[E-rundbrief] Info 763 - Hanna Mandel: Nach Auschwitz leben

Matthias Reichl info at begegnungszentrum.at
Sa Dez 6 12:21:40 CET 2008


E-Rundbrief - Info 763 - Hanna Mandel/ Norbert Reck: Beim Gehen entsteht 
der Weg. Gespräche über das Leben vor und nach Auschwitz mit Hanna 
Mandel aufgezeichnet vom Theologen Norbert Reck; Maria Reichl: Nachwort.

Bad Ischl, 6.12.2008

Begegnungszentrum für aktive Gewaltlosigkeit

www.begegnungszentrum.at

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Beim Gehen entsteht der Weg

Gespräche über das Leben vor und nach Auschwitz mit Hanna Mandel 
aufgezeichnet vom Theologen Norbert Reck.

Hanna Mandel hat ihr Leben reflektiert und versucht zu begreifen warum 
jemand so oder so geworden ist, so oder so handelt. Ich zitiere als 
Beispiel im Folgenden nur die Antwort auf zwei Fragen. Sie hat einige 
Male ihren Geburtsort Vásárosnamény in Ungarn aufgesucht und hat dort 
einige ihrer alten Freunde und Bekannten getroffen. Einen ehemaligen 
Schulkameraden wollte sie nicht treffen. ....

Nobert Reck fragte über diesen ehemaligen Schulkameraden nach:

N.B.: Aus Angst hatte er den Kommunisten gespielt, und aus Angst 
versteckte er sich vor dir?

(Hanna Mandel)  Ich würde es so ausdrücken: Er war sein Leben lang 
gewohnt, auf fremde Befehle hin zu handeln. Es ist ihm nicht gelungen, 
ein eigenes Leben aufzubauen. Immer hörte er auf andere, er hatte 
Herrschaften, denen er diente. Ob das der Graf war oder der Fabrikant, 
ob die eine Partei oder die andere, spielte keine Rolle. So war dieser 
Mensch immer wie Knetgummi in fremden Händen. Und als es keine Führung 
mehr gab, die ihm Befehle erteilte, wusste er nicht mehr, was er tun 
konnte. In dieser Lage hätte er eine Begegnung mit mir wohl nur schwer 
ausgehalten.

(N. B.) Das kann ich mir vorstellen. Du hast dir dein eigenes Leben 
erkämpft und bist immer selbstbewusster geworden, aber er schaffte es 
nicht einmal mehr, dir vor die Augen zu treten.

(H. M.): Es ist schon traurig. Und du siehst: Das ist kein speziell 
deutsches Problem. Diese Leute gibt es überall: ängstliche 
Befehlsempfänger ohne ein eigenes Leben; aber wenn sie von Befehlshabern 
eingespannt werden, tun sie groß und schreien rum und haben auch keine 
Bedenken, den Menschen Schaden zuzufügen. Und das findest du wieder und 
wieder.

Wer waren die Menschen, die uns in Auschwitz bewachten? Die uns 
schlugen, die uns mordeten? Sie waren Soldaten! Auch die SS war ja so 
eine Art Soldaten-Organisation. Sie waren auf das Soldatentum dressiert. 
Sie handelten nur auf Befehl und sie legten ihre Eigenverantwortung ab, 
als sie ihre Uniform anzogen. Ich kann sie nicht pauschal beurteilen, 
dazu müsste ich die Lebensgeschichten der Einzelnen kennen. Aber bei 
manchen hab ich's gesehen, wie ihr Gesicht in Freude aufstrahlte, wenn 
sie jemanden in Qual sahen. Das waren schon Sadisten. Aber warum sind 
sie so geworden? Das sollte man doch ergründen!

Oder was ist mit den Technokraten, zum Beispiel mit den 
Atomenergie-Managern? Sie tönen groß, dass es richtig ist Atomstrom zu 
erzeugen, dass sie Arbeitsplätze schaffen, dabei wissen sie doch, wie 
unberechenbar sie die Menschen gefährden. Die Gefahren sind ihnen 
bekannt. Aber sie nehmen sie in Kauf! Und verkünden lächelnd, dass kein 
Grund zur Sorge besteht. Wie viele Tote oder Strahlengeschädigte soll es 
denn noch geben, bis man erkennt, dass diese Kerle überhaupt nicht 
ehrenwert sind?

Oder nimm die Pharmakonzerne, die Arzneimittel in die Dritte Welt 
liefern, die hier schon längst verboten sind, weil sie schädlich sind. 
Sie nutzen die Gesetzeslücken in anderen Ländern und bringen dort die 
Menschen damit um. Sie wissen was sie tun, und sie tun es!

Ähnlich ist es bei der Gentechnik, wo kein Mensch weiß wohin das führt, 
was daraus eventuell an Gefahren entstehen kann. In so einem 
Zweifelsfall muss man nein sagen. Und wer dieses Nein nicht sagen will, 
der nimmt bewusst das Risiko in Kauf, dass am Ende doch Menschen 
geschädigt werden.

Und das geht dann bis hinunter in den Alltag. Das hört sich vielleicht 
banal an, aber ich denke, diese Menschen, die mit ihren Autos so 
wahnsinnig rasen, gefährden nicht nur sich selbst mit ihren Leichtsinn, 
sondern auch andere. Doch es kümmert sie nicht. Im Kern ist in ihnen 
eine Verachtung für andere Menschen, die wahrscheinlich ähnliche Wurzeln 
hat wie bei all diesen Beispielen, die ich gerade aufgezählt habe. Sie 
können nicht an die Folgen denken, sie können sich nicht in andere 
einfühlen -- lies das mal nach bei Arno Gruen! Er nennt das den "Verlust 
des Mitgefühls". ...

Soweit die Zitate aus dem Buch: Hanna Mandel "Beim Gehen entsteht der 
Weg". Gespräche über das Leben vor und nach Auschwitz. Aufgezeichnet von 
Norbert Reck. September 2008. Erschienen in der Literaturbibliothek im 
Argument-Ariadne-Verlag

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Nachtrag:

Wir hatten das Glück, die Zeitzeugin Hanna Mandel persönlich gekannt zu 
haben. Sie unterstützte uns in unserer Arbeit für Gewaltfreiheit und 
tippte eigenhändig ein Buch über gewaltfreie Kindererziehung, das schon 
vergriffen war, für unsere Bibliothek ab. Ihre Töchter begleiteten sie 
zu ihrem 70. Geburtstag zu uns ins Begegnungszentrum und wir 
organisierten später auch einen Gesprächsabend mit ihr in der Pfandler 
Pfarrbibliothek, als sie ins Bad Ischler Bundesgymnasium als Zeitzeugin 
eingeladen wurde.

Ich besuchte sie noch verschiedene Male in München auf Durchreise nach 
Belgien (meinem Geburtsland). Dieses Mal (2008) nahm ich als 
Reiselektüre ihr Buch "Beim Gehen entsteht der Weg" mit. Sie hatte mir 
über die Entstehung und Aufzeichnung dieses Buches bei jedem Besuch 
erzählt und ich war traurig, dass sie die Fertigstellung nicht mehr 
erleben konnte. Sie verstarb im Februar 2003.

In diesem Buch gibt es viele Details sowohl über ihre Kindheit in Ungarn 
und ihr späteres Leben in Österreich und Deutschland, als auch über die 
Deportation und anschließende Zerstörung ihrer Familie, und in der Zeit 
danach, als sie das Ganze versuchte zu verarbeiten. Erst als sie bei 
ihrer Befreiung aus dem KZ ein kleines Kind umbringen wollte, als Rache 
für den Tod ihre jüngsten Schwester, wurde ihr bewusst, dass damit die 
Spirale der Gewalt nie aufhören würde. In mühsamer Kleinarbeit hat sie 
ihre Erlebnisse verarbeitet und reflektiert und entwickelte dabei eine 
unglaubliche Liebe zu ihren Töchtern und den Menschen, denen sie 
versucht zu erklären, dass Hass keine Antwort ist mit dem man Unrecht 
aus der Welt schaffen kann. Die Gespräche von Hanna Mandel mit Norbert 
Reck sind ein lebendiges Zeugnis vom Leben vor und nach Auschwitz und 
hilft uns einiges besser zu verstehen.

Maria Reichl


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Matthias Reichl, Pressesprecher/ press speaker,
Begegnungszentrum fuer aktive Gewaltlosigkeit
Center for Encounter and active Non-Violence
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