[E-rundbrief] Info 789 - Uri Avnery: Wahnsinniger Boss

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
So Jan 18 21:47:55 CET 2009


E-Rundbrief - Info 789 - Uri Avnery (Israel): Der Boss ist wahnsinnig
geworden.

Bad Ischl, 18.1.2009

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

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Der Boss ist wahnsinnig geworden

Von Uri Avnery, 17.01.2009

VOR 169 JAHREN schrieb Heinrich Heine ein zwölfzeiliges warnendes
Gedicht unter dem Titel "An Edom". Der deutsch-jüdische Dichter meinte
damit Deutschland und vielleicht alle Nationen des christlichen Europas.

"Ein Jahrtausend schon und länger,/ Dulden wir uns brüderlich/ Du, du
duldest, dass ich atme, Dass du rasest, dulde ich.// Manchmal nur in
dunklen Zeiten,/ Ward dir wunderlich zu Mut,/ Und die liebefrommen
Tätzchen/ Färbtest du mit meinem Blut!// Jetzt wird unsre Freundschaft
fester,/Und noch täglich nimmt sie zu:/Denn ich selbst begann zu rasen,/
Und ich werde fast wie du".

Der Zionismus, der etwa 50 Jahre, nachdem das Gedicht geschrieben wurde,
entstanden ist, hat diese Prophezeiung voll erfüllt. Wir Israelis sind
wie alle anderen Nationen geworden, und die Erinnerung an den Holocaust
bringt uns von Zeit zu Zeit dazu, uns wie die Schlimmsten unter ihnen zu
verhalten. Nur wenige von uns kennen dieses Gedicht von Heine, aber
Israel als Ganzes benimmt sich entsprechend.

In diesem Krieg haben Politiker und Generäle wiederholt die Worte
zitiert: "Der Boss ist wahnsinnig geworden!" Ursprünglich wurde dies vom
Gemüsehändler auf dem Markt gerufen, im Sinne von 'Der Boss ist verrückt
geworden, er verkauft seine Tomaten mit Verlust'. Aber im Laufe der Zeit
ist aus dem Scherz eine tödliche Doktrin geworden, die oft bei
öffentlichen Diskursen auftaucht; um unsere Feinde abzuschrecken, müssen
wir uns wie Wahnsinnige benehmen, müssen gnadenlos töten und zerstören.

In diesem Krieg ist dies zu einem politischen und militärischen Dogma
geworden: nur wenn wir "sie" ohne jegliche Verhältnismäßigkeit
umbringen, tausend von "ihnen" für zehn von "uns", dann werden sie
verstehen, dass es sich nicht lohnt, sich mit uns anzulegen. Es wird
sich "ihnen ins Bewusstsein brennen" (ein beliebter israelischer Satz in
diesen Tagen). Danach werden sie zweimal nachdenken, bevor sie wieder
eine Qassam-Rakete gegen uns abfeuern - auch als Antwort auf das, was
wir tun, ganz gleich, was es ist.

Man kann die Bösartigkeit dieses Krieges nicht verstehen, wenn man den
historischen Hintergrund nicht berücksichtigt: die Opfermentalität nach
all dem, was Juden Jahrhunderte lang angetan wurde, und die Überzeugung,
dass wir nach dem Holocaust das Recht haben, alles - absolut alles - tun
zu dürfen, um uns zu verteidigen - ohne Hemmungen durch Gesetz und Moral.

ALS DAS Töten und Zerstören im Gazastreifen auf seinem Höhepunkt war,
geschah etwas weit weg in Amerika und hatte gar nichts mit dem Krieg
hier zu tun - war aber doch sehr mit ihm verknüpft. Der israelische Film
"Waltz with Bashir" wurde mit einem wichtigen Preis ausgezeichnet. Die
Medien berichteten mit großer Freude und mit Stolz darüber, aber sie
brachten es irgendwie fertig, das Thema des Filmes nicht zu erwähnen.
Das war an sich schon ein interessantes Phänomen: man begrüßt den Erfolg
eines Filmes, ohne auf seinen Inhalt einzugehen.

Das Thema dieses außergewöhnlichen Films ist eines der dunkelsten
Kapitel in unserer Geschichte: das Sabra- und Shatila-Massaker. Im Laufe
des ersten Libanonkrieges führte eine christlich-libanesische Miliz
unter der Schirmherrschaft der israelischen Armee ein abscheuliches
Massaker an Hunderten von hilflosen palästinensischen Flüchtlingen aus,
die in ihrem Lager eingesperrt waren, an Männern, Frauen, Kindern und
alten Leuten. Der Film beschreibt diese Schreckenstaten peinlich genau,
einschließlich unseres Anteils.

All dies wurde bei den Nachrichten über den Preis nicht erwähnt. Bei der
Preisverleihungszeremonie ergriff der Regisseur nicht die Gelegenheit,
um gegen die aktuellen Ereignisse im Gazastreifen zu protestieren, die
dort eben geschahen. Wie viele Frauen und Kinder während dieser Feier
getötet wurden, kann man nicht sagen - aber es ist eindeutig, dass das
Massaker im Gazastreifen viel schlimmer ist als jenes Ereignis von 1982,
das 400 000 Israelis dazu brachte, ihre Häuser zu verlassen und einen
spontanen Protest in Tel Aviv abzuhalten. Dieses Mal gingen nur
zehntausend auf die Straße.

Der offizielle israelische Untersuchungsausschuss, der sich mit dem
Sabra-Massaker befasste, stellte fest, dass die israelische Regierung
"indirekte Verantwortung" für die Gräueltat trug. Mehrere ranghohe
Politiker und Offiziere wurden suspendiert. Einer von ihnen war der
Divisionskommandeur Amos Yaron. Keiner der anderen Angeklagten, vom
Verteidigungsminister Ariel Sharon bis zum Stabschef Rafael Eitan,
sagten ein Wort des Bedauerns, nur Yaron gestand in einer Rede gegenüber
seinen Offizieren Reue ein und gab zu: "Unser Empfindungsfähigkeit (für
andere) ist abgestumpft"

GEFÜHLLOSIGKEIT ist der charakteristische Zug des Gazakrieges.

Der erste Libanonkrieg dauerte 18 Jahre und kostete mehr als 500 unserer
Soldaten das Leben. Die Planer des zweiten Libanonkrieges entschieden
sich, solch einen langen Krieg und solch eine hohe Todesrate zu
vermeiden. Sie erfanden das Prinzip des "wahnsinnigen Bosses": das
Zerstören von ganzen Stadtteilen, das Verwüsten ganzer Gebiete, das
Zerstören der Infrastrukturen. Während 33 Kriegstagen wurden 2006 etwa
1000 Libanesen getötet, die meisten von ihnen Zivilisten - ein Rekord,
der in diesem Krieg schon am 17.Tag gebrochen wurde. Doch in jenem Krieg
erlitten unsere Bodentruppen vor Ort große Verluste. Und die öffentliche
Meinung, die zu Beginn den Krieg mit demselben Enthusiasmus wie dieses
Mal unterstützte, änderte sich schnell.

Der Schatten dieses zweiten Libanonkrieges liegt schwer über dem
Gazakrieg. Alle in Israel schworen, seine Lektion gelernt zu haben. Und
die Hauptlektion war, das Leben keines einzigen Soldaten zu riskieren.
Ein Krieg ohne Verluste (auf unserer Seite). Die Methode: riesige
Feuerkraft unserer Armee anwenden, um alles und jedes, was in ihrem Wege
steht, zu pulverisieren und jeden zu töten, der sich im Gebiet bewegt.
Nicht nur die Kämpfer auf der anderen Seite, sondern jedes menschliche
Wesen, das vielleicht feindliche Absichten hegen könnte, selbst wenn es
ein Sanitäter im Ambulanzwagen, der Fahrer eines Lebensmittelkonvois ist
oder ein Arzt, der Leben retten will. Jedes Gebäude zerstören, von dem
aus unsere Soldaten beschossen werden könnten, sogar eine Schule, die
voller Flüchtlinge, Kranker oder Verletzter ist. Ganze Stadtteile werden
bombardiert und beschossen, Gebäude, Moscheen, Schulen,
UN-Lebensmittelkonvois, sogar Ruinen, unter denen Verletzte begraben liegen.

Die Medien widmeten mehrere Stunden dem Fall einer Qassam-Rakete auf ein
Haus in Ashkalon, in dem drei Bewohner einen Schock erlitten; sie
verlieren aber kaum Worte über die vierzig Frauen und Kinder, die in der
UN-Schule getötet wurden, von der "wir beschossen worden sind", was sehr
schnell als glatte Lüge entlarvt wurde.

Die Feuerkraft wurde auch dazu verwendet, um Angst und Schrecken zu
verbreiten - es wurde alles beschossen: vom Krankenhaus bis zum
ausgedehnten UN Lebensmitteldepot, von einem Presseaussichtspunkt bis zu
den Moscheen. Der übliche Vorwand: wir wurden von dort beschossen.

Dies wäre unmöglich gewesen, wäre nicht das ganze Land durch
Gefühllosigkeit infiziert worden. Die Leute sind nicht mehr geschockt,
wenn sie ein verstümmeltes Baby sehen, noch von Kindern, die tagelang
neben der Leiche der Mutter lagen, weil die Armee sie nicht aus dem
zerstörten Haus ließ. Es scheint, als ob sich fast niemand mehr um
irgendetwas kümmere: weder die Soldaten noch die Piloten, weder die
Medien noch die Politiker und auch die Generäle nicht. Moralischer
Wahnsinn, dessen Hauptexponent Ehud Barak ist. Vielleicht wird er von
Zipi Livni übertroffen, die lächelte, während sie über das grässliche
Geschehen redete.

Selbst Heinrich Heine hätte sich dies nicht vorstellen können.

DIE LETZTEN TAGE wurden vom "Obama -Effekt" beherrscht.

Wir sind an Bord eines Flugzeuges und plötzlich erscheint vor uns aus
den Wolken ein schwarzer Berg. Im Cockpit bricht Panik aus: wie eine
Kollision vermeiden?

Die Kriegsplaner wählten den Kriegszeitpunkt sorgfältig aus: während der
Ferien, während alle auf Urlaub waren - und während Bush noch amtierte.
Aber irgendwie vergaßen sie ein schicksalhaftes Datum in Erwägung zu
ziehen: am nächsten Dienstag wird Barack Obama ins Weiße Haus einziehen.

Dieses Datum wirft nun seinen Schatten auf die Ereignisse. Der
israelische Barak versteht, dass eine Verärgerung des amerikanischen
Barack eine Katastrophe bedeuten würde. Die Schlussfolgerung: die
Schrecken von Gaza müssen vor der Amtseinführung beendet sein. Alle
politischen und militärischen Entscheidungen werden davon bestimmt.
Nicht "die Zahl der Qassams", nicht "der Sieg" und nicht " die Hamas
brechen."

WENN ES eine Feuerpause geben wird, wird die erste Frage sein: wer hat
gewonnen?

In Israel geht alles Gerede um das "Bild des Sieges" - nicht um den Sieg
selbst, sondern um das ,Bild". Das ist wesentlich, um die israelische
Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass sich das ganze Geschäft gelohnt
hat. Im Augenblick sind all die Tausende der Medienleute bis zum letzen
mobilisiert worden, solch ein "Bild" zu malen. Die andere Seite wird
natürlich ein anderes Bild malen.

Die israelischen Führer werden sich zweier Erfolge rühmen: das Ende der
Qassams und das Verschließen der Gaza-Ägyptengrenze (die sog.
"Philadelphi-Route"). Das sind zweifelhafte Erfolge; denn das Abfeuern
der Qassams hätte auch ohne mörderischen Krieg erreicht werden können,
wenn unsere Regierung bereit gewesen wäre, mit der Hamas zu verhandeln,
nachdem sie die palästinensischen Wahlen gewonnen hatte. Die Tunnels
unter der ägyptischen Grenze wären gar nicht gegraben worden, wenn
unsere Regierung nicht eine so tödliche Blockade über den Streifen
verhängt hätte.

Aber der Haupterfolg der Kriegsplaner liegt in der großen Grausamkeit
ihres Planes: die Grausamkeiten haben ihrer Meinung nach einen
abschreckenden Effekt, der lange Zeit anhalten wird.
Hamas auf der anderen Seite wird behaupten, dass ihr Überleben
angesichts der mächtigen israelischen Kriegsmaschine - ein winziger
David gegen einen riesigen Goliath - an sich schon ein Sieg darstellt.
Nach der klassischen militärischen Definition ist der Sieger einer
Schlacht derjenige, der nach der Schlacht auf dem Schlachtfeld bleibt.
Trotz aller Bemühungen, das Hamas-Regime zu eliminieren, bleibt es, wo
es ist. Das ist ein großer Erfolg.

Hamas wird auch darauf hinweisen, dass die israelische Armee nicht
darauf aus war, die palästinensischen Städte zu betreten, in denen ihre
Kämpfer verschanzt waren. Und tatsächlich sagte die Armee der Regierung,
dass die Eroberung von Gazastadt das Leben von 200 Soldaten kosten
könnte. Und kein Politiker wäre am Vorabend der Wahlen dazu bereit.

Allein die Tatsache, dass eine Guerillagruppe von ein paar Tausend
leicht bewaffneter Kämpfer wochenlang gegen eine der mächtigsten Armeen
der Welt mit enormer Feuerkraft ausgehalten hat, sieht für Millionen von
Palästinensern und anderen Arabern und Muslimen - und nicht nur für sie
- wie ein vollständiger Sieg aus.

Am Ende wird ein Abkommen geschlossen werden, das die offenkundigen
Bedingungen einschließt. Kein Land kann es dulden, dass seine Bewohner
Raketenbeschuss von jenseits der Grenze ausgesetzt sind - und keine
Bevölkerung kann es ertragen, dass sie einer lebensbedrohenden Blockade
ausgesetzt ist. Deshalb muss 1. die Hamas mit dem Abschießen der Qassams
aufhören und 2. muss Israel die Grenzübergänge zwischen dem Gazastreifen
und der Außenwelt öffnen und 3. muss die Waffenlieferung in den
Gazastreifen (so gut wie möglich) gestoppt werden, wie es von Israel
verlangt wird. All dies hätte auch ohne Krieg geschehen können, wenn
unsere Regierung die Hamas nicht boykottiert hätte.

DOCH DIE schlimmsten Folgen dieses Krieges sind noch nicht zu sehen und
werden erst in Jahren bemerkt werden. Israel hat im Weltbewusstsein ein
schreckliches Image von sich selbst zurückgelassen. Milliarden von
Menschen haben uns als blutrünstiges Monster wahrgenommen. Sie werden
Israel nie wieder als einen sympathischen Staat sehen, als einen Staat,
der Gerechtigkeit, Fortschritt und Frieden sucht. Die amerikanische
Unabhängigkeitserklärung spricht von einem anständigen Respekt vor "den
Ansichten der Menschheit". Das ist ein weises Prinzip.

Noch schlimmer ist die Wirkung auf die Hunderte von Millionen Araber
rund um uns: sie werden nicht nur die Hamas-Kämpfer als die Helden der
arabischen Nation ansehen, sie sehen auch ihre eigenen Regime in ihrer
Nacktheit: kriecherisch, schmachvoll, korrupt und verräterisch.

Die arabische Niederlage im 1948er-Krieg brachte in seiner Folge den
Fall fast aller arabischen Regime und den Aufstieg einer neuen
Generation nationalistischer Führer wie z.B. Gamal Abd al-Nasser. Der
Krieg von 2009 könnte den Fall der augenblicklichen arabischen Regime
und den Aufstieg einer neuen Generation von Führern mit sich bringen -
islamischen Fundamentalisten, die Israel und den ganzen Westen hassen.

In den kommenden Jahren wird deutlich werden, dass dieser Krieg reiner
Wahnsinn war. Der Boss ist tatsächlich wahnsinnig geworden - in des
Wortes tiefster Bedeutung.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser
autorisiert

http://www.lebenshaus-alb.de/magazin/005481.html


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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
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