[E-rundbrief] Info 812 - Rb 132 - M. Mies: Suche nach neuer Vision
Matthias Reichl
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Mo Mär 16 20:55:31 CET 2009
E-Rundbrief - Info 812 - Rundbrief Nr. 132 - Maria Mies (D): Die Suche
nach einer neuen Vision. Auszug aus dem Buch „Das Dorf und die Welt“
(Seite 285 - 94), PapyRossa Verlag.
Bad Ischl, 16.3.2009
Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit
www.begegnungszentrum.at
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Die Suche nach einer neuen Vision
Maria Mies
Auszug aus „Das Dorf und die Welt“ (Seite 285 - 94)
Oberflächlich betrachtet, sind die Aussichten für eine Vision düster.
Nicht nur im Süden, sondern auch im reichen Norden. Die "sieben fetten
Jahre" sind vorbei. Für die Kinder und die Jungen bedeutet die Zukunft
brutaler Wettkampf um Arbeitsplätze, permanenter Stress und ein
ungesichertes Alter. Die Alten erwartet in der Regel kein glückliches,
zufriedenes Lebensende im Kreise lieber Menschen, sondern Einsamkeit und
ein Dahinvegetieren in Alters- und Pflegeheimen. Obwohl die USA und
Europa immer noch die Hauptprofiteure der neoliberalen Globalisierung
sind, grassiert hier zunehmend die Volkskrankheit Depression. Viele
Menschen, auch erfolgreiche, fühlen sich hilflos. Auch den kritischen
unter ihnen, auch denen, die bisher tapfer, für eine andere, bessere
Welt gekämpft haben, fällt es schwer nicht zu resignieren. Sie sehen,
dass die transnationalen Großkonzerne trotz Klimakatastrophe,
Arbeitslosigkeit, wachsender Armut und Ungerechtigkeit im Süden wie im
Norden fortfahren mit ihrer Politik des Globalisierens, Liberalisierens
und Privatisierens (GLP) und der Verwandlung aller Dinge in Waren. Dass
immer mehr Leute ihre Wut auf die Straße tragen, irritiert sie zwar,
aber es ändert nichts an ihrer Grundphilosophie des permanenten
Wachstums und Akkumulierens.
Bei meinen Vorträgen fragen mich manche Leute "Woher beziehen Sie denn
Ihren Optimismus, Ihre Hoffnung? Was ist Ihre Vision?" Ja, woher wohl?
Vielleicht liegt es daran, dass ich als Kind noch erlebt habe, dass wir
den ganzen Ramsch gar nicht brauchen, um ein glückliches Leben zu haben.
Vielleicht kommt mein Optimismus von meinen vielen Freundinnen im Süden,
die unter viel härteren materiellen Umständen die Hoffnung nicht
verlieren, sondern zupacken, wenn wieder einmal eine Katastrophe droht
oder die Brutalität der Konzerne, im Verbund mit der Regierung zu krass
wird. Dorothee Sölle hat den Optimismus der Armen in Südamerika einmal
so ausgedrückt: "Arme haben keine Zeit für Pessimismus. Pessimismus ist
ein Luxus der Reichen."
Außerdem ist Pessimismus unrealistisch. Ein Pessimist kann keine
Zukunftsperspektive entwickeln, die den Menschen Hoffnung gibt. Da halte
ich es lieber mit meiner Mutter, die nach dem Zweiten Weltkrieg sagte:
"Das Leben muss (soll) weitergehen". Und sie brachte ihre Sau zum Eber
(s. o.) Das Problem scheint sich heute jedoch anders zu stellen, als
nach dem Zweiten Weltkrieg. Es geht den Leuten nicht mehr nur um das
nackte Überleben. Eigentlich wollen sie das "Gute Leben".
Ich hörte jedoch, dass sich viele Leute in den USA fragen: "Wir arbeiten
und arbeiten. Wir investieren und konsumieren bis ins hohe Alter. Doch
wann kommt das 'Gute Leben'?"
Es herrscht große Ratlosigkeit in Bezug auf eine neue Zukunftsperspektive.
Attac hatte den Slogan: "Eine andere Welt ist möglich" auf seine Fahnen
geschrieben. Doch was für eine Welt sollte das sein?
Am Pfingstsamstag 2002 organisierte ich mit Dorothee Sölle und Mechthild
Höflich, meiner früheren Kollegin, noch einmal ein Politisches
Nachtgebet in der Antoniterkirche in Köln zum GATS. Als Motto wählten wir:
Eine andere Welt ist notwendig!
Eine andere Welt ist möglich!
Eine andere Welt hat schon begonnen!
Diese Slogans klingen zwar ganz optimistisch. Konnten sie aber die
Perspektivlosigkeit so vieler Mensche, vor allem der Jungen, beseitigen?
Mussten wir uns nicht noch einmal fragen, was das für eine Welt ist, in
der wir heue alle leben? Was ist das für ein System? Mir ging auf, dass
die Schwierigkeit, eine andere Vision zu entwickeln daran liegt, dass
das weltweit herrschende kapitalistische System eine neue Religion ist.
Das Kapital als Religion
Wenn wir keine anderen Visionen haben, bleibt uns nichts anderes übrig,
als uns der strukturellen Gewalt und den Visionen der unendlichen
Warenproduktion und Kapitalvermehrung zu unterwerfen und zwar mit Haut
und Haaren.
Der Gott dieser Religion ist das Kapital, genauer, das patriarchale
Kapital. Dieser Gott ist unsichtbar, (angeblich) unsterblich,
allwissend, omnipotent, allgegenwärtig und muss immer wachsen. Er gilt
als die Quelle allen Lebens. Das ist noch nie so deutlich gewesen wie
heute im Zeitalter der konzerngesteuerten, neoliberalen Globalisierung.
Dieser Gott hat nicht nur seine Kirchen: die Banken und
Konzernzentralen, sondern auch seine Priesterschaft und seine Theologen.
Dies sind die Wirtschafts- und Naturwissenschaftler und die Technokraten.
Sie machen alles, was machbar ist und Geld bringt. Wie jede Religion
basiert auch die der unendlichen Geldvermehrung auf einem Credo, an das
man glauben muss, selbst dann wenn unsere ganze Erfahrung uns sagt, dass
das nicht stimmt. Das Credo des Neoliberalismus lässt sich kurz so
zusammenfassen: Globaler Freihandel schafft Wachstum. Wachstum schafft
Arbeitsplätze und Wohlstand für alle, die Voraussetzung für Gleichheit,
Freiheit, Demokratie und Frieden.
Dass dieses Credo heute von so vielen Menschen geglaubt wird, liegt u.
a. daran, dass das Volk im Dunklen gelassen wird über das, was globaler
Freihandel und Institutionen wie die WTO, die Weltbank, der IWF und die
Regierenden im Dienste der Konzerne weltweit anrichten.
Wenn Sie jedoch fragen, was denn Globalisierung eigentlich bedeutet,
bekommen Sie die abenteuerlichsten Erklärungen zu hören: globale
Vernetzung durch das Internet, die zu einem "globalen Dorf" führe,
Begegnung der Kulturen, Verbreitung von Demokratie, Freiheit, Gleichheit
und schließlich Ewiger Friede. Die multinationalen Konzerne werden nicht
müde, diese neue Sozialutopie als Resultat ihrer Freihandelspolitik zu
predigen. Doch die kürzeste und meiner Meinung nach korrekteste
Definition des Begriffes Globalisierung wurde von dem ehemaligen
Verwaltungspräsidenten einer der größten transnationalen Firmengruppen,
der ASEA BROWN BOVERY (ABB) Gruppe, Percy N. Barnevik gegeben:
"Ich würde Globalisierung als die Freiheit für meine Gruppe von
Unternehmen definieren, zu investieren, wo und wann sie will, zu
produzieren, was sie will, zu kaufen und zu verkaufen,wo sie will, und
die möglichst geringsten Restriktionen zu unterstützen,die aus
Arbeitsgesetzen und sozialen Übereinkünften resultieren" (zit. in: Mies
2001, S. 7)
Dieser Definition ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen.
Die Vision des globalisierten Kapitalismus ist im Grunde, dass es keine
Vision mehr gibt, dass man sich – pragmatisch – den gegebenen
Sachzwängen, wie der Schwerkraft unterwerfen muss. TINA.
Jede Religion hat ihre Dogmen, an die Mensch glauben muss. Herr Mauder,
einer der Priester dieser Religion, formulierte diese Dogmen so:
Wettbewerb ist am Ende die sicherste Methode, Arbeitsplätze zu schaffen
– auch wenn der Weg dahin manchmal rauh ist." (zit. in Mies/v.Werlhof
1998, S. 166).
Es geht also um Glauben: Ohne Wettbewerb keine Investition, ohne
Investitionen keine Arbeitsplätze. Ohne Arbeitsplätze kein Wohlstand,
keine Gleichheit, kein Frieden. Obwohl die tägliche Erfahrung uns zeigt,
dass diese Behauptungen nicht stimmen, sollen wir daran glauben. Also:
Credo quia absurdum. (Ich glaube, weil es widersinnig ist).
Jede Religion verlangt Opfer
Nach mehr als zehn Jahren globaler Freihandelspolitik hat sich
herausgestellt, dass die unbeschränkte Freiheit und extrem gestiegener
Reichtum einiger Personen und Konzerne erkauft wird mit zunehmender
Unfreiheit und wachsender Armut der meisten Menschen in der Welt. Diese
Kluft ist seit den achtziger Jahren nicht nur zwischen reichen und armen
Ländern wie nie zuvor gewachsen, sondern auch innerhalb der reichsten
Länder der Welt: USA, England, Deutschland und Frankreich. Inzwischen
geben selbst UNO-Organisationen und auch die Weltbank zu, dass die Kluft
zwischen Reich und Arm durch die weltweite Freihandelspolitik in den
vergangenen Jahren enorm gewachsen ist.
In der Dritten Welt ist die Kluft zwischen den Globalisierungsgewinnern
und den Globalisierungsverlierern natürlich noch dramatischer. Denn hier
bedeutet Globalisierung für viele Menschen einfach, dass ihr Überleben
bedroht ist. Das Eindringen großer multinationaler Konzerne in die
Landwirtschaft dieser Länder konkurriert die Kleinbauern zugrunde. Die
Lieferung von Agrarüberschüssen aus den USA und der EU in diese Länder
zu Schleuderpreisen vernichtet Millionen von Kleinbauernexistenzen, die
aber dann auch keinen alternativen Arbeitsplatz in der Industrie finden.
Die ökologischen und sozialen Folgen der Globalisierung haben in Indien
zu ganzen Epidemien von Selbstmorden von Bauern geführt, die zunächst
den Versprechungen des Agrobusiness geglaubt haben, z.B. dass
gentechnisch manipulierte Baumwolle produktiver sei. Der Anbau dieser
Baumwolle war eine einzige Katastrophe, viele Bauern machten bankrott
und sahen nur noch einen Ausweg im Selbstmord.
Am 29. Februar 2008 las ich, dass inzwischen auch im reichsten
Bundesland Indiens, im Pandschab, Massen von verschuldeten Bauern
Selbstmord begehen.
Zu den Opfern dieser neuen Religion gehören u.a. die Demokratie, die
Umwelt, die Gesundheit, und die Arbeiter-, Sozial- und Menschenrechte.
Den Menschen, die in Seattle, Prag, Washington, Nizza und Davos auf die
Strasse gingen, war klar, dass Globalisierung, Liberalisierung,
Privatisierung (GLP) nicht nur die Kluft zwischen den Reichen und
Mächtigen innerhalb und zwischen den Ländern verbreitet hat, sondern
dass auch die in mehreren Jahrhunderten erstrittenen Arbeiter-, Sozial-
und Menschenrechte auf der Strecke bleiben, dass der Schutz und die
Bewahrung der Schöpfung dem ungehinderten Profitstreben nachgeordnet wird.
Doch trotz all dieser Opfer, trotz allen Protests, fahren die Priester
dieser Religion fort mit der Zerstörung aller Lebensgrundlagen auf
dieser Erde. Ihre Strategie scheint zu sein: Lasst die Hunde bellen, die
Karawane zieht weiter!.
Ich frage nun, wo soll in dieser versteinerten TINA-Welt eine andere
Sozialutopie entstehen, wenn der einzige Wert der Shareholder Value ist?
Ehe es wieder zu anderen Visionen kommen kann, müssen zunächst viele
Menschen in vielen Ländern vom Glauben an die Verheißungen des globalen
Kapitalismus abfallen.
Der Abfall vom Glauben und die Entwicklung neuer Visionen und Hoffnung
entstehen nicht in wissenschaftlichen Diskursen im geschützten Raum von
Hochschulen und akademischen Zeitschriften. Diese Umkehr ereignet sich
im Protest auf den Strassen. gegen die angeblich so übermächtigen Global
Players.
Eine andere Welt ist möglich
Mir wurde oft die Frage gestellt: "Wenn ihr gegen den globalen
Freihandel seid, welche andere Wirtschaft und Gesellschaft schlagt ihr
dann als Alternative vor?"
Die Antwort auf diese Frage fängt überall damit an, dass die Menschen
das TINA-Syndrom zurückweisen, dass sie aufhören, zu glauben, dass es
keine Alternative gibt.
"Eine andere Welt ist möglich" war der Slogan des 1. Sozialforums in
Porto Allegre, 2001. Die Via Campesina, das internationale Netzwerk
oppositioneller Bauernbewegungen formulierte den Slogan: Globalise
Resistance, Globalise Hope.
Genau darum geht es, die weltweite Protestbewegung gegen eine
Wirtschaftspolitik, die Wachstum und Profit über alles stellt, ist
gleichzeitig der Anfang der Hoffnung, dass eine andere Welt möglich ist.
Was mir selbst in all den Jahren des Widerstandes gegen die Macht der
Konzerne Hoffnung gab, war die Erkenntnis, dass die Menschen überall die
Kontrolle über ihre unmittelbaren Lenbensbedingungen wieder
zurückfordern. Sie akzeptieren nicht mehr, dass über ihr Essen, ihre
Luft, ihr Wasser, die Krankenversorgung, die Schulen, die Umwelt, den
Personennahverkehr, und viele andere Bereiche ihres unmittelbaren Lebens
in irgendwelchen Chefetagen ferner multinationaler Konzerne oder von
Bürokraten in Brüssel oder in Genf im Namen von globalen Abkommen, die
sie nicht einmal kennen, entschieden wird.
Für mich bedeutet diese Einsicht, dass eine ökonomische und politische
Kontrolle über unsere unmittelbaren Lebensbedingungen nur in kleineren
Wirtschaftsräumen möglich ist, in denen die Menschen noch, wie in Porto
Allegre tatsächliche demokratische Mitwirkung bei der Gestaltung der
öffentlichen Dinge haben können.
Diese Perspektive ist keine bloße Utopie, sondern wird z.B. in England
bereits ausprobiert. Ausgelöst wurde diese Bewegung dort vor allem durch
den BSE –Skandal. Die Menschen wollten wissen, was sie essen, sie
verlangen Nahrungssouveränität. Von Mai bis Juli 2001 fanden in vielen
Städten Märkte statt, wo neben Aufklärungscampagnen über den Slogan:
"Lokal Food for global Prosperity" lokale Produkte verkauft wurden. Die
englischen Grünen haben eine breitere Kampagne gestartet, die den Titel
hatte: Protect the local, globally (Schützen wir die lokale Wirtschaft,
aber global). Als Ökofeministin bin ich mit diesem Slogan einverstanden.
Was war/ist mit mir?
Ich fuhr fort, weiter Vorträge in der ganzen Welt über Globalisierung,
Krieg und Subsistenz zu halten, Artikel und Bücher zu veröffentlichen,
aber ich merkte, dass diese Art, die Welt verändern zu wollen, mich
immer mehr erschöpfte. Ich konnte zwar auf viele Beispiele hinweisen, wo
diese Perspektive mit Erfolg in die Praxis umgesetzt worden war. Ich
selbst hatte aber keine Energie mehr, ein eigenes Subsistenzprojekt mit
anderen aufzubauen.
Seit meiner Pensionierung hatte ich eine kleine Wohnung im Haus meiner
verstorbenen Tante, im Dorf meiner Mutter, Steffeln, gemietet. Wenn ich
Zeit hatte, floh ich aus der Stadt dort hin, denn ich merkte, dass die
Luft, der bloße Anblick dieser schönen Vulkanhügel, die weiten
Spaziergänge durch diese Landschaft mir gut taten.
Außerdem wohnen einige meiner Geschwister mit ihren Familien in diesem
und den Nachbardörfern. Mein Dorf Auel ist nur 1 km von Steffeln
entfernt. Alles das passte mir.
Mir passte es auch, als meine Kusine Maria-Agnes mich fragte, ob ich den
alten Bauerngarten ihrer Mutter, der hinter dem Haus lag, haben und
bearbeiten wollte.
Das wollte ich. Dieser Garten wurde für mich eine ständige Quelle der
Freude, der Erholung, der Ruhe und des sinnlichen Lebensgenusses.
Außerdem gewann ich durch die Gartenarbeit immer neue Erkenntnisse über
das, was Subsistenz konkret heißt.
In Steffeln konnte ich meinen Tag aufteilen, wie ich wollte. Vormittags
saß ich an meinem Tisch und schrieb meine Manuskripte. Meine Nichte Eva
tippte sie dann auf ihrem Computer ab – ich wollte in meinem Refugium
keinen Laptop haben. Mittags ging ich in den Garten und holte mir Salat,
Gemüse, Kräuter, die ich im Frühling gesät hatte. Kartoffeln kaufte ich
von Hans, dem Mann meiner Kusine, der mit seiner Frau den kleinen
Bauernhof seiner Schwiegereltern auch nach seiner Verrentung noch bis
heute weiter betreibt.
Es ist ein echter kleiner Mischbetrieb mit einigen Kühen, Hühnern,
Bienen und Feldwirtschaft, wo die beiden Getreide, Möhren und Kartoffeln
für den eigenen Bedarf anbauen.
Ich hatte alles, was ich zum Leben brauchte in nächster Nähe und in
bester, frischer Qualität: Milch und Eier bekam ich von Hans, Gemüse,
Beeren und Obst wuchsen in meinem Garten. Salz, Zucker, Öl, Nudeln,
Reis, Tee und Kaffe und auch anderes kaufte ich in dem kleinen Dorfladen
gegenüber, den die über achtzigjährige Edith immer noch mit Energie und
Heiterkeit betreibt. Was brauchte ich mehr für ein gutes Leben?
Lehren aus meinem Garten
1. Du musst mit der Natur mitwirken, wie meine Mutter immer sagte. Du
musst wissen, wann es Zeit ist, zu säen, zu jäten, zu ernten. Und dann
musst du da sein und mit-arbeiten. Du musst die Rhythmen der Natur
kennen und beachten, sonst gedeiht nichts. Du musst wissen, wann die
richtige Zeit ist, um das Notwendige zu tun. Das ist die erste Lehre aus
meinem Garten.
2. Du musst wissen, was die Pflanzen brauchen. Ein indischer Bauer
erklärte mir einmal seine Wissenschaft über das Gedeihen von Pflanzen.
Er sagte, die Pflanzen brauchen dasselbe wie ein Baby im Bauch der
Mutter, nämlich "Wärme, Feuchtigkeit und Liebe". Das war die zweite
Lehre aus meinem Garten: Wärme, Feuchtigkeit und Liebe.
3. Vielfalt und Sorgfalt ist die Grundlage des Lebens, nicht Monokultur.
Hans gab mir im Herbst Kuhmist, um damit den Garten zu düngen, wenn ich
wollte. Kunst-Dünger benutzte ich prinzipiell nicht. Ich düngte auch
nicht jedes Jahr mit Kuhmist, denn der vulkanische, dunkle Boden, den
meine Tante so viele Jahre gepflegt hatte, war so fruchtbar, dass er
nicht viele weitere Zugaben brauchte. Ich wusste noch aus meiner
Kindheit, das Bohnen Stickstoffspeicher sind. Darum folgte ich dem
Prinzip der Furchtfolge. Wo im letzten Jahr Bohnen gestanden hatten,
pflanzte ich in diesem Jahr Rote Beete oder Mangold oder Zwiebeln. Mein
Saatgut bestellte ich bei den "Dreschflegeln" – einer Gruppe von
Freunden, die sich zur Aufgabe gemacht hatten, ökologisch zu
wirtschaften und insbesondere alte z.T. ausgestorbene Pflanzensorten
wieder neu anzubauen, um die biologische Vielfalt zu erhalten. Hans
hatte mir eine Regentonne in den Garten gestellt, aus der ich genug
Wasser schöpfen konnte, um die Pflanzen zu gießen, wenn es länger nicht
regnete.
4. Die Natur ist nicht geizig. Der Garten brachte eine solche Fülle von
Beeren, Gemüsen, Kräutern, Salat, Zucchinis, Mangold und vor allem
Bohnen und anderes Gemüse hervor, dass ich immer zu viel hatte. Ich kam
immer mit Taschen und Körben voll mit Früchten aus meinem Garten zurück
nach Köln. Wir, mein Mann und ich, lebten davon. Meist verteilte ich
einen Teil davon an die beiden Nachbarfamilien in unserem Haus. Es war
immer zu viel da. Ein Bauerngarten wie der meiner Tante konnte ja eine
große Familie über das ganze Jahr ernähren. Was im Sommer und Herbst
nicht verzehrt wurde, wurde konserviert. Von meiner Kusine lernte ich
wieder alte Konservierungstechniken. Ich kaufte mir allerdings auch
einen Gefrierschrank, in den ich meine Gartenfrüchte einlagerte. Aber es
war dennoch zu viel.
5. Du musst teilen. Immer musste ich teilen und verteilen. Pflanzen sind
eben nicht Geld. Geld verdirbt nicht und kann deshalb gehortet werden.
Die Natur aber ist nicht geizig. Sie produziert immer mehr als was
gerade gebraucht wird. Sie ist großzügig und lehrt uns zu teilen. Das
ist die vierte Lehre aus meinem Garten. Ich lernte auch, dass dieses
Teilen nicht nur eine Notwendigkeit war, die sich aus dieser Art von
Produktion ergibt, sondern dass diese Produktionsweise auch die Menschen
und ihre Beziehungen untereinander prägte.
6. Ein Garten schafft neue Beziehungen zwischen Menschen. Oft kamen
Leute an dem Garten vorbei und fragten, ob ich noch Salatpflanzen
brauchen könnte, oder ob ich auch Schnecken im Garten hätte und was ich
dagegen tun würde. Ich hatte aber nicht viele Schnecken und benutzte
auch kein Gift, um sie zu vernichten. Über den Gartenzaun entstanden
neue Bekanntschaften und Beziehungen zu Leuten, die ich vorher nicht
gekannt hatte.
Ein Garten ist eben nicht nur ein Produktionsort für Obst und Gemüse
sondern er ist ein Ort der Begegnung, ein Ort neuer,
nachbarschaftlicher, reziproker, großzügiger Beziehungen von Menschen zu
Menschen.
Auszug aus dem Buch von Maria Mies: Das Dorf und die Welt.
Lebensgeschichten - Zeitgeschichten (der deutschen
Globalisierungsgegnerin und Aktivistin für Subsistenzwirtschaft und
weltweite Solidarität). PapyRossa Verlag, 2008, EUR 19,90
--
Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
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