[E-rundbrief] Info 795 - Ueberwachungs- Scoringgesellschaft

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
Mi Feb 11 15:39:44 CET 2009


E-Rundbrief - Info 795 - Dr. Hans G. Zeger (ARGE DATEN, A): Vom 
Überwachungsstaat zur Scoringgesellschaft; Buchtipp.

Bad Ischl, 11.2.2009

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

================================================


Vom Überwachungsstaat zur Scoringgesellschaft

Dr. Hans G. Zeger

Nicht die Angst vor dem Terrorismus, sondern der Wunsch Grund- und 
Freiheitsrechte zu zerstören treibt unsere Gesellschaft. Zählen und 
Auflisten bieten Orientierung in einer unübersichtlichen Welt und 
beruhigen. In Zukunft zählen nur mehr jene Subjekte, die als 
kreditwürdig genug bewertet wurden, um am gesellschaftlichen Leben 
teilzunehmen.

Die gängige Interpretation, Angst vor Terrorismus, die Anschläge von 
9/11, die Reaktion auf die Globalisierung, die Migrationsströme oder der 
Zusammenstoß verschiedener Kulturen und Religionen wären die Triebfedern 
für unseren Zug zur totalen Kontrolle, greift zu kurz.

Terrorismusangst und zivilisatorische Konflikte sind willkommene 
Vorwände um die Ausschaltung der Grundrechte zu rechtfertigen. 
Tatsächlich befriedigt Überwachung und Kontrolle die inneren Bedürfnisse 
nach Orientierung und Sicherheit.

Erfolgsgeschichte der Grund- und Menschenrechte

Europa hat eine rund 350jährige Erfolgsgeschichte der Grund- und 
Menschenrechte hinter sich. Seit Descarts Diktum "Ich denke, ich bin" 
(1637), das Wissen des Selbstwertes des Menschen, über die amerikanische 
Unabhängigkeitserklärung (1776), der Französichen (1789) und 
bürgerlichen (1848) Revolution, dem Staatsgrundgesetz (1867), der 
UN-Charta der Menschenrechte (1948) bis in die Gegenwart reicht die 
Entwicklung der Menschenrechte.

Dieser Erfolgsgeschichte steht seit zwei Jahrzehnten ein zunehmend 
stärker werdendes Projekt der Antimoderne gegenüber. Grund- und 
Freiheitsrechte seien obsolet, erklärt man uns, die Menschen würden sie 
missbrauchen, sie sind in einer globalisiserten Welt nicht effizient 
genug. Heute käme es darauf an, das Zusammenleben durch 
Geschäftsprozesse zu organisieren, reibungslos zu gestalten, zu 
automatisieren. Dazu müsse man über die Menschen möglichst viele Daten 
sammeln.

Listen- und Evidenzen statt Probleme lösen

Probleme sollen gelöst werden, indem Menschen identifiziert, als 
Datensätze verwaltet werden. Zu Recht konstatierte Jugendrichter 
Jesionek den Registerwahn Österreichs mit seinen hunderten Evidenzen. 
Zählen, Listen führen beruhigt, kleine Kinder versuchen mit einer 
unüberschaubaren Welt zurecht zu kommen, indem sie grüne Autos, 
Gehsteigfugen, Türklingeln oder Zaunlatten zählen. Erwachsen werden 
bedeutet auch, irgendwann zu erkennen, dass Zählen zwar beruhigt, aber 
nichts löst. Eine Gesellschaft, die ihre zentralen Konfliktfelder, 
Migration, Bildung, Gesundheit, soziale und persönliche Sicherheit, 
Gewalt in der Familie und institutionelle Gewalt bloß durch Evidenzen 
von Tätern und Opfern lösen will, wird scheitern. Sie wird keines der 
Probleme lösen, sich jedoch durch Vergeudung ihrer knappen Ressourcen 
buchstäblich zu Tode administrieren.

Bürokratische Monsterprojekte, wie die Bildungsdokumentation, das 
Registerzählungsgesetz oder der elektroniche Gesundheitsakt binden 
erhebliche personelle und finanzielle Kräfte, Ressourcen die bei der 
Entwicklung einer aufgeklärten Zivilgesellschaft fehlen.

Vom Präventiv- oder Alibistaat zum Scoringsystem

Der Überwachungsstaat, der jeden Lebensakt der Menschen registriert, ist 
längst abgeschlossen. Was jetzt ansteht ist ein Präventiv- oder 
Alibistaat. Aufgezeichnet wird jedes Verhalten, Telefonie und Internet 
sind als Vorratsdatenspeicherung der Anfang, Reise- oder Konsumverhalten 
die nächsten Schritte. Wenn Alles möglich ist, sind alle verdächtig und 
es muss alles über Alle präventiv aufgezeichnet werden.

Dieses Präventivsystem ist jedoch schwerfällig, es belastet und 
behindert, es ist nur ein Zwischenschritt und wird in ein Scoringsystem 
münden. Grundrechte wird es dann nur mehr für die VALIDs geben, jene 
Gruppe von Menschen, die einen genügend hohen Vertrauenswert erreichen.

Alles kann bewertet werden, wirtschaftliches Verhalten genauso, wie 
sozialer Status, Bildung und jugendliche Entwicklung. Absurd? 
Mitnichten, Scoringunternehmen beurteilen heute auf diese Art die 
Kreditwürdigkeit von Menschen. Arbeiter bekommen Abschläge gegenüber 
Angestellten, Ledige gegenüber Verheirateten, Junge gegenüber Alten, 
Zuwanderer gegenüber Eingeborenen, Bewohner bestimmter Häuser und 
Straßen sowieso.

Was für die wirtschaftliche Kreditwürdigkeit gilt, sollte auch für die 
soziale und politische gelten. Längst ist die Diskussion über 
Zweiklassen-Staatsbürgerschaften und Zwei-Klassen-Krankenkassen bis hin 
zum Zweiklassen-Strafrecht salonfähig.

"Gläserner" Bürger und Überwachungsstaat haben im Gegensatz zu dieser 
Scoring- und Screening-Gesellschaft noch geradezu tröstliche 
Perspektiven. Im "gläsernen Bürger" steckt der Bürger, er wird zwar 
durchleuchtet, aber noch als Ganzes wahrgenommen, in der Überwachung die 
Wache, jemand schaut auf mich. In der Scoring-Gesellschaft werden 
Menschen zu Zahlen abgewertet. Nur wer einen bestimmten Wert erreicht, 
ist lebenswert, ist wertvoll genug für diese Gesellschaft.

Nachtrag

Im Buch "MENSCH. NUMMER. DATENSATZ. Unsere Lust an totaler Kontrolle" 
habe ich in einem Streifzug durch alle persönlichen, öffentlichen und 
politischen Lebensbereiche dargestellt, wie tief durchdrungen unsere 
Gesellschaft von der Idee der Geschäftsprozesse, der Steuerung der 
Menschen durch Listen, Evidenzen und Datensätze durchdrungen ist.

Die "Lust an totaler Kontrolle", eine These die von vielen Seiten 
kritisiert und abgelehnt wurde, entpuppt sich als pornographische Lust. 
Das Bedürfnis die Gesellschaft mit Daten zu steuern befriedigt nicht, 
das mehr an Steuerung und Daten schafft nicht mehr Sicherheit, sondern 
nur den Wunsch nach einem weiteren Mehr an Kontrolle. Eine Gesellschaft 
gerät mehr und mehr in ein zwanghaftes, suchtgesteuertes Verhalten und 
riskiert ihre eigenen Fundamente zu zerstören.

Dr. Hans G. Zeger,  Jahrgang 1955, Studium Philosphie, Mathematik, 
Sozialwissenschaften ist Autor zahlreicher Fachpublikationen, Lektor am 
Juridicum Wien, Mitglied des Datenschutzrates im Bundeskanzleramt und 
Geschäftsführer der "e-commerce monitoring GmbH".  http://www.zeger.at

Buchtipp:

Hans G. Zeger, MENSCH. NUMMER. DATENSATZ. Unsere Lust an totaler Kontrolle
364 Seiten, Format 125x205, Hardcover, EUR 22,-, ISBN: 9-783701-731022
Residenz Verlag 2008
http://www.residenzverlag.at/?m=30&o=2&id_program=26&id_title...


-- 

Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
Center for Encounter and active Non-Violence
Wolfgangerstr. 26, A-4820 Bad Ischl, Austria,
fon: +43 6132 24590, Informationen/ informations,
Impressum in: http://www.begegnungszentrum.at
Spenden-Konto Nr. 0600-970305 (Blz. 20314) Sparkasse Bad Ischl,
Geschäftsstelle Pfandl
IBAN: AT922031400600970305 BIC: SKBIAT21XXX




Mehr Informationen über die Mailingliste E-rundbrief