
andere auch zur Gewaltfreiheit zu verlocken. Es ist eine Freiheit, die
sich nicht von dem Erfahrungswissen, dass nur Gewalt uns Sicherheit
gibt, knechten lässt. Im Römerbrief heißt es: "Stellt euch nicht dieser
Welt gleich, sondern verändert euch durch Erneuerung eures Sinnes" (Röm.
12, 2).

Nichts bestimmt diese Welt heute so sehr wie ihre globale
Militarisierung, die Einbildung, nur durch Krieg und durch angedrohte
Vernichtung ließen sich Konflikte lösen, ließe sich Freiheit retten.
Propheten und Pazifisten bringen zu allen Zeiten ihren Protest gegen die
staatliche Willkür und ihre Vision von einer menschlichen Zukunft nicht
nur durch Worte, Erklärungen und Appelle zum Ausdruck, sondern auch
durch symbolisches Handeln. Ich denke an Jeremia, der sich auf einem
öffentlichem Platz ein Joch auflegt, um die kommende Niederlage seines
Volkes provokativ - heute würden wir sagen: verkehrsbehindernd -
darzustellen (Jer. 28). Oder an Ezechiel, der in bewusstem Gegensatz zur
öffentlichen Meinung in seiner äußeren Erscheinung die künftige
Katastrophe vorwegnimmt, sich Haupt- und Barthaar schert, um das
Kahlrasieren seines Landes durch die babylonische Armee zu demonstrieren
(Ez. 5). Und vor allem denke ich an Jesus, der das wichtigste religiöse
und rechtspolitische Gesetz, die Sabbatbestimmungen, übertrat. Er
pflückte Ähren ab, weil Menschen um ihn hungerten; er heilte Kranke am
Sabbat, darunter solche, die viele Jahre lang gelähmt oder behindert
waren und ohne Schaden bis zum Montag hätten warten können -
symbolisch-provokative Akte der Gesetzesübertretung, des
Konventionsbruchs. Jesus wollte mit diesen Verletzungen der
Gesetzesregeln auf Unrechtszustände aufmerksam machen. Er stellte somit
eine Art Gegenöffentlichkeit dar.

Genau das haben wir in den letzten Jahren in der Friedensbewegung
eingeübt. Wir haben gelernt, dass bestimmte Aktionen gegen bestehende
Gesetze oder Regeln verstoßen, also illegal sind, zugleich aber von
unserer Seite völlig gewaltfrei ablaufen, d. h. keine Menschen bedrohen.
Wenn die Schwarzen in der Bürgerrechtsbewegung in ein Lokal gingen, das
nur für Weiße bestimmt war, so handelten sie illegal. Sie wurden
ignoriert, beschimpft, geschlagen und hinausgeworfen, verhielten sich
selber aber gewaltfrei. Genau an diese Erfahrungen knüpft die
Friedensbewegung heute an. Natürlich ist es illegal, einen
Munitionstransport zu blockieren, aber ist es Gewalt? Sind hier nicht
vielmehr die Menschen an der Arbeit, die einzig noch Hoffnung
verkörpern, weil sie der herrschenden Gewalt des Militarismus, der immer
gigantischeren Aufrüstung und der Unterdrückung jeder Stimme, die noch
gegen die Mischung von Tötungs- und Todesbereitschaft angeht, ein klares
NEIN entgegensetzen?

Und diese Menschen brauchen Geduld und eine neue politische Kultur, die
sich unter anderem auszeichnet durch den Ausschluss der Staatsgewalt
oder des Staatsterrorismus, durch Verzicht auf die jetzt noch üblichen
Formen des steinzeitlichen Umgangs miteinander, Verzicht auf das, was
traditionell Krieg heißt, wofür man aber eine andere sprachliche
Formulierung bräuchte, denn wir haben heute keine Waffen mehr, sondern
Massenvernichtungsmittel. Die Nazis haben das Gas, das sie in Auschwitz
verwendet haben, ja auch nicht "Waffe" genannt.

Und die Leute, die mit den heutigen Massenvernichtungsmitteln ihre
Planspiele betreiben, sind Verbrecher. Auch diejenigen, die sich nur
versteckt und mitmachend, konformistisch mit dem Tod identifzieren,
zerstören ihr Leben: sie leben auch jetzt nicht.

Diese neue Kultur muss durchdrungen sein von einer tiefen Liebe zum
Leben. Ich finde in einer Endzeitverzweiflung, die wie gebannt auf die
Katastrophe starrt, ohne den Kampf und die Auseinandersetzung noch
wahrzunehmen, ein Stück Zerstörtheit, Zynismus und Menschenverachtung.
Um kämpfen zu können, braucht man eine Hoffnung. Man muss Bekehrung, wie
etwa die von Franz Alt , für möglich halten. Die Hoffnung, dass die
Blinden sehend werden und die Tauben hörend, nennt man in der Sprache
der Religion Glauben - Glauben an die Veränderbarkeit von Menschen durch
erfahrene Liebe und Gerechtigkeit. Die Hoffnung darauf, dass der Todes-
und Mordwunsch nicht das letzte ist, was die Menschen beseelt, die
Gewissheit einer Lebens-Kraft, die auch im anderen, in meinem
politischen Gegner, ist, und die nicht aufgebraucht ist, wenn ich
aufgebraucht bin, das ist Gott.

Warum wollen Sie diese jungen Menschen, die die größte Hoffnung
ausdrücken, die es in unserem Land zur Zeit gibt, kriminalisieren? Wir
können heute objektiv feststellen, dass die Analysen und Prognosen der
Friedensbewegung richtig waren und sich bis weit in das konservative
Lager hinein bestätigt finden. Wir haben in der Friedensbewegung
nachgewiesen, dass die Mittelstreckenraketen nicht wegen der
sowjetischen SS-20 stationiert wurden, sondern unabhängig davon, um die
"Eskalationsdominanz" zu behalten, wie es jetzt in der FAZ (22. 2. 86)
zu lesen ist. Die "Wahrheit über die Nulllösung" ist nach derselben
Zeitung, dass sie nie vom Westen gewollt war, sondern nur als
Propagandabeschwichtigung eingesetzt wurde. Im selben Artikel wird auch
das Wort "Doppelbeschluss", das uns an ein Verhandlungsinteresse des
Westens glauben machen sollte, durch das klare Wort
"Stationierungsbeschluss" ersetzt und der Vorschlag Gorbatschows, alle
europäischen Atomwaffen bis zum Jahr 2000 abzubauen, von vornherein als
gefährlich abgelehnt.

Heute, nachdem die Ziele der Strategischen Verteidigungsoffensive klar
definiert worden sind, verstehen wir besser als je zuvor, welchen Sinn
unsere Ersteinsatzwaffen haben. Wenn die USA oder zumindest ein Teil
ihrer Bevölkerung und alle ihre Vernichtungspotentiale unverwundbar
gemacht sind, dann können die europäischen Waffen jederzeit eingesetzt
werden - die russische Vergeltung trifft ja nur Europa. Schutz der USA
und Vermehrung der Offensivwaffen in Europa - das sind die erklärten
Ziele der über uns herrschenden Großmacht.

Ist die deutsche Justiz als Büttel dieser Herren angestellt? Glauben Sie
wirklich, Sie könnten den Geist des Widerstands, die Sehnsucht nach
einem Frieden, der nicht auf Staatsterror und Militarismus aufgebaut
ist, sondern auf wirtschaftlicher Gerechtigkeit, die Kraft des Geistes,
der uns tröstet und Mut macht, auslöschen? Ich bin froh, dass ich in
dieser Zeit lebe, in der so viel Widerstand gegen das System der Gewalt
und des staatlich-militärischen Terrors sich regt. Ich bin stolz auf die
jungen Leute, die heute um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden und
um des Friedens willen im Gefängnis sitzen. Sie sitzen für uns alle
dort, in der Hoffnung, dass unser Land eines Tages wieder friedensfähig
wird. Dafür kämpfen wir, dafür arbeiten wir.

Noch versuchen Sie, uns einzuschüchtern und uns abzuschrecken, aber wir
geben unser Ziel, unser Land wieder friedensfähig zu machen, nicht auf.
Sie können uns verurteilen, aber Sie können Frauen wie meine Schwestern
und mich nicht zum Schweigen bringen, nicht kalt machen. Es ist, als
wollten sie den Rosen das Blühen verbieten. Aber die Weiße Rose des
Widerstands blüht heute hier in Westdeutschland. Als wollten Sie die
Sonne verhaften. Aber die Sonne scheint.

Für ihre Teilnahme an der Blockadeaktion vor der Pershing-II-Stellung am
6.8.1985 wurde Dorothee Sölle in der Hauptverhandlung am 24.4.1986 am
Amtsgericht Schwäbisch Gmünd von Amtsrichter Krumhard zu 20 Tagessätzen
je DM 100.- verurteilt.

-- 

Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
Center for Encounter and active Non-Violence
Wolfgangerstr. 26, A-4820 Bad Ischl, Austria,
fon: +43 6132 24590, Informationen/ informations,
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