[E-rundbrief] Info 770 - Rb 131 - Ivan Illich - Zitate und Kommentare

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
Mo Dez 8 13:41:17 CET 2008


E-Rundbrief - Info 770 - Rundbrief Nr. 131 - Matthias Reichl: Ivan 
Illich aus europäischer Ansicht; Zitate aus dem Buch von
Martina Kaller-Dietrich: Ivan Illich (1926 - 2002); Englische Zitate und 
Links zu Texten.

Bad Ischl, 8.12.2008

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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Ivan Illich aus europäischer Ansicht

„In der globalisierten Welt hat jeder Mensch das Recht auf 
institutionalisierte Erziehung, Gesundheit, Information und ein Auto. 
Brauchen wir das wirklich? Ivan Illich dachte vor, was wir heute 
nachdenken. Er polemisierte gegen Schulen, Spitäler, Autobahnen, 
Entwicklungshilfe, Geschlechtergleichheit. Er wurde weltberühmt und 
wieder vergessen.“

So steht es auf der Rückseite der ersten Biographie über den 
Universalgelehrten und Basisaktivisten Ivan Illich, geboren 1926 in 
Wien, gestorben 2002 in Bremen. Die österreichische Wissenschafterin 
Martina Kaller-Dietrich ist seinen Spuren in Europa und Lateinamerika 
nachgegangen, gemeinsam mit ihrem deutschen Kollegen Wolfgang Sachs, 
einem von Illichs Weggefährten. Vor allem Illichs Begegnungs- und 
Informationszentrum (und -dienst) CIDOC (Centre for Intercultural 
Documentation) in Cuernavaca, Mexiko, vermittelte vielen basisbewegten 
Aktiven aus aller Welt die bitter nötigen Kritiken, Impulse, aber auch 
alternativen Handlungsansätze - jedoch keine -rezepte.

Ich bin Ivan einige Male begegnet u.a. Anfang der 80er Jahre in Wien als 
wir im Haus der Industrie eine von Neoliberalen geschickt manipulierte 
Podiumsdiskussion über die gönnerhafte Reintegration von Aussteigern ins 
Gegenteil umfunktionierten - ich aus dem Publikum und er vom Podium her. 
Nachher amüsierten wir uns köstlich über unseren Coup - und wurden 
Freunde (leider nur auf - geographischer - Distanz). Ebenso verband uns 
eine Ablehnung kirchlicher Institutionen, und ihren 
Unterdrückungmechanismen gegen kritische Basisgemeinden und der 
Theologie der Befreiung generell.

Aus meinen Erfahrungen muss ich dem Eingangszitat großteils 
widersprechen. Die zitierten versprochenen Rechte stehen für den 
Großteil der Menschen nur auf dem Papier, v.a. wenn es um vertret- und 
brauchbare Alternativen geht, für die sich Illich einsetzte, unterstützt 
von den von ihm ermutigten Basisbewegungen. Bei diesen sind seine 
Impulse unvergessen und längst weiterentwickelt. Deutschsprachige 
Bildungshungrige finden im C.H.Beck-Verlag immer noch sieben seiner 
wichtigen Bücher. Ivan Illichs Mitarbeiter und Schüler betreuen in 
Bremen auch weiter die Homepage www.pudel.uni-bremen.de/, auf der er 
virtuell weiterlebt - nicht nur als „Denker“, sondern auch als 
„Handelnder“! Unter seinen vielen Kollegen und Kolleginnen hat v.a. 
Marianne Gronemeyer seine radikalen Ideen weiterentwickelt und in ihren 
Büchern umgesetzt - zuletzt in "Genug ist genug" (2008, Primus Verlag). 
(Weitere Hinweise zu Illichs Texten siehe unten!)

Matthias Reichl

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Martina Kaller-Dietrich: Ivan Illich (1926 - 2002). Sein Leben, sein 
Denken. Enzyklopädie des Wiener Wissens - Porträts, Bad 1. Edition 
seidengasse.  2007 Verlag  Bibliothek der Provinz EUR 24,-

(Zitate aus dem Buch, Seite 153-54)

... Illich war ein umsichtiger Warner vor den einfachen Antworten. Er 
erlaubte sich und seinen Mitstreitern, über Alternativen zu den 
überbordenden Vernichtungsprogrammen der Industriegesellschaft 
nachzudenken. Kontraproduktivität lautete sein zentraler Begriff. Er 
vertrat die Meinung, dass sobald eine bestimmte Industrialisierungswelle 
erreicht war, Schulen die Menschen dümmer und Spitäler die Menschen 
kränker machten. In den Worten des Ökonomen Leopold Kohr ausgedrückt - 
ein anderer Austro-Amerikaner, den Illich bereits in Puerto Rico kennen 
und schätzen gelernt hatte - meint diese These: Wenn das Wirken von 
Experten einen bestimmten institutionellen Schwellenwert überschreitet, 
macht der Einsatz zusätzlicher Experten ihre wirkung kontraproduktiv. 
Das heißt, die Experten reproduzieren das, zu dessen Beseitigung sie 
angetreten waren. Ob Schulen, Werkzeuge, Energieverbrauch oder 
medizinische Apparaturen und therapeutische Anwendungen - sobald eine 
kritische Menge überschrittwen wird, verursachen die besten 
Maßnahmenökonomische Kontraproduktivität und soziale Ungerechtigkeit 
(384). Das, was bedroht ist und worum es eigentlich ginge, bezeichnete 
er als Konvivialität. Denn Kontraproduktivität vernichtet die 
vielfältigen, konvivialen Netze der Solidarität.
Die Versklavung des Menschen durch Schulen, Maschinen und Institutionen 
führte laut Illich eben zum Monopol der Expertenherrschaft. Damit würde 
die Gesellschaft zur Schule, zum Krankenhaus, zum Gefängnis und zur 
Autobahn. Zahllose Experten "lenken die Menschen in beinahe allen 
Bereichen des Lebens, nötigen sie zu bestimmtem Verhalten, erzeugen 
dafür Bedürfnisse und verhelfen dazu, diese auch zu befriedigen. Dachte 
die neue Linke häufig noch naiv daran, die diversen Güter bloß gerecht 
zu verteilen, so erhebt Illich dagegen bereitswarnend die Stimme. Auf 
diesem gängigen Weg der Gesellschaftsveränderung verharren die Menschen 
in zunehmender und dauerhafter Abhängigkeit von den diversen 
Expertengruppen" (385). In einer lebensgerechten d.h. in Illichs 
"konvivialer Gesellschaft" stünde hingegen "das moderne Werkzeug im 
Dienste der in die Gemeinschaft integrierten Personen und nicht im 
Dienst eines Konglomerats von Spezialisten" (386). Die gebotene Umkehr 
bestünde demnach in einer radikalen politischen Wende. Sie war für 
Illich denkbar und deshalb schien sie ihm auch realistisch. Seine 
radikalen Vorschläge ernteten oft ein abschätziges "utopisch", doch 
Illich insistierte. Wie alle Dogmen könne auch jenes vom ständigen 
wirtschaftlichen Wachstum aufgegeben werden. Im Licht der neu 
geschaffenen Tatsachen könnte eine vernünftige Selbstbegrenzung dazu 
führen, "daß eine wachsende Zahl von Menschen immer mehr mit immer 
weniger machen könne" (387). Darin bestand für Illich eine lebbare 
Ausrichtung seines Denkens und möglicher politischer Taten...

Anmerkungen:
(384) Vgl. Lehner, Gerald: Die Biographie des Philosophen und Ökonomen 
Leopold Konr, 1994, S. 287-292
(385) Schönherr-Mann, Hans-Martin: Ivan Illich - Für eine Politik der 
Selbstbegrenzung. In: Scheidewege 33 (2003/2004), 65-86
(386) Illich: Selbstbegrenzung, 1986, 14
(387) ebd. 176

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Zitate und Hinweise zu einigen von Ivan Illichs Texten:

"Development based on high per capita energy quanta and intense 
professional care is the most pernicious of the West's missionary 
efforts – a project guided by an ecologically unfeasible conception of 
human control over nature, and by an anthropologically vicious attempt 
to replace the nests and snakepits of culture by sterile wards for 
professional service. The hospitals that spew out the newborn and 
reabsorb the dying, the schools run to busy the unemployed before, 
between and after jobs, the apartment towers where people are stored 
between trips to the supermarkets, the highways connecting garages form 
a pattern tattooed into the landscape during the short development 
spree. These institutions, designed for lifelong bottle babies wheeled 
from medical centre to school to office to stadium begin now to look as 
anomalous as cathedrals, albeit unredeemed by any aesthetic charm." ~ 
Vernacular Values (Shadow Work) – 1981 
www.preservenet.com/theory/Illich/Vernacular.html

On the paradox of atmosphere (in connection with the closing down of his 
CIDOC-center in Cuernavaca in 1976): "[I am certain] that a hospitable 
atmosphere invites institutionalization by which it will be corrupted". 
~ The Cultivation of Conspiracy – 1998 
www.davidtinapple.com/illich/1998_Illich-Conspiracy.PDF

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Einige englische Texte im Internet:

A Consitution for Cultural Revolution: 
www.cogsci.ed.ac.uk/~ira/illich/texts/const_revolution/const_revolution.html

Deschooling Society: 
www.preservenet.com/theory/Illich/Deschooling/intro.html

Tools for Conviviality (his view about technology): 
www.preservenet.com/theory/Illich/IllichTools.html

Energy and Equity: 
www.cogsci.ed.ac.uk/~ira/illich/texts/energy_and_equity/energy_and_equity.html

Vernacular Values (how professionals have taken over things people used 
to do for themselves): www.preservenet.com/theory/Illich/Vernacular.html

Silence is a Commons - Computers are doing to communication what fences 
did to pastures and cars did to streets: 
www.preservenet.com/theory/Illich/Silence.html

To Hell with Good Intentions (critics on US-volunteers fighting poverty 
in Mexico): www.augustana.ualberta.ca/rdx/eng/activism_illich.htm

Collection of Illich's writings in Spanish: www.ivanillich.org.mx/ideas.htm


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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
Center for Encounter and active Non-Violence
Wolfgangerstr. 26, A-4820 Bad Ischl, Austria,
fon: +43 6132 24590, Informationen/ informations,
Impressum in: http://www.begegnungszentrum.at
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Geschäftsstelle Pfandl
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