[E-rundbrief] Info 777 - Staatsgewalt in Griechenland

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
Fr Dez 12 21:42:17 CET 2008


E-Rundbrief - Info 777 - Erklärung der Vollversammlung der besetzten 
Theaterschule von Thessaloniki (vom 9.12.2008 - zur Gewaltherrschaft der 
Polizei und der konservativen Regierung von Griechenland).

Bad Ischl, 12.12.2008

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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Erklärung der Vollversammlung der besetzten Theaterschule von Thessaloniki

Seit Wochen und Monaten brodelt es in der griechischen Gesellschaft. Vor
dem Hintergrund der Krise und der Korruption der politischen Klasse,
reichen sich die unterschiedlichsten Formen von Protest die Hände.
Tausende von Häftlingen befanden sich im Hungerstreik, auf Corfu wehren
sich BewohnerInnen mit allen Mitteln gegen eine Giftmülldeponie.
Krankenschwestern demonstrieren und setzen den Gesundheitsminister fest.
ArbeiterInnen, die um ihre Löhne geprellt wurden, ziehen in die
Hauptstadt, um dort zu demonstrieren. An den Schulen und Universitäten
tobt seit Wochen eine Welle von Besetzungen und Protestaktionen einer
Generation ohne Perspektive. Vor einigen Tagen hat die Polizei
Alexandros, einen 15 Jahre jungen Anarchisten aus Athen erschossen.

Vor dem Hintergrund der sozialen Proteste liegt für viele auf der Hand,
dass es sich bei diesem Mord um ein gezieltes Manöver zur
Einschüchterung der rebellierenden Jugend handelte. Über den
Flächenbrand, der die Antwort auf den schrecklichen Tod von Alexandros
war, ist bereits anderswo genug geschrieben worden. Wir wollen heute, am
Tag der Beerdigung von Alexandros, SchülerInnen aus der besetzten
Theaterschule von Thessaloniki zu Wort kommen lassen. Ihre Schilderung
der Situation macht mehr über die Verhältnisse deutlich als manch
Dutzend kluger Artikel.

Alexandros war unser Freund, unser Bruder, unser Sohn, unser Mitschüler
und unser Genosse. Der Mord am 15jährigen Alexandros war der Tropfen,
der das Fass all der Fälle von Morden an jungen Menschen, die der
Polizei widersprachen, auf Aufforderung nicht an einer Straßensperre
angehalten haben oder einfach - so wie Alexandros - zur falschen Zeit am
falschen Ort waren, zum Überlaufen gebracht hat. Der Mord an Alexandros
war kein isoliertes Ereignis, wie der Innenminister dreist behauptet.
Seine Erklärung vollendet faktisch die Ankündigung des ehemaligen
Justizministers Polydaros, wonach es nur eine Frage der Zeit sei, bis
einem Polizisten das Temperament durchgehe und er schießen würde.

Der Polizeimord am jungen serbischen Studenten Bulatovic im Jahre 1998
in Thessaloniki, der Mord am jungen Leontidis durch einen Polizisten in
der Cassandrou Straße 2003, der Tod des 24jährigen Onohua, nachdem er im
Sommer 2007 von einer Zivilstreife in Kalamaria gejagt worden war, der
Mord an der 45jährigen Maria in Lefkimi im Zusammenhang mit einem
Angriff der Polizei auf Menschen, die sich gegen eine Mülldeponie
wehrten, der Mord am pakistanistischen Migranten in der Straße Petrou
Ralli in Athen im letzten Monat, die alltägliche Erniedrigung und Gewalt
gegen jeden kleine Missetäter bei Polizeiaktionen überall in
Griechenland, die Schüsse gegen die TeilnehmerInnen von
Studieredendemonstrationen im letzten Jahr, die gewaltsame Unterdrückung
von Demonstrationen, der Tränengas-Krieg der Polizei, die Gewalt gegen
jeden, der protestiert ... Und natürlich der tagtägliche Mord an
wirtschaftlichen und politischen Flüchtlingen durch die Grenzpolizei.
Selbst die Tode in den eisigen Wasser der Ägais oder den Minenfeldern
von Evros: All dies ergibt das Bild der griechischen Polizei.

Der Mord am Alexandros mit seinen 15 Jahren erzeugte eine Welle der Wut
und Verzweiflung bei hunderttausenden von Jugendlichen und Menschen
jeden Alters. Es ist nicht nur die Abscheu und die Trauer über den Tod
des jungen Mannes. Es gibt ein verbreitetes Bewusstsein, dass es für
jeden von uns oder diejenigen die wir lieben, eine Kugel gibt, die auf
ein unglückliches Zusammentreffen wartet und dieses Bewusstsein teilen
wir alle als Brüder, Freunde und Eltern miteinander. Wir leben in einer
sozialen Realität, die genau diejenigen belohnt, die uns manipulieren --
die Politiker und den Klerus. Wir alle versuchen in einem Morgen ohne
Zukunft zu überleben.

Wir haben unsere Zukunft und die Verwaltung unserer Gesellschaft an
Leute ohne Moral und Regeln übertragen, die keinen Respekt vor der
Menschheit kennen.

In dieser Realität war der Mord am 15jährigen Alexandros der letzte
Tropfen, der das Fass unserer Wut zum Überlaufen brachte.

Aber Wut ist nicht einfach nur ein Gefühl. Sie ist ein Kampf für soziale
Gerechtigkeit. Eine Gerechtigkeit, von der jetzt deutlich wird, dass,
solange sie in der sozialen Realität nicht existiert, es keinen sozialen
Frieden geben wird, weil es nur Friedhöfe sind, die mit solcher
Unterordnung und solcher sozialen Ungleichheit sozialen Frieden fordern
können.

Weil wir jung sind wie Alexandros, weil wir einen Traum von Würde
träumen wollen, wo der Staat und die Autoritäten nur Unterordnung und
Verzweiflung verbreiten, weil wir leben wollen und nicht nur über den
nächsten Winter kommen, wegen all dem sind wir wütend und kämpfen.

Wir werden Alexandros weder vergessen, noch wollen wir einen weiteren
toten Alexandros durch Polizeikugeln.

Es wird keinen Frieden geben mit denen, die die Zukunft der Jugend
zerstören, kein Eingreifen, keine Krokodilstränen für die heuchlerischen
Minister. Liebe im Leben und Hoffnung für die Menschen. Einen täglichen
sozialen Kampf mit unseren MitschülerInnen, unseren Freunden, unseren
Familien und unseren GenossInnen für eine Gesellschaft ohne Wächter, für
eine solidarische Gesellschaft.

Wir rufen alle Bewohner, alle StudentInnen und ArbeiterInnen auf, mit
uns gegen die staatlich gedeckten Mörder auf die Straße zu gehen.

Die Vollversammlung der besetzten Theaterschule

News - 09.12.08 von Soli

http://www.fau.org/artikel/art_081209-141610

-- 

Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
Center for Encounter and active Non-Violence
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